Z Sex Forsch 2019; 32(04): 189-197
DOI: 10.1055/a-1023-6196
Editorial

Medikamentöser HIV-Schutz mittels PrEP: Aktueller Diskussions- und Forschungsstand

Nicola Döring

Seit September 2019 wird in Deutschland gemäß neuem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) der medikamentöse Schutz vor einer HIV-Infektion von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Technisch gesprochen geht es um die HIV-Prä-Expositions-Prophylaxe (kurz: HIV-PrEP oder PrEP). Die HIV-PrEP beinhaltet ein antiretrovirales Medikament und ist gedacht für HIV-negative Menschen, die ein substanzielles HIV-Übertragungsrisiko haben. Wenn sie täglich die „Anti-HIV-Pille“ einnehmen, erreichen sie einen klinisch nachgewiesen sehr hohen HIV-Infektionsschutz von bis zu 99 % ([CDC 2019]). Neben der dauerhaften bzw. täglichen Einnahme (Long-term PrEP) ist auch eine anlassbezogene Einnahme möglich (Short-term PrEP, Event-driven PrEP, Episodic PrEP = Epi-PrEP). Die anlassbezogene PrEP kann beispielsweise gezielt für Partys, Festivals oder Reisen eingenommen werden, bei denen riskante Sexkontakte erwartet werden. Wer die verschreibungspflichtige PrEP einnimmt, muss alle drei Monate auf HIV, andere sexuell übertragbare Infektionen (Sexually Transmittal Infections: STI) und die Nierenfunktion untersucht werden. Eine gute medizinische Begleitung gehört zur PrEP also dazu.

Der medikamentöse HIV-Schutz wurde bereits 2012 in den USA zugelassen, Europa folgte 2016. Als Erstes ging das pharmazeutische Unternehmen Gilead mit dem auch in der HIV-Therapie genutzten Kombinationspräparat Truvada (Wirkstoffe: Emtricitabin und Tenofovir-Disoproxil) auf den Markt. Die Medikamentenkosten waren anfangs sehr hoch (ca. 800 Euro für eine Monatsdosis auf Privatrezept). Bis heute steht Gilead für seine Preispolitik bei der PrEP weltweit in der Kritik. Inzwischen sind jedoch deutlich kostengünstigere Generika verfügbar (ab 40 Euro für eine Monatsdosis). Zudem ist, wie eingangs erwähnt, die Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenversicherungen in Deutschland jetzt prinzipiell gesichert.

Rund 30 Jahre nach Beginn der Aids-Epidemie besteht nun die Hoffnung, mit verstärkten Präventionsbemühungen – einschließlich der PrEP als hochwirksamer, neuer Methode im HIV-Präventionsbaukasten – bis 2030 eine „Welt ohne Aids“ zu schaffen ([WHO 2019]). Gleichzeitig verspricht die PrEP einen deutlichen Zugewinn an sexuellem Wohlbefinden durch wiedergewonnene Angstfreiheit und unbeschwertere Lust. Oder ist diese Sichtweise zu optimistisch? Wie steht es um die – nicht nur medikamentösen – Risiken und Nebenwirkungen der PrEP? Das vorliegende PrEP-Schwerpunktheft der „Zeitschrift für Sexualforschung“ will diesen Fragen nachgehen, den aktuellen Diskussions- und Forschungsstand zur PrEP aufgreifen und weiterentwickeln.

PrEP versus PEP

Nicht zu verwechseln ist die PrEP als „Pille davor“ mit der PEP, der Post-Expositions-Prophylaxe, also der HIV-bezogenen „Pille danach“. Die PEP ist unmittelbar (binnen maximal 48 Stunden) nach einer wahrscheinlichen HIV-Übertragung zu beginnen, dauert rund vier Wochen und soll verhindern, dass die übertragenen HI-Viren eine Infektion auslösen. Sie ist deutlich höher dosiert, hat Nebenwirkungen und stellt eine reine Notfallmaßnahme dar. Zum Umgang mit der PEP wurde erstmals 2013 eine deutsch-österreichische Leitlinie veröffentlicht, die seit 2018 in aktualisierter Fassung vorliegt ([DAIG und ÖAG 2018b]). Die Einnahme der PrEP kann wiederholte PEP-Einnahme verhindern, weshalb die aktualisierte PEP-Leitlinie nun ausdrücklich auf die PrEP verweist.


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Von „Safer Sex 1.0“ zu „Safer Sex 3.0“

Die HIV-PrEP wird von der Weltgesundheitsorganisation ([WHO 2015], [2019]), von Gesundheitsbehörden und gesundheitsbezogenen Nichtregierungsorganisationen weltweit empfohlen, da sie ein wichtiges neues Instrument der HIV-Prävention darstellt. Deutschland hat sich dieser Bewertung angeschlossen. Die Kostenübernahme der PrEP wurde im TSVG verankert. Seit 2018 liegen zudem die „Deutsch-Österreichische[n] Leitlinien zur HIV-Prä-Expositions-Prophylaxe“ vor ([DAIG und ÖAG 2018a]). Die Deutsche Aidshilfe kommuniziert den medikamentösen HIV-Schutz durch die PrEP – etwa im Rahmen ihrer IWWT(„ICH WEISS WAS ICH TU“)-Kampagne – griffig auch als „Safer Sex 3.0“, um drei Varianten des HIV-Schutzes zu unterscheiden:

  • HIV-Schutz durch situative Vorsichtsmaßnahmen, vor allem Kondom und Femidom (Safer Sex 1.0)
    Um eine HIV-Übertragung beim Sex zu vermeiden, werden Vorsichtsmaßnahmen in dem Sinne empfohlen, dass potenziell infektiöse Körperflüssigkeiten wie Sperma, Vaginalsekret, Analflüssigkeit und Blut nicht mit den Schleimhäuten anderer Menschen in Kontakt kommen. Dies wird durch entsprechende Anpassung der sexuellen Praktiken und durch Barrieremethoden erreicht. Die meistgenutzte Barrieremethode ist das Kondom. Relevant sind aber auch Femidom, Lecktuch, Latexhandschuhe usw. Barrieremethoden wie das Kondom haben diverse Vorteile: Sie sind spontan einsetzbar, beugen einer sexuellen HIV-Übertragung vor, schützen gleichzeitig vor diversen anderen sexuell übertragbaren Infektionen und verhüten zudem Schwangerschaften. Doch Barrieremethoden können das emotionale und sinnliche Erleben beim Sex beeinträchtigen, weshalb sie nicht immer angewendet werden. Das gilt gerade im Zusammenhang mit Alkohol- und Drogenkonsum. Auch sind diverse Anwendungsfehler möglich (z. B. Beschädigung durch falsche Lagerung oder falsches Öffnen, Verwendung ungeeigneter Gleitmittel, Auswahl der falschen Größe). Kondomverwendung ist zudem bei Erektionsproblemen erschwert oder unmöglich. Nicht zuletzt besteht das Risiko, dass die kondomtragende Person das Kondom während des Verkehrs verliert oder absichtlich entfernt, ohne dass dies bemerkt wird. Die Effektivität von Kondomen zur Prävention von HIV bei rezeptivem Analverkehr unter Männern wird laut aktueller Evidenzlage auf 72 % bis 91 % beziffert ([CDC 2019]). Trotz der genannten Vorteile haben Barrieremethoden wie das Kondom in der Praxis also auch ihre Grenzen.

  • HIV-Schutz durch Therapie (Safer Sex 2.0)
    Der HIV-Schutz durch Therapie ist ein willkommener Nebeneffekt der HIV-Behandlung. Denn wenn HIV-positive Menschen diagnostiziert und mit antiretroviraler Therapie (ART) behandelt werden, sodass ihre HI-Viruslast im Blut unter der Nachweisgrenze liegt, dann können sie das Virus auch bei kondomlosem Sex nicht mehr übertragen. Schutz durch Therapie wird auch als U = U (Undetectable = Untransmittable) und als TasP (Treatment as Prevention) bezeichnet. Die Effektivität liegt laut aktueller Evidenzlage bei 100 % ([CDC 2019]). Zielmarke der Vereinten Nationen ([UNAIDS 2014]) sind dabei die 90–90–90-Ziele: Ideal wäre es demnach, mindestens 90 % der HIV-positiven Menschen zu diagnostizieren, von den Diagnostizierten mindestens 90 % antiretroviral zu therapieren und unter den Therapierten dann bei mindestens 90 % die HI-Viruslast im Blut unter die Nachweisgrenze zu bringen. Damit wäre eine weitere Verbreitung von HIV weitgehend gestoppt. Schweden gilt als weltweit erstes Land, das die 90–90–90-Ziele erreichte, und zwar bereits 2015. Deutschland dagegen verfehlt die 90–90–90-Ziele: So werden in Deutschland bislang nur 87 % der HIV-Infizierten auch diagnostiziert ([an der Heiden et al. 2018]). Die Bedingungen für Schutz durch Therapie (z. B. niedrigschwelliger und stigmatisierungsfreier Zugang zu Diagnostik und Therapie) müssen in Deutschland also noch verbessert werden.

  • HIV-Schutz durch PrEP (Safer Sex 3.0)
    Die PrEP als medikamentöser HIV-Schutz soll vor allem denjenigen HIV-negativen Menschen helfen, die Sexualkontakte mit substanziellem HIV-Transmissionsrisiko haben (und weiterhin haben werden) und dabei Kondome oder andere Barrieremethoden nicht immer zuverlässig verwenden. Das betrifft als Hauptzielgruppe Männer, die Sex mit Männern haben (MSM), sowie laut WHO-Empfehlung (2015) auch weitere Zielgruppen wie z. B. Sexarbeiter*innen, Trans*Personen oder Inhaftierte, die jeweils einem erhöhten HIV-Transmissionsrisiko ausgesetzt sein können. Epidemiologisch „HIV-Risikogruppen“ zu definieren ist sinnvoll, um PrEP-Aufklärung und PrEP-Versorgung zielgruppenspezifisch anbieten zu können. Der Risikogruppen-Diskurs darf indessen nicht auf Stigmatisierung der betreffenden Gruppen hinauslaufen und sollte nicht vergessen lassen, dass prinzipiell alle Menschen – je nach individuellem Verhalten – zeitweise oder dauerhaft ein erhöhtes HIV-Transmissionsrisiko haben können. Die Effektivität der PrEP zur HIV-Prävention bei Sexualkontakten liegt laut aktueller Evidenzlage bei 99 % und damit über der von Kondomen ([CDC 2019]). Die Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenversicherungen dürfte die Verbreitung der PrEP hierzulande begünstigen.

Die Chronologie der drei nacheinander entwickelten Generationen von HIV-Schutzmethoden impliziert keine Bewertung: Das Kondom als „Klassiker“ des HIV-Schutzes mag mit seinen spezifischen Vorteilen bei vielen Menschen mit erhöhtem HIV-Transmissionsrisiko weiterhin die HIV-Schutzmethode der Wahl bleiben, während andere Menschen kurz- oder längerfristig ergänzend oder alternativ auf die PrEP zurückgreifen. Ähnlich ist es ja auch bei der Schwangerschaftsverhütung: Auch hier gibt es einen Methodenbaukasten, damit die Verhütungsmethode den individuellen Bedürfnissen, dem Lebensstil und Sexualverhalten angepasst werden kann. Das schließt auch Methodenwechsel und die parallele Nutzung mehrerer Methoden mit ein (z. B. Schwangerschaftsverhütung mit Pille und Kondom gleichzeitig: double dutch).


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„Rettende Wunderpille“ oder „gefährliche Partydroge“?

Nachdem sich die orale PrEP in klinischen Studien weltweit als medizinisch hochwirksame und nebenwirkungsarme Methode der HIV-Prävention erwiesen hat und die Gesundheitsbehörden sie als HIV-Präventionsmethode einhellig empfehlen, sollte es eigentlich kaum noch sexualpolitischen Diskussionsbedarf geben.

Doch die PrEP ist von Anfang an stark umstritten gewesen. Das liegt vor allem an der Sorge, dass die Verfügbarkeit der PrEP Menschen dazu verleiten könnte, seltener Kondome zu verwenden und sich generell sexuell „sorgloser“ zu verhalten. Da die PrEP ausschließlich vor HIV schützt, würde bei vermehrt kondomlosem Sex das Risiko anderer sexuell übertragbarer Infektionen (STI) steigen. Und wenn die PrEP nicht nach vorgesehenem Schema eingenommen wird, stellt sie ohnehin nur einen vermeintlichen Schutz dar. Letztlich kann die PrEP bei falscher Anwendung auch Resistenzen hervorbringen, etwa wenn sie bei einer unentdeckten und unbehandelten HIV-Infektion eingenommen wird. Untergräbt die PrEP somit die jahrzehntelange, erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit für Kondomgebrauch und schafft damit mehr Probleme als sie löst? Hierüber gibt es heftigen Streit, auch und gerade unter Aids-Aktivist*innen: Die einen sehen die PrEP als neue „Wunderwaffe im Kampf gegen HIV und Aids“, andere kritisieren sie als „gefährliche Partydroge“ (vgl. [Spieldenner 2016]).

Was die PrEP-Debatte – wie jede sexualbezogene Debatte – zusätzlich stark beeinflusst, sind sexualmoralische Bewertungen: Während die einen „sorglosen Sex“ als Beitrag zu sexueller Selbstbestimmung, Angstfreiheit und sexuellem Wohlbefinden würdigen, assoziieren andere „sorglosen Sex“ mit Verantwortungslosigkeit, Egoismus und promiskuitivem Exzess, stigmatisieren dementsprechend PrEP-Nutzende zuweilen gar als „PrEP-Huren“ und „Truvada-Schlampen“. Es werden in der Auseinandersetzung mit der PrEP also auch grundlegende sexualethische und sexualpolitische Wertfragen aufgerufen.


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„Anti-Baby-Pille“ versus „Anti-HIV-Pille“

Nicht viel anders war es, als die sogenannte Anti-Baby-Pille 1960 in den USA und wenig später in West- und Ostdeutschland eingeführt wurde (vgl. [Silies 2010]). In Westdeutschland ging als erstes das pharmazeutische Unternehmen Schering 1961 mit dem Präparat Anovlar auf den Markt. Die Pille stieß in den Medien zunächst auf Schweigen, denn Empfängnisverhütung und andere sexualbezogene Themen wurden damals noch nicht öffentlich verhandelt. In medizinischen Fachkreisen waren Skepsis und gesamtgesellschaftlich nicht unbeträchtlicher sexual-, ehe- und familienpolitischer Widerstand verbreitet ([Dose 1990]): Man fürchtete ernsthaft, die Pille würde die Moral verderben und Ehe und Familie bedrohen, wenn Frauen nun plötzlich anfingen, sich hemmungslos „sexuell auszuleben“.

Es dauerte fünf Jahre, bis die Existenz der Pille überhaupt in der breiten Bevölkerung bekannt war ([Dose 1990]: 26). Erst im Zuge der sexuellen Liberalisierung setzte ab 1968 langsam eine positive Medienberichterstattung über die Pille ein. Dennoch wurden die ursprünglich strengen Restriktionen bei ihrer Verordnung erst Ende der 1970er-Jahre gelockert, sodass orale Kontrazeptiva dann auch jungen, unverheirateten und kinderlosen Frauen ganz selbstverständlich zur Verfügung standen. Das war ein wichtiger Schritt in Richtung sexueller Selbstbestimmung, Angstfreiheit und Emanzipation für Frauen, die Sex mit Männern haben.

Gleichzeitig hatte die folgende Etablierung der Pille als Normverhütung auch anti-emanzipatorische Züge, indem sie die Verhütungsverantwortung einseitig den Frauen zuwies, Mädchen und Frauen damit auch die Last der Pillen-Nebenwirkungen – von Lustlosigkeit bis zu Thrombose – aufbürdete, die Erwartung ständiger Bereitschaft von Frauen zum vaginalen Geschlechtsverkehr festigte und schließlich Frauen und Mädchen als verantwortungslos stigmatisierte, die die Pille für sich ablehnten (vgl. [Dose 1990]).

Ähnliche Klagen über anti-emanzipatorische Wirkungen werden inzwischen auch hinsichtlich der PrEP diskutiert: Wenn die PrEP in urbanen Szenen und im Online-Dating zunehmend zur Norm wird, wie lassen sich dann für PrEP-ablehnende MSM sexuelle Interaktionen mit Kondom überhaupt noch erfolgreich aushandeln? Parallelen und Unterschiede zwischen der Einführung, Normierung und Nutzung der sogenannten „Anti-Baby-Pille“ und der „Anti-HIV-Pille“ geben zu denken: Wie schaffen es denn eigentlich Frauen, heutzutage noch Verhütung mit Kondom auszuhandeln, wenn allenthalben die Erwartung vorherrscht, sie könnten doch „einfach die Pille nehmen“? Und wie schaffen es Millionen von Mädchen und Frauen über viele Jahre ihres Lebens hinweg, tagtäglich zuverlässig die Pille einzunehmen, während die tägliche PrEP-Einnahme oftmals als große Hürde für Männer diskutiert wird? Es wäre vermutlich lohnenswert, die beiden Pillen-Diskurse einmal systematisch unter Gender-Perspektive zu beleuchten.


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Was ändert sich durch die PrEP?

Die aktuellen Auseinandersetzungen mit der oralen PrEP sind nicht nur mit den seit den 1960er-Jahren geführten Diskussionen um orale Kontrazeptiva für Frauen in Verbindung zu bringen, sondern natürlich vor allem auch mit den seit den 1980er-Jahren geführten kontroversen Debatten zu HIV und Aids. So sind in der „Zeitschrift für Sexualforschung“ in den letzten 30 Jahren rund 30 HIV-/Aids-bezogene Beiträge erschienen. Der früheste stammt von [Martin Dannecker (1988)] und vertrat die These „Aids ändert alles“, nämlich den gesamten gesellschaftlichen Umgang mit Sexualität, insbesondere mit männlicher Homosexualität, die durch Aids unter ein Diktat der allgegenwärtigen Angst und des Verzichts gestellt werde. Noch im selben Jahr konterte [Reimut Reiche (1988)] mit der These „Aids ändert nichts“: Grundlegende Triebängste und Triebwünsche rund um Sexualität seien schließlich immer gleich und würden nur anhand aktueller Phänomene – wie der damals angstvoll aufgeheizten Aids-Debatte – jeweils besonders sichtbar. Der Sorge um eine Re-Stigmatisierung mann-männlicher Sexualität widersprach Reiche mit der Feststellung, männliche Homosexualität sei in Wahrheit nie wirklich entstigmatisiert gewesen. Wie grundlegend, nachhaltig, bewusst und unbewusst die sexualmoralischen Änderungen sein werden, welche die noch relativ neue PrEP mit sich bringen wird, dürfen wir uns fragen.

Nicht zu vergessen ist indessen, dass Aids und PrEP insofern immer dann „sehr viel ändern“, wenn sie im Einzelfall tatsächlich Menschenleben bedrohen bzw. schützen. Die [WHO (2019)] zieht aktuell folgende Bilanz: Seit Beginn der Aids-Epidemie haben sich mehr als 70 Millionen Menschen mit HIV infiziert, knapp die Hälfte (35 Millionen Menschen) sind daran gestorben. Heute leben rund 37 Millionen Menschen weltweit mit HIV, davon werden bislang 22 Millionen (59 %) antiretroviral behandelt.

Vor gut zehn Jahre verkündete Martin Dannecker in dieser Zeitschrift den „Abschied von Aids“ ([Dannecker 2006]). Denn medizinisch ist die HIV-Infektion vom sicheren Todesurteil zu einer gut beherrschbaren chronischen Erkrankung mit durchschnittlicher Lebenserwartung geworden. Das gilt zumindest in Ländern mit hohem Wohlstandsniveau und guter medizinischer Versorgung. So schreitet die medizinische Forschung und Entwicklung im Bereich HIV fortwährend voran. Sozialwissenschaftlich ist das Interesse am Thema hierzulande jedoch offenbar deutlich zurückgegangen: Der letzte HIV-/Aids-bezogene Beitrag in dieser Zeitschrift erschien denn auch vor mehr als fünf Jahren ([Wicht 2013]). Buchrezensionen griffen das Thema jedoch gelegentlich noch auf. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ist von dezidierten Anti-HIV-/Aids-Kampagnen („Gib AIDS keine Chance“) inzwischen umgestiegen auf Kampagnen, die neben HIV auch andere STI adressieren (z. B. Kampagne „Liebesleben“).

Das vorliegende Schwerpunktheft der „Zeitschrift für Sexualforschung“ möchte den Faden der HIV-Debatten wieder aufnehmen, umfassend zum Thema HIV-PrEP informieren und weitere Diskussionen und Forschungsaktivitäten anregen. Da die PrEP die HIV-Prävention momentan stark verändert, verdient sie das Interesse aller in der sexualbezogenen Forschung und Praxis Tätigen. Bislang fehlen für Deutschland empirische Daten zum PrEP-Wissen in der breiten Bevölkerung sowie beim medizinischen und sexualpädagogischen Fachpersonal. Anekdotisch zeigt sich jedoch relativ klar, dass noch große Wissenslücken bestehen. Fragen Sie sich selbst: Wie ist es um Ihre PrEP-Kenntnisse bestellt, und um die Ihrer Kolleg*innen und Freund*innen? Breite PrEP-Aufklärung ist also gefragt. Darüber hinaus ist die teilweise sehr polarisierte PrEP-Debatte ein spannendes Anwendungsfeld, um im fachlichen Diskurs wieder einmal die eigenen Affekte, Vorurteile und Werthaltungen zu prüfen und zu hinterfragen: Was genau bedeuten Sicherheit, Risiko und Verantwortungsbewusstsein beim Sex? Wie sind Kosten und Nutzen sowie unterschiedliche Risiken rational gegeneinander abzuwägen – etwa erhöhte gesundheitliche Risiken gegen den Nutzen sexuellen Vergnügens oder das bei alleiniger PrEP-Einnahme ohne Kondom deutlich geminderte HIV-Risiko gegen das gleichzeitig möglicherweise erhöhte Risiko anderer STI?


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Zwei Forschungsbeiträge zur PrEP

Das vorliegende Heft enthält zwei Originalarbeiten, die Ergebnisse empirischer Forschung zur PrEP präsentieren. Der erste Originalbeitrag stammt vom Robert Koch-Institut: [Viviane Bremer, Uwe Koppe, Ulrich Marcus und Klaus Jansen (2019)] von der Abteilung Infektionsepidemiologie liefern einen Forschungsüberblick, welcher der Frage nachgeht, was wir über die Effekte der PrEP zur HIV-Prävention und im Zusammenhang mit der Verbreitung anderer STI bislang wissen. Dazu werden aktuelle Studienergebnisse und epidemiologische Daten aus Deutschland und Nachbarländern herangezogen. In diesem Zusammenhang spielt es eine wichtige Rolle, dass die Verordnung der PrEP mit regelmäßigen HIV- und STI-Tests und sofortiger Behandlung entdeckter Infektionen einhergeht.

Der zweite Originalbeitrag stammt von der Technischen Universität Ilmenau: [Nicola Döring, Roberto Walter und Kathrin Knutzen (2019)] vom Institut für Medien und Kommunikationswissenschaft analysieren, wie die PrEP in deutschsprachigen Medien dargestellt wird. Dazu wurden PrEP-Darstellungen in N = 150 Zeitungsartikeln und auf N = 150 Webseiten inhaltsanalytisch ausgewertet. Darüber hinaus wurden PrEP-Darstellungen in Sozialen Medien (YouTube, Facebook und Twitter) qualitativ erkundet.


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Ein Kommentar zur PrEP-Leitlinie

An die Originalarbeiten schließt sich in der Rubrik „Dokumentation“ ein ausführlicher Kommentar der 2018 veröffentlichten Deutsch-Österreichischen S2k-Leitlinie zur HIV-PrEP ([DAIG und ÖAG 2018a]) an. [Stefan Nagel (2019)], Psychoanalytiker und Chefarzt für Psychosomatik an der MEDIAN Klinik Heiligendamm, würdigt die Leitlinie als hilfreich, weist aber auch auf die Komplexität der Sachverhalte und auf jene Leitlinien-Empfehlungen hin, die keinen Konsens oder nur geringe Konsensstärke erreichten.

Die erste reguläre Überarbeitung der PrEP-Leitlinie wird im Jahr 2021 anstehen. Es wird sich zeigen, auf welche Evidenzlage die Leitliniengruppe bis dahin zugreifen kann. Kontrovers diskutiert wird bereits jetzt das richtige Maß für STI-Tests: Empfahlen die Aidshilfen bislang (mindestens) einmal pro Jahr eine HIV- und STI-Testung, so werden PrEP-Nutzende laut Leitlinie einmal pro Quartal getestet. Nicht nur die Häufigkeit der Tests steigt, auch das Spektrum der getesteten Erreger wird breiter. So wird bereits eine Integration regelmäßiger Testung auf Mycoplasma genitalium in die PrEP-Leitlinie gefordert ([Jansen und Steffen 2019]). Dabei kann ein Zuviel an Testung und Behandlung auch Schaden anrichten, etwa weil dann seltene und schwere Behandlungsnebenwirkungen zunehmen, die in keinem Verhältnis zum erzielten Nutzen stehen. Hier besteht anhaltender Klärungsbedarf.


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Fünfstimmige Debatte zu Praxiserfahrungen mit der PrEP

Im dritten Teil des Heftes geht es schließlich um Praxiserfahrungen. In einer mehrstimmigen Debatte wird die PrEP aus fünf verschiedenen Blickwinkeln betrachtet:

  1. Perspektive einer PrEP-Nutzerin: Miriam, die anonym bleiben möchte, ist eine der ersten PrEP-Nutzerinnen in Deutschland. Sie führt ein aktives, selbstbestimmtes Sexualleben und greift aus guten Gründen zur PrEP, wie sie im Interview mit [Holger Sweers (2019)] erklärt.

  2. Perspektive eines PrEP-Nutzers: Als Milan, der ebenfalls anonym bleiben möchte, mit der PrEP-Einnahme begann, war er als Single in der Schwulenszene unterwegs. Inzwischen lebt er in einer festen Partnerschaft. Warum er trotzdem weiterhin die PrEP einnimmt und wie es ihm damit geht, erzählt er im Interview mit [Axel Schock (2019)].

  3. Perspektive eines ehemaligen PrEP-Nutzers: Steve Spencer war einer der ersten PrEP-Nutzer in Australien und Gründungsmitglied von PAN (PrEP Access Now), einer Non-Profit-Organisation, die sich für niedrigschwelligen Zugang zur PrEP in Australien einsetzt. Trotz PrEP-Einnahme hat er sich 2018 mit HIV infiziert. Denn die PrEP bietet zwar einen sehr hohen, aber eben keinen perfekten Schutz. Wovor er jetzt Angst hat, und warum er sich immer noch für die PrEP stark macht, wird anhand seiner Pressebeiträge von [Nicola Döring (2019)] zusammengefasst.

  4. Perspektive eines PrEP-Beraters: Arne Kayser arbeitet als Berater bei der Aidshilfe Bochum am WIR-Zentrum Bochum. Im Szene-Jargon zuweilen liebevoll-ironisch als „PrEP-Mutti von Bochum“ tituliert, hat er bislang knapp 200 PrEP-Nutzende begleitet und eine spezielle PrEP-Sprechstunde – die PrEPstunde – entwickelt, die sich großer Beliebtheit erfreut. Er kennt die vielfältigen Motive zur PrEP-Einnahme, aber auch Fallbeispiele, in denen er von der PrEP abrät ([Kayser 2019]).

  5. Perspektive eines HIV-Behandlers: Sven Schellberg ist als Arzt in der Novopraxis tätig, einer HIV-Schwerpunktpraxis in Berlin. Er ist immer häufiger mit Patient*innen konfrontiert, die nach der PrEP fragen. Der Nutzen der PrEP ist für ihn unbestritten. Dennoch warnt er vor einer „Medikalisierung schwuler Sexualität“. Und er wünscht sich, dass offene Gespräche über sexuelles Verhalten und sexuelles Wohlbefinden, über HIV- und STI-Prävention nicht nur in HIV-Schwerpunktpraxen, sondern ganz selbstverständlich auch in anderen Arztpraxen stattfinden. Doch das scheint viel zu oft noch ein Tabu zu sein ([Schellberg 2019]).


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PrEP weiterdenken: internationaler, intersektionaler, interaktionistischer und zukunftsorientierter

Bei allem Bemühen um inhaltliche Vielfalt bleiben natürlich immer auch Lücken. Auf vier Limitationen der PrEP-Darstellungen in diesem Heft sei verwiesen:

Das vorliegende Schwerpunktheft ist primär auf die Situation der HIV-PrEP in Deutschland und vergleichbaren Ländern bezogen. Viele Punkte wären ganz anders zu diskutieren, wenn wir Länder in den Blick nehmen, die ein deutlich geringeres Bildungs- und Wohlstandsniveau, weniger Geschlechtergleichberechtigung, schlechteren Schutz vor sexueller Gewalt und dabei gleichzeitig viel höhere HIV-Prävalenzen aufweisen. Dann wäre nämlich z. B. die PrEP-Einnahme für gewaltbedrohte Mädchen und Frauen ein viel größeres Thema. Die PrEP-Debatte ist also internationaler zu denken, als sie im vorliegenden Heft erscheint.

Weiterhin ist die PrEP-Debatte auch diversitätssensibler und intersektionaler zu denken: Vielfach stehen MSM als scheinbar einheitliche Gruppe im Mittelpunkt, dabei wäre diese Gruppe noch weiter zu differenzieren (z. B. nach Alter, kulturellem und religiösem Hintergrund, sexueller Identität). Andere PrEP-Zielgruppen wie Trans*Personen, Sexarbeiter*innen, Inhaftierte und injizierende Drogengebraucher*innen mit ihren jeweiligen Untergruppen werden im vorliegenden Heft nur vereinzelt angesprochen und verlangen eine jeweils viel genauere Betrachtung. Das gilt insbesondere für injizierende Drogengebraucher*innen, bei denen das HIV-Transmissionsrisiko nicht primär sexualbezogen ist und deren Anliegen somit auch jenseits von Fragen des Safer Sex liegen, welche den PrEP-Diskurs hier und anderswo dominieren. Solche Differenzierungen sind wichtig für eine zielgruppengerechte PrEP-Versorgung, die immer auch durch entsprechende gesellschaftliche und institutionelle Bedingungen umfassender HIV-Prävention und Förderung sexueller Gesundheit unterlegt sein muss: Differenzierte Aufklärung, Entstigmatisierung, Empowerment, niedrigschwelliger (u. a. mehrsprachiger, kostenloser) Zugang zu Diagnostik, Beratung und Behandlung. Erste dezidiert diversitätssensible Vorzeige-Projekte wie z. B. Checkpoint BLN (https://checkpoint-bln.de/) existieren bereits.

Aus der HIV-Präventions-Debatte der letzten 30 Jahre haben wir unter anderem gelernt, dass es viel zu kurz greift, Übertragungsrisiken allein an Personenmerkmalen und Gruppenzugehörigkeiten festzumachen. Vielmehr sind die situativen Bedingungen einer sexuellen Begegnung und die Beziehungsdynamiken ausschlaggebend dafür, ob und wie überhaupt miteinander über STI und HIV gesprochen wird, ob und wie und durch wen Kondome, TasP, PrEP oder andere Safer-Sex-Maßnahmen ins Spiel gebracht werden. So mag Gelegenheitssex oftmals sicherer sein als Sex in Langzeitbeziehungen, weil beim Gelegenheitssex ein aktives Risikomanagement eher die Norm ist. Demgegenüber wirkt aktives Risikomanagement in Liebeskontexten oftmals so unromantisch und bedrohlich (weil sexuelle Vor- und Außenkontakte zum Thema werden), dass reale Risiken eher verdrängt werden (vgl. [Bochow 1996]). Der Umgang mit PrEP ist also auch deutlich situationsspezifischer und interaktionistischer zu denken, als es hier dargestellt wird. Das betrifft die Langzeiteinnahme sowie die anlassbezogene Anwendung der PrEP in risikoreichen Situationen und Lebensphasen, den sogenannten Seasons of Risk (vgl. [Elsesser et al. 2016]). Über die Voraussetzungen und Merkmale guter PrEP-Kommunikation mit medizinischem Fachpersonal sowie mit Sex- und Beziehungspartner*innen wissen wir noch zu wenig (vgl. [Grimm und Schwartz 2019]).

Weitgehend vernachlässigt werden im vorliegenden Heft zudem zukünftige Entwicklungen: Die orale HIV-PrEP mag nur die Vorbotin sein: Gleitgels, Klistiere, Vaginalringe, Dreimonatsspritzen, Implantate usw. zur PrEP werden bereits erprobt und könnten in näherer Zukunft zugelassen werden. Zukunftsbezogen muss man sich auch fragen, wie PrEP-Aufklärung und PrEP-Versorgung zu verbessern sind: Sollte die PrEP in ihren verschiedenen Varianten nicht in Zukunft selbstverständlicher Bestandteil der Sexualaufklärung für alle sein?

Es bleibt also viel Bedarf an weiterer Forschung. Deswegen laden wir Sie herzlich ein, PrEP-bezogene Originalarbeiten, Kommentare und Praxisbeiträge für die kommenden Ausgaben der „Zeitschrift für Sexualforschung“ einzureichen. Zunächst aber hoffen wir, Ihnen mit dem vorliegenden Schwerpunktheft zur HIV-PrEP inspirierenden Lesegenuss zu bieten.

Nicola Döring (Ilmenau)


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Publication History

Article published online:
13 December 2019

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