Z Geburtshilfe Neonatol 2019; 223(04): 253-254
DOI: 10.1055/a-0967-0739
Die Deutsche Gesellschaft für Perinatale Medizin informiert
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Akademisierung der Gesundheitsfachberufe – notwendige Voraussetzung für eine optimale Patientenbetreuung?

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Publication Date:
20 August 2019 (online)

Kommentar

Die enorm rasche Weiterentwicklung in der Medizin stellt das Gesundheitssystem vor große Herausforderungen. Neue Diagnosemöglichkeiten (Omicstechnologien, pränatale genetische Untersuchungen) und innovative Therapieoptionen wie die Stammzelltherapie, intrauterine Chirurgie und Gentherapie erfordern ein Umdenken und eine intensive Beschäftigung mit den neuen Techniken. Die individualisierte Behandlung des Patienten wird einen hohen Stellenwert bekommen und Nanotechnologien und Künstliche Intelligenz werden unser Gesundheitssystem revolutionieren. Das macht neue Wege im Ausbildungssystem bei allen Gesundheitsberufen erforderlich. Die Akademisierung von Pflegeberufen kann ein möglicher Weg sein. Die Akademisierung von Gesundheitsfachberufen wird derzeit sowohl von Fachgruppen als auch von staatlichen Stellen (Wissenschaftsrat) als ein Allheilmittel zur Lösung von zahlreichen Problemen angesehen.

Eine Optimierung der Ausbildung verbessert zweifelsohne die Patientenbetreuung, das ist nun primär völlig unabhängig von einer Akademisierung und betrifft alle Ausbildungskonzepte. Eine zusätzliche Akademisierung der Ausbildung muss jedoch nicht automatisch zu einer Qualitätsverbesserung führen. Für einen erkrankten Menschen spielt es keine Rolle, ob die Betreuung durch eine habilitierte Fachkraft oder eine optimal ausgebildete Fachkraft erfolgt. Er erwartet eine respektvolle empathische Betreuung auf Facharztstandard. Um optimale Bedingungen für den Patienten vorhalten zu können, sind gut vernetzte flache Teamstrukturen die Grundvorrausetzung für eine optimale Zusammenarbeit. Diese Gesichtspunkte findet man kaum in den Ausbildungskonzepten zur Akademisierung von Gesundheitsfachberufen.

In der derzeitigen Diskussion geht in erster Linie um die Aufwertung und Selbstdarstellung der jeweils betroffenen Fachgruppe und weniger um die Qualität der Betreuung des Patienten. Man versucht von der benachbarten Berufsgruppe möglichst viel an Kompetenz zu übernehmen und erhofft sich dadurch finanzielle Vorteile. Jede Berufsgruppe ist dann „gleich wichtig“, alle sind „akademisiert“ und der Patient muss seine Behandlung mit jeder Berufsgruppe gesondert verhandeln. Eine medizinisch indizierte Geburtseinleitung kann zwar von ärztlicher Seite mit der Patientin besprochen werden, eine Umsetzung kann allerdings erst dann erfolgen, wenn die Pflege auf der Pränatalstation damit einverstanden ist. Im Kreißsaal entscheidet dann die Hebamme, ob das Vorgehen umgesetzt wird. Im Operationsaal bestimmt die akademisierte Operationskraft, welches Instrument der Chirurg nun verwenden darf und welches nicht. Das klingt sehr theoretisch, die ersten praktischen Beispiele aus der Praxis für dieses Szenario sind bereits Realität. Für den Patienten entstehen dadurch Probleme, die er bislang so nicht kannte. Von gegenseitig konkurrierenden Berufsgruppen betreut zu werden, führt zu keiner Verbesserung der Patientenbetreuung. Ein Patient kann kaum entscheiden, welche Berufsgruppe nun im Augenblick tatsächlich die kompetentere Aussage getroffen hat. Hat die durchgeführte Behandlung nicht zum erwünschten Ziel geführt, dann ist auch meist schwierig zu entscheiden, wer denn nun die Verantwortung gehabt hat und wer forensisch dafür zur Verantwortung zu ziehen ist. Die Etablierung von eigenständigen Fachgruppen führt nicht automatisch zu einer besseren Vernetzung in der Zusammenarbeit, sondern sie lässt eher das Gegenteil erwarten.

Die Akademisierung von verschiedenen Berufsgruppen ist zweifelsohne ein wichtiger Baustein, um die Zukunft im Gesundheitswesen besser bewältigen zu können. Es steht auch außer Frage, dass eine Akademisierung der Physiotherapie oder der Hebammenausbildung bereits vor 20 Jahren hätte erfolgen müssen. Eine Anpassung an europäischen Standards wurde hier zu lange versäumt. Allerdings hat man beim Studium von aktuellen Gesetzesvorlagen den Eindruck, es geht z. B. bei der Hebammenausbildung um ein „Medizinstudium-light“. Man kann kaum in 3–4 Jahren die gleiche Kompetenz erwerben wie ein Facharzt in 12–14 Jahren. Akademisierung soll auch die gesamte akademische Laufbahn mit Implementierung der genuinen Forschung einbeziehen. Dafür ist eine Anbindung an die medizinischen Fakultäten mit entsprechend ausgebildetem Lehrpersonal erforderlich bevor ein neues Studium angeboten wird. Ein weiterer wesentlicher Punkt besteht darin, dass das Ausbildungssystem dem vorhandenen Gesundheitssystem angepasst werden muss. Bei der Hebammenausbildung scheint man sich am englischen Gesundheitssystem des NIH orientiert zu haben. Das staatliche, straff organisierte englische Gesundheitssystem orientiert sich in erster Linie an den Kosten und in zweiter Linie am Wohlergehen der Patienten. Dies ist ein möglicher Weg, aber das englische Gesundheitssystem ist den Patienten in Deutschland kaum vermittelbar. Es sollte immer im Vorfeld bedacht werden, mit welchem Ziel die Akademisierung erfolgt, im Zentrum der Überlegungen sollte jedoch immer das Wohlergehen der Patienten stehen. Es gilt dann zu entscheiden, in welchen Bereichen die interdisziplinäre Aufgabenverteilung optimiert und wie die Attraktivität der verschiedenen Berufsgruppen gesteigert werden kann. Sind diese Punkte im konkreten Fall durch eine Akademisierung rascher und zielführender zu lösen, dann ist die Akademisierung natürlich anzustreben. Eine alleinige Akademisierung ohne ein gut ausgearbeitetes Gesamtkonzept führt jedoch nicht automatisch zu einer Verbesserung der Betreuung. Auch die Attraktivität einer Berufsgruppe wird nicht automatisch durch eine Verlängerung der theoretischen Ausbildung erhöht, sondern entscheidend ist die finanzielle Wertschätzung der Berufsgruppen. Der Fachkräftemangel wird nicht durch eine Akademisierung, sondern in erster Linie über die Entlohnung zu lösen sein.

Für eine problemlose Umsetzung der Akademisierung muss im Vorfeld klar geregelt werden, welche Aufgaben die neu geschaffene Berufsgruppe in der interdisziplinären Zusammenarbeit übernimmt. Der Patient darf nicht zum Spielball von konkurrierenden Berufsgruppen werden. Der bestehende Fachkräftemangel im Gesundheitssystem wird zudem nicht über eine Akademisierung zu lösen sein, hier nützt in erster Linie eine bessere finanzielle Honorierung der anspruchsvollen und wertvollen Tätigkeit der Pflegeberufe.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr

Prof. Dr. Franz Kainer, Nürnberg