Fortschr Neurol Psychiatr 2020; 88(04): 230-231
DOI: 10.1055/a-1109-0717
Editorial

Pathologisches Glücksspielen

Gambling disorder
Markus Beyler
,
Jens Kuhn

Pathologisches (Glücks-)spielen, im DSM-IV noch als Impulskontrollstörung klassifiziert, wird seit dem DSM-5 als stoffungebundene Abhängigkeitserkrankung („Störung im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen und abhängigen Verhaltensweisen") definiert [1]. Mit einer weltweiten Lebenszeitprävalenz von 0,2-5,3 %, hohem individuellen Leid und häufiger psychischer Komorbidität, incl. Suizidalität stellt es ein globales Problem des Gesundheitssystems dar [2]. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen geht hierzulande von einer Lebenszeitprävalenz von 1,7 % für Männer und 0,2 % für Frauen aus [3].

Den Betroffenen, die die diagnostischen Kriterien für pathologisches Glücksspielen erfüllen, bietet sich heute ein breites Spektrum an Spielangeboten von reinen Zufallsspielen (z. B. Geldspielautomaten, Roulette, Lotterien) bis hin zu Glücksspielen, bei denen neben dem Zufall auch Fähigkeit und Erfahrung des Spielers den Spielausgang beeinflussen können (z. B. Poker, Sportwetten). Aufgrund des zusätzlichen Zugriffs auf solche Glücksspielangebote über das Internet ergibt sich eine nahezu unbegrenzte Verfügbarkeit für Patienten und gelegentliche „Freizeitkonsumenten“.

Seit Anfang 2020 war nun verschiedenen Medienberichten zu entnehmen, dass sich die Staats- und Senatskanzleien im Rahmen einer im Januar stattgefundenen Sonderkonferenz auf einen vorläufigen Entwurf eines Glücksspielneuregulierungsstaatsvertrages (GlüNeuRStV) geeinigt haben, der nach seiner finalen Ratifizierung, ab Mitte 2021 in Kraft treten soll (https://www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles/pressemitteilungen/2020/pressemitteilung.887645.php; nach Drucksetzung dieser Ausgabe).

Die Notwendigkeit der Neuregelung des deutschen Glücksspielmarktes wurde u. a. damit begründet, dass es in den letzten Jahren zu einer Zunahme nicht regulierter Glücksspiel-Angebote im Internet gekommen sei (bisher hatte als einziges Bundesland Schleswig-Holstein Lizenzen für Online-Glücksspiele vergeben). Grundsätzlich scheint vor dem Hintergrund technischer bzw. online- Weiterentwicklungen eine Gesetzesaktualisierung sinnvoll und hilfreich. Gleichzeitig wurde in der Öffentlichkeit insbesondere über die in der neuen Fassung zum Ausdruck kommende Absicht diskutiert, dass bisher illegale internetbasierte Glücksspiele wie Online-Poker, Online-Casinos oder Online-Automatenspiele künftig unter Auflagen zum Spielerschutz (monatliches Einzahlungslimit von 1000 Euro, Einführung einer Sperrdatei und eines „automatisierten Systems” zur Früherkennung von glücksspielsuchtgefährdeten Spielern) erlaubt sein werden. Problematisch erscheint dabei vor allem, dass den Spielern trotz der Regulierungen weiterhin über das Internet die Möglichkeit offensteht, zusätzlich zu den neu geregelten Angeboten oder alternativ zu diesen, entsprechende unregulierte Online-Spielangebote im Ausland zu nutzen.

Darüber hinaus wird deutlich, dass das generelle Thema der internetbezogenen Störungen einer intensivierten Beforschung bedarf (https://www.dg-sucht.de/fileadmin/user_upload/pdf/stellungnahmen/Memorandum_Internetbezogene_St%c3%b6rungen_der_DG_Sucht.pdf), was lange Zeit durch ungeklärte klassifikatorische Fragen erschwert war.

Vor diesem Hintergrund sind und waren die Bemühungen der beiden großen Diagnostischen Manuale, hier mehr Klarheit zu schaffen, auch zu verstehen. Im DSM-5 erfolgte dabei in Ergänzung zu der „Störung durch Glücksspielen“ auch die Aufnahme einer „Störung durch Spielen von Internetspielen“ als Forschungsdiagnose im Anhang.

Die ICD-11 (4, 5) geht mit der Schaffung der neuen Kategorie der „Disorders due to substance use or addictive behaviours“ mit der weiteren Unterteilung in“ Gambling Disorder“ (Pathologisches Glücksspiel, on- und / oder offline) und „Gaming Disorder“ (Computerspielabhängigkeit, ebenfalls on- und / oder offline) einen ähnlichen Weg.

Es gibt aber auch kleinere Unterschiede: Im DSM-5 werden die beiden genannten Störungen durch 9 Kriterien beschrieben, von denen 4 innerhalb der letzten 12 Monate erfüllt gewesen sein müssen. Dabei waren einige Kriterien, die von den stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen abgeleitet worden waren, wie z. B. Toleranzentwicklung (Spielen mit immer höheren Einsätzen, um die gewünschte Erregung zu erreichen) oder Entzugssymptomatik (Unruhe und / oder Gereiztheit beim Versuch, das Spielen einzuschränken oder aufzugeben) immer wieder kritisch hinterfragt worden. In der ICD-11 werden neben der bedeutsamen Beeinträchtigung in der funktionalen Lebensbewältigung durch das Spielen als grundlegende Voraussetzung [4] nur die drei Kriterien Kontrollverlust, Interessenverlust und Fortführung des Konsums trotz negativer Konsequenzen genannt.

Es ist mit H.J. Rumpf [6], der dies insbesondere für die internetbezogenen Störungen formuliert, zu hoffen, dass durch die beschriebenen Entwicklungen auf klassifikatorischer und Gesetzesebene über eine zukünftig bessere diagnostische Einordnung und vermehrte Forschung eine Optimierung von Präventions- und Behandlungskonzepten für Patienten mit derartigen Krankheitsbildern zu erreichen sein wird.

Denn wir werden auch weiterhin in der psychiatrischen Versorgung mit Patienten konfrontiert sein, die unsere Hilfe vielleicht nicht nur in erster Linie wegen pathologischem Glücksspiel oder einer internetbezogenen Störung aufsuchen, die aber zumindest begleitend eine entsprechende Symptomatik aufweisen und wo sich uns die Frage nach adäquaten – vor Ort oftmals noch nicht flächendeckend vorhandenen – Behandlungsmöglichkeiten, aber auch nach entsprechender Expertise bei den Behandlern selbst, stellt. Die im vorliegenden Heft abgedruckte Arbeit von Mühlebach, Seifritz und Mutschler „Glückspielsucht über das Internet – eine Übersicht der Situation in der Schweiz“ [7] liefert dazu passend aktuelle Daten und wichtige Impulse für weitere Diskussionen zu diesem Thema, welches zumindest vor der Corona-Epidemie auch in den Alltagsnachrichten aufgegriffen worden war.



Publication History

Article published online:
23 April 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York