PiD - Psychotherapie im Dialog 2020; 21(04): 95-96
DOI: 10.1055/a-0987-6198
Resümee
Männer

Wann wird Mann-Sein zum Risiko?

Vielleicht geht es Ihnen nach dem Lesen dieses Themenheftes gerade wie uns: Wir haben einige offene Fragen – vielleicht sogar mehr offene Fragen als klare Antworten.

Beispielsweise: Bin ich als femininer Mann, der mit einer deutlich maskulinen Frau zusammenlebt, in modernen Kategorien queer-feminine oder simply zis? Ist diese Frage eher Ausdruck meines eigenen „männlichen“ Narzissmus, speziell sein zu wollen, oder kommt da meine histrionische „Dramaqueen“-Tendenz zum Vorschein? Sind diese Fragen Ausdruck aufgeschlossener Pseudo-Anbiederung, akademischer Präzision oder selbstvergessener Spiellust?

Gefühlt jede dritte E-Mail aus den USA deklariert mittlerweile die Anrede, wie er oder sie angesprochen werden möchte (z. B. Pronouns: he/him/his). Soll ich dies als Europäer ernst nehmen oder sind es schon auch Auswirkungen einer crazy Präsidentschaft, wo „Grab ‘em by the pussy“ kaum mehr erstaunte? Wie definiere ich meine eigene Geschlechterrolle? Und wie attribuiere ich sie bei anderen – insbesondere bei meinen Patienten? Wo beginnt nature, was ist nuture? Um stereotyp zu bleiben: Sind Männer genetisch dazu prädestiniert, Macht zu missbrauchen? Oder sind die Frauen durch ihre Sozialisation eher für Machtmissbrauch sensibilisiert? Wann wird Mann-Sein zu einer Psychopathologie? Sind dies Fragen, die öffentlich diskutiert werden sollen, oder ist schon die Diskussion selbst zu dichotomisierend? Wann beginnt die Stigmatisierung?

Auf die Therapie angewandt: Wie stark unterliege ich einem kulturellen Stereotyp, wenn ein kosovarischer Patient über Gesundheitsängste klagt? Sind es Symptome einer generalisierten Angststörung? Oder möglicherweise kulturbedingte Somatisierungstendenzen? Oder doch eher Folgen einer Kriegstraumatisierung? Viele Varianten schwirren im Kopf, und möglicherweise entscheidet sich der subjektive erste Eindruck zu früh für eine Variante, ohne den Möglichkeitsraum überhaupt explizit geöffnet, exploriert und verstanden zu haben. Möglicherweise gibt es für die Therapie keine ganz bestimmten Antworten auf diese Fragen und möglicherweise bleibt eher die Strategie, die Uneindeutigkeiten ganz bewusst im Raum unbeantwortet stehen zu lassen?



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Article published online:
20 November 2020

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