Balint Journal 2019; 20(04): 130-131
DOI: 10.1055/a-1027-2964
Leserbrief
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Leserbrief

Elke Kuhfahl
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Publication Date:
27 November 2019 (online)

Leserbrief zum Beitrag von W. Schüffel et al. „Szenen eines Deutsch-Deutschen Trialoges – Wie politisch ist das Ringen um Salutogenese? Balint 2019; 20: 4–15

Dieser Artikel hat mich angeregt, mich zu erinnern, wie mein subjektives Erleben als Ärztin und Psychotherapeutin damals in der DDR war und wie es heute nach 30 Jahren Mauerfall in der Bundesrepublik ist. Inzwischen sind weitere Leserbriefe (Heide Otten, Günther Bergmann, Ernst Petzold) dazu erschienen und haben eine lebhafte Diskussion im Balint Journal ausgelöst.

Ich wurde 1941 während eines Fliegeralarms in Bochum geboren und 1943 wegen der zunehmenden Bombenangriffe auf das Ruhrgebiet mit meiner Mutter, 2 älteren Geschwistern und meiner Großmutter (mein Vater war im Krieg und kam erst 1947 aus der Gefangenschaft zurück) evakuiert worden. Wir lebten dann im Vogtland in einem kleinen Dorf in der Nähe von Plauen i.V., wo sich in einem Einfamilienhaus meiner Urgroßmutter während des Krieges aus allen Teilen Deutschlands Verwandte, die vor den Kriegswirren flohen oder deren Häuser bereits zerstört waren, einfanden. Obwohl es wenig zu essen gab, war diese Zeit für uns Kinder aller Altersstufen weniger traumatisch als für die Erwachsenen, Mütter, Tanten und Großmütter, deren Männer gefallen, vermisst oder noch in Gefangenschaft waren.

Meine Grund –und Oberschulzeit verlief relativ unproblematisch. Ich war stolzer Jungpionier, später in der FDJ. Obwohl ich wiederholt angefragt wurde, hat man nie auf mich Druck ausgeübt, in die SED einzutreten. Während meiner Schulzeit bis zum Abitur sind mir keine größeren nachhaltigen negativen Erlebnisse oder Traumata in Erinnerung.

Ich stamme aus einem bürgerlichen Elternhaus (kein Arbeiter- bzw. Bauernkind!) und wurde wegen guter Noten gleich nach dem Abitur zum Medizinstudium (1959–1965) an der Karl-Marx-Universität Leipzig zugelassen.

Von 1959 – bis zum Mauerbau am 13. August 1961 verließen zahlreiche meiner Kommilitonen die DDR, um in Westdeutschland weiter zu studieren. Ich selbst war mit meinen Eltern und meinem Bruder im Sommer 1960 (ich hatte bereits das Vorphysikum) zur Beisetzung meiner Pfälzer Großmutter das letzte Mal vor dem Mauerbau in der BRD. Obwohl meine Verwandten meinen Bruder und mich wiederholt aufforderten, doch in Westdeutschland zu bleiben, um dort unser Studium fortzusetzen, wären wir nicht auf die Idee gekommen, unsere Eltern allein nach Hause fahren zu lassen.

Nach dem Mauerbau wurde der Ton politisch deutlich rauer.

Ich erinnere mich an heftige politischen Auseinandersetzungen unter den Studenten. Einige meiner Kommilitonen, die im Studentenkabarett mitwirkten, wurden wegen „staatsfeindlicher“ Texte exmatrikuliert und mussten sich für 1 Jahr in der Produktion bewähren.

Als Famulanten im Krankenhaus Kühlungsborn (Insel Usedom) durften wir Studenten nicht mehr nach 20 Uhr an den Strand, da damals einige Menschen per Schlauchboot oder Luftmatratze die Flucht über die Ostsee wagten (s.a. das im Suhrkamp Verlag 2014 erschienene Buch Kruso von Lutz Seiler).

Direkte persönliche Kontakte zu westdeutschen Kollegen hatte ich erst nach der Wende. Privatreisen ins nichtsozialistische Ausland wurden stets abgelehnt. Da meine Verwandten aus der BRD (darunter einige Ärzte) uns aber häufig besuchten, führten wir viele Streitgespräche insbesondere über die unterschiedlichen Gesellschafts-und Gesundheitssysteme in Ost und West.

Nach dem Studium schloss ich die Facharztausbildung in Innerer Medizin ab und arbeitete als Stationsärztin auf einer großen internistischen Frauenstation. Hier erlebte ich bald die Grenzen meiner fachärztlichen Tätigkeit und beschloss, die Ausbildung zur ärztlichen Psychotherapeutin anzuschließen.

Dabei nahm ich sehr früh an den von Kurt Höck und Jürgen Ott geleiteten Gruppenselbsterfahrungen (Kommunitäten) über mehrere Jahre teil und erhielt hierdurch entscheidende Impulse für meine spätere berufliche Entwicklung. Ebenso prägend für mich waren die Besuche der sogenannten Problemfallseminare (späteren Balintgruppen) in Uchtspringe bei Prof. Wendt.

Von 1972–1987 war ich OÄ in der Klinik für funktionelle Erkrankungen Erlabrunn, an deren Aufbau und Entwicklung ich aktiv mitgewirkt hatte (heute Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie). Um dem hohen Bedarf an behandlungsbedürftigen Patienten in einer vertretbaren Behandlungsdauer gerecht zu werden, wandten wir in der Klinik als Therapiemethode u. a. recht erfolgreich die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie (K. Höck) in geschlossenen Gruppen an, eine Methode, die ich auch später in meiner ambulanten Abteilung in Dresden praktizierte.

Im Sommer 1987 ging ich nach Dresden, um dort in einer neu erbauten großen Poliklinik eine Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie mit tagesklinischem Profil aufzubauen. Räumlichkeiten, Innenausstattung und Planstellen für ärztliche, psychologische und medizinische Mitarbeiter wurden mir zugesichert. Allerdings war es nicht einfach entsprechende Kollegen zu gewinnen, da es an fehlenden Wohnungen scheiterte. Zu dieser Zeit wurden in Dresden nur Arbeitspsychologen ausgebildet. Die klinischen Psychologen aus anderen Städten benötigten Wohnraum für ihre Familien, den es nicht gab.

Mitten im Aufbau meiner Abteilung kam am 9. Nov. 1989 ziemlich unerwartet die Maueröffnung in Berlin. Ich war zu dieser Zeit u. a. im Vorstand der Sektion AT und Hypnose und wir hatten an einem verlängerten Wochenende eine Fachtagung in Bad Berka, wo ich auch eine Gruppe leitete. Diesen Abend vor dem Fernsehapparat am Tag der Maueröffnung werde ich nie vergessen. Vor Jubel und Euphorie aller Teilnehmer gab es kein Halten mehr. Unsere Tagung wurde vorzeitig abgebrochen und bereits am Samstag nach dem Frühstück reisten wir alle, wie im Taumel, in unsere Heimatorte zurück. Ich erinnere mich noch deutlich, wie auf dem Bahnhof in Bad Berka (Thüringen) eine junge Frau am Schalter eine Fahrkarte nach Gelsenkirchen (dem früheren Wohnort meiner Eltern) und zurück verlangte und dabei mit dem blauen Personalausweis der DDR diese Fahrt in Ostmark bezahlte.

Wieder zurück in Dresden überschlugen sich die Ereignisse Die ca. 35 Ärzte und Zahnärzte, die in unserer Poliklinik angestellt waren, wurden angehalten, sich in eigener Praxis niederzulassen. Dabei berieten uns nette Kollegen von der Kassenärztlichen Vereinigung unserer Partnerstadt Hamburg. Wer sich nicht altersbedingt niederlassen konnte oder wollte, ging in eine der vielen neugegründeten Ämter, Rehakliniken oder meldete sich arbeitslos. Die Zeit nach der Wende erlebte ich als sehr turbulent und voller Ängste. Über Nacht war alles anders geworden. Vertrautes und Gewohntes existierte plötzlich nicht mehr. Nach Jahren gewohnter beruflicher Routine in der DDR, mussten wir in kurzer Zeit mit neuen Strukturen und Anforderungen umgehen, die das westdeutsche System mit sich brachte. Das führte zu starker Verunsicherung hinsichtlich der eigenen beruflichen und finanziellen Zukunft. Landesärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen wurden gegründet, Länderstrukturen und Ministerien neu aufgebaut.

Ich war dann bis zum Eintritt in den Ruhestand in eigener psychotherapeutischer Praxis tätig, habe sehr früh an Balinttagungen in anderen Bundesländern teilgenommen und eigene Balintgruppen (in der DDR Problemfallseminare) geleitet und mich neu gegründeten Ausbildungsinstituten angeschlossen, in denen ich als Dozentin, Supervisorin und Lehrtherapeutin bis heute tätig bin. Der Austausch mit Kollegen aus den alten Bundesländern, insbesondere im Rahmen der Balintarbeit und Gruppenpsychotherapie erwies sich als fruchtbar und interessant. Unterschiedliche Biografien wurden ausgetauscht und herzliche Freundschaften geschlossen. So ist der Gewinn, den der Mauerfall mit der Wiedervereinigung für mich gebracht hat, nicht hoch genug einzuschätzen.

Neben den beruflich neuen Entwicklungsmöglichkeiten konnten und können wir nun nach Öffnung der Grenzen in die ganze Welt reisen und sind sehr dankbar dafür.

Rückblickend hatte ich mich in der DDR als Ärztin und Psychotherapeutin mit dem System irgendwie arrangiert, obwohl mich natürlich Bevormundungen und Unfreiheit störten (z. B. wurden Artikel in Fachzeitschriften bzw. Referate auf Fachtagungen seitens der übergeordneten Leitung „zensiert“ und einer Veröffentlichung nicht immer statt gegeben). Als politisch „Verfolgte“ habe ich mich aber nie gefühlt. Wir haben als Familie mit unseren Freunden auch in der DDR trotz eingeschränkter Reisefreiheit viel unternommen, gelebt, geliebt, gestritten und oft bis in die Nächte hinein Diskussionen über einen besseren und humaneren Sozialismus geführt.

Dabei war uns allen bewusst, dass die Stasi allgegenwärtig war und u. a. die Telefonate bes. in die BRD abgehört, Briefe und Pakete kontrolliert wurden oder ganz verschwanden.

Ich habe fast alle Autoren und deren im Buch von M. Geyer geschilderten psychotherapeutischen Entwicklungen gekannt und z.T. persönlich mit erlebt, insbesondere von der Zeit an, in der ich mich beruflich für den psychotherapeutisch-psychosomatischen Weg entschied und 1981 auch den Facharzt für Psychotherapie ablegte. Ich habe die DDR nicht besonders geliebt aber auch nicht extrem unter ihr gelitten. Ich war aber zu keinem Zeitpunkt entschlossen, sie zu verlassen, nicht 1960 zur Beisetzung meiner Oma oder Anfang Sept. 1989 als wir von einer Rumänienreise über Budapest nach Dresden zurückfuhren und uns auf der Fahrt zahlreiche Familien mit Trabis und Wartburgs entgegenkamen, die durch den kurz darauf geöffnete Grenzzaun nach Österreich liefen und ihre Autos in Ungarn stehen ließen.

Da ich meinen Beruf immer sehr gern ausgeübt habe, bin ich bis heute noch in der Aus- und Weiterbildung tätig, leite Balintgruppen und Balintblockseminare. Eine universitäre Laufbahn habe ich nie angestrebt, weshalb ich auch die geschilderten Abhängigkeiten und Gefühle, die von den 3 Autoren (alle Hochschullehrer) beschrieben, so nicht wahrgenommen habe. An den Wartburggesprächen nach der Wende hatte ich nie teilgenommen, durfte aber Benyamin Maoz persönlich auf Balinttagungen wiederholt erleben und schätzen lernen.

Ich habe diesen Leserbrief verfasst, um als Zeitzeugin den jungen Kollegen/innen in Ost und West einen Einblick in mein persönliches Erleben als Ärztin und Psychotherapeutin von damals bis heute zu vermitteln und um sie gleichzeitig zu ermuntern, sich aktiv für den Erhalt unserer humanistischen und demokratischen Werte einzusetzen, wozu wir als Ärzte und Psychotherapeuten heute mehr denn je verpflichtet sind, um ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft zu verhindern. Ich schätze und verdanke der Balintarbeit sehr viel und werbe weiterhin bei Medizinstudenten und jungen Kollegen um eine frühzeitige Teilnahme an Balintgruppen.