Z Sex Forsch 2020; 33(01): 51-52
DOI: 10.1055/a-1103-7166
Buchbesprechungen

Varianten der Sexualität. Studien in Ost- und Westdeutschland

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Kurt Starke. Varianten der Sexualität. Studien in Ost- und Westdeutschland. Lengerich: Pabst Science Publishers 2017. 223 Seiten, EUR 20,00

Das Buch versammelt Texte aus einem Vierteljahrhundert, chronologisch geordnet. Wenn man vorne zu lesen beginnt, bleibt jedoch der Eindruck aus, irgendetwas davon sei veraltet. Die Studien werden, soweit zu sehen ist, (fast) unbearbeitet angeboten, sodass die jeweiligen Kontexte lebendig deutlich werden.

Der Autor ist seit 1972 in der empirischen Sexualforschung aktiv. Seine Ausnahmestellung ergibt sich aus der großen Zahl empirischer Erhebungen, die er selbst durchgeführt bzw. mitgestaltet hat. 39 davon werden angeführt, wovon 13 über eine Befragtenzahl von mehr als 1 000 verfügen und nur zwei über eine von unter 200. Als professioneller Soziologe und empirischer Sozialforscher ist Starke gegen den Verdacht gefeit, nach Art der früher so beliebten Zeitschriftenumfragen populistische Thesen in die Medienwelt zu setzen.

Die Forschungsstrategie der Erhebungen orientiert sich an einer beschreibenden und problemorientierten Sozialforschung. Dabei kommen vor allem die Unterschiede zwischen Teilgruppen in den Blick: die Geschlechter Frau/Mann, die Alterskohorten bzw. Generationen, die Wohnsitzregionen Ost/West. Allerdings bleibt es oft bei zweidimensionalen Auszählungen, auch dort, wo der Stichprobenumfang eine multiple Regression zuließe.

Die Fixierung auf standardisierte Erhebungsinstrumente – kurze Fragen, vorgegebene Antwortmöglichkeiten und Skalen – liefert Verteilungen, die verbalisiert, mitgeteilt und kommentiert werden. An einigen Stellen freilich äußert Starke Zweifel an der Aussagekraft dieser Forschungsstrategie. Einmal heißt es: „Das Wesentliche sind nicht die bloßen Antwortverteilungen, sondern die Zusammenhänge“ (S. 43). Die „Zusammenhänge“ gehen meist über die im Fragebogen berücksichtigten Items weit hinaus.

Wo die Erhebungen auch Kommentare der Befragten zuließen bzw. offene Fragen stellten, deuten sich äußerst komplexe „Zusammenhänge“ an. So die anschauliche Schilderung eines Mannes, dessen Freundin seine Versteifungsfähigkeit zum Erliegen brachte. Die Schilderung füllt eine halbe Druckseite (S. 44) und entwirft ein ganzes Szenario gegenwärtiger Frau-Mann-Begegnungen, wie es in einem Fragebogen schwerlich eingefangen werden könnte. Wir stehen hier vor der uralten Debatte, ob sozio-emotional vielfältig aufgeladene Ereignisse (wie es das Sexuelle zweifellos ist) in Modellen mit zwei bis drei Faktoren erfasst werden können. Die Soziologie hat das Problem bislang nicht gelöst, sondern die darauf bezogene Diskussion einfach in zwei getrennte Fachsektionen ausgelagert.

Die empirische Sexualwissenschaft braucht beides: quantitative und qualitative Daten. Die standardisierten Erhebungen und statistischen Auswertungen verhindern es, in bloße Spekulation abzuschwirren und sich in hochabstrakten Theoriefiguren zu verlieren. Dafür bilden die Texte dieses Buches ein Musterbeispiel: Die Sexualität, dieses viele so verstörende Phänomen, wird mit Blick auf die Realität und auf das Nachprüfbare studiert. Um statistisch angetroffene Unterschiede zu erklären, werden Ad-hoc-Annahmen zu Hilfe genommen. Das kann bei Starke akzeptiert werden; denn aufgrund seiner intensiven und langjährigen Beschäftigung mit dem sexuellen Feld vermag er die nackten Korrelationen plausibel zu kontextualisieren. Er entfaltet eindrucksvoll seine „soziologische Fantasie“, um Deutungen für überraschende Resultate zu finden. Oft dienen andere Teile der jeweiligen Erhebung dafür, was einiges an Evidenz aufbaut. Auch verhält er sich selbstkritisch zu den eigenen Vermutungen und revidiert diese gelegentlich (siehe z. B. S. 19). Mich beeindruckten vor allem diejenigen Kapitel des Buchs, in denen Starke sich von den Zahlen löst und ein Profil einzelner Sexualformen zeichnet.

Welches Gesamtbild der Sexualität entwirft Starke? Er beklagt, dass „es kompliziert geworden ist, dem sexuellen Begehren in der Moderne auf die Spur zu kommen“ (S. 26). Ist nun die gegenwärtige Intimität so komplex, oder sind es die Diskurse? Starkes Formulierung besagt beides, und so meint er es auch. Er tritt nämlich gegen die Aufgeregtheiten an; das Sexuelle hält er für eine Angelegenheit von „Lust und Freude“ (S. 139). Damit erweist sich Starke als Anhänger eines naturalistischen Bildes. Er findet es nicht luststeigernd, wenn Verbote das Begehren umgeben (S. 27, gegen Gunter Schmidt). Auch scheint er es in Kauf zu nehmen, für seine Einstellung als „Illusionist, Idealist, Harmonist“ gescholten zu werden (S. 26).

Viele in der Sexologie sowie deren (männliche) Kunden treibt das Thema erektile Dysfunktion um. Wenn Starke dies behandelt, beklagt er zwar die Schwierigkeit, über das Thema anhand „harter“ Daten zu sprechen (S. 37); aber er stellt weitergehend die eigentlichen Fragen: Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass die Potenzfrage den heutigen Mann so beschäftigt? Wieso verknüpft sich das Sexuelle so sehr mit Leistung und Erfolg? Starke verweist zu Recht auf den „technizistischen, medizinistischen Anstrich“, auf „die Theorie vom perfekten Penis“ (S. 46). Mit der allseits verkündeten und begrüßten Verhandlungsmoral sei „die Spontaneität, die Ursprünglichkeit, das Triebhafte aus dem intimen sexuellen Zusammensein“ verschwunden und Impotenz zum Behandlungsfall geworden (S. 45).

Kurt Starke ist die kontinuierliche und gewichtigste Stimme bei Vergleichen zwischen Ost- und Westdeutschen, bei den Folgen der Landesvereinigung. Wie beispielsweise käme ein gemischtes Paar in einer Ehe zusammen? Von ihrer Sozialisation her sind sie einander fremd, und es genügt nicht, wenn jede Seite sich in die andere verliebt; es entscheidet erst das „Wir lieben uns“ (S. 129). Die Unterschiede zwischen den Sexualregimes der DDR und der alten Bundesrepublik werden an verschiedenen Stellen benannt. So zum Kindesmissbrauch (S. 11), der in der DDR noch als vereinzelt und „Überbleibsel der Ausbeutergesellschaft“ gehandelt wurde, als die westdeutsche Frauenbewegung ihn bereits als Strukturproblem anprangerte. Starke sieht auch recht viel Gelingen in der DDR-typischen Praxis von Liebe und Intimität; kennzeichnend seien stabile emotionale Strukturen in den Partnerschaften und Familien (S. 55 f.). Zu fragen ist hier, ob diese Praxis nicht auch in westlichen Ländern und dort in proletarischen Milieus gefunden wird. Ähnliches gilt gegenüber Starkes Befund, wonach die sexuelle Initiative sowie das Bild einer Intimbeziehung im Osten eher geschlechtsegalitär, also weniger genderdifferent beschaffen war und ist, verglichen mit der Bundesrepublik (S. 68). Wir alle, selbstkritisch gesagt, haben bei Einschätzungen zur Sexualkultur viel zu sehr die Mittelschichtsangehörigen vor Augen, wo heute die genderpolitischen Verunsicherungen grassieren.

Ein Relikt aus der Denkkultur der DDR mag es sein, wenn Starke seine Populationen kaum je nach dem Sozialmilieu differenziert. Da die Geschlechter-Bilder und -Interaktionen in bürgerlichen Gesellschaften unter diesem Gesichtspunkt stark differieren, könnte mancher Befund besser einleuchten. In der hochnivellierten DDR-Gesellschaft gab es dazu weder Modelle noch Erwünschtheit. So tauchen sie bei Starke nicht auf.

Die Eigenarten und Vorzüge eines in der DDR geschulten Blicks auf das Sexuelle zeigen sich in dem Kapitel über die Pornografie, worin Starke eine 2010 veröffentlichte Studie zusammenfasst. Keine Publikation aus westlicher Feder, soweit mir bekannt, hat jemals so klar und entschieden das „Problem“ sexuell-obszöner Stoffe in seinem Nullgehalt entzaubert. Können sie „Jugendliche negativ beeinflussen und sie sittlich gefährden“? Starke konstatiert: „Diese beliebte Fiktion hat keine wissenschaftliche Substanz“ (S. 133). Pornografie existiert in marktwirtschaftlichen (sprich kapitalistischen) Gesellschaften und entsteht aus deren Mechanismen. In der DDR hatte sie keine Existenz (S. 48, 52, 59 f., 77). Die Frage nach den schädlichen Wirkungen wird heute immer schon vorab, nämlich entwertend, beantwortet. Hiergegen formuliert Starke die eigentlich wichtigen Fragen: was Jugendliche mit den Stoffen machen, wie Stoff und Konsumierende interagieren, wie Nutzende zu Produzierenden werden (S. 137–139).

Ein großes Kapitel, erstmals veröffentlicht, befasst sich mit dem „Indikator Liebe in der Sexualforschung“ (S. 160–202). Hier betritt Starke erfreulicherweise ein Neuland, auf das ihm viele nicht folgen werden. In der Tat hat die gängige Sexualwissenschaft den Faktor Liebe weitgehend ignoriert. Beliebt waren Assoziationen wie „Das gemeine Lied der Liebe“ (Sigusch), willkommen war die beißende Kritik von Eva Illouz. Das scheint eine eher „westliche“ Denkweise zu sein; hingegen die „Liebe war in Leipzig immer dabei“, d. h. zu Zeiten der DDR-Jugendforschung (S. 161 f., mit einem Faksimile der Partnerstudie von 1972). Man könnte da ein Statement herauslesen, wie der „Ostforscher“ sich unter den „Westlern“ gefühlt hat.

Seit der Komplex Liebe-Erotik-Sexualität soziologisch diskutiert wird, also seit Georg Simmel um 1900, werden die diesbezüglichen Begriffe, Phänomene und Emotionen zu trennen versucht. Aber bereits Simmel zeigte auch die wechselseitigen Beziehungen, und zwar in ihrer schwer entwirrbaren Verbundenheit. Wenn die Sexualwissenschaft das nicht weiterverfolgt hat, war das nicht zu ihrem Nutzen. Dies korrigiert Starke nun in willkommener Weise, indem er den Stellenwert von Liebe in den intimen Partnerbeziehungen, vor allem bei Jugendlichen, über die Jahrzehnte seiner Erhebungsforschung analysiert. Aus seinen Daten ergibt sich „ein überwältigender Zusammenhang von Liebe und Sexualität im Denken und Fühlen der jungen Generation“ (S. 175): „Liebe ist das Hauptmotiv für den ersten Geschlechtsverkehr und […] bestimmt wesentlich die Koitusfrequenz eines Paares und das Erleben der partnerschaftlichen Sexualität“ (S. 176). Freilich sehen Jugendliche das Verhältnis von Liebe und Sexualität sowie die Unterschiede zwischen deren jeweiligen Funktionsweisen deutlicher als früher (Stoßseufzer des Rezensenten: Der Abnahme deutschsprachiger Schlagertexte sei Dank dafür!). Starke erkundet die inhaltlichen Strukturen, Grade, Anknüpfungspunkte (Attraktivität) und Bezüglichkeiten des Liebens und Geliebtwerdens. Als Quintessenz hält er fest: „Steht Sexualität im Fokus der Forschung, sind Liebe und Liebesbeziehung unverzichtbar“ (S. 202). Dies gelte für alle Altersgruppen und Teilpopulationen.

In den Augen vieler verkörpert Starke in der Sexualforschung eine, ja die Stimme der DDR, wo das Sexuelle gelassen gehandhabt und viel entspannter gesehen wurde als in der alten (und neuen) Bundesrepublik. Er hat die aufklärende Tonlage beibehalten, die zu einem freien Sprechen ohne Verlegenheit ermutigt, die theoretischen Überhöhungen mit Ironie begegnet und die das scheinbar Geheimnisvolle entmystifiziert. In gewisser Weise klingen hier Errungenschaften eines „materialistischen“ Gesellschaftsbildes nach. Viel ist zu lernen bei der Lektüre dieses knapp und treffend formulierenden, inhaltsreichen Buchs.

Rüdiger Lautmann (Berlin/Bremen)



Publication History

Article published online:
12 March 2020

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