Nervenheilkunde 2019; 38(10): 782
DOI: 10.1055/a-0949-1178
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Common Sense und Verrücktheit im sozialen Raum

Julian Schwarz
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Publication Date:
15 October 2019 (online)

Thoma S. Common Sense und Verrücktheit im sozialen Raum: Entwurf einer phänomenologischen Sozialpsychiatrie. Köln: Psychiatrie Verlag; 2018. 318 Seiten, 39,00 Euro, ISBN 9–783–884–149–287

Seit geraumer Zeit wird von verschiedenen Seiten die Theoriearmut gegenwärtiger Sozialpsychiatrie kritisiert. Damit verbunden ist der Vorwurf, die Psychiatrie habe ihren gesellschaftspolitischen Impetus verloren. In seiner Arbeit mit dem Titel „Common Sense und Verrücktheit im sozialen Raum“ greift Samuel Thoma diesen Mangel auf und hat dabei nichts Geringeres unternommen, als den „Entwurf einer phänomenologischen Sozialpsychiatrie“ zu schreiben. Dass es sich dabei um ein nicht ganz triviales Unterfangen handelt, wird schon beim Blick in das Inhaltsverzeichnis deutlich:

Das Buch gliedert sich in 2 Teile mit jeweils 7 bzw. 4 Kapiteln. In Teil 1 entwickelt der Autor seine phänomenologische Theorie des Sensus communis. Hier wird schrittweise in grundlegende Begriffe eingeführt. Dies sind allem voran die 3 Dimensionen Gemeinsinn, sozialer Sinn und Common Sense, die den Sensus communis fundieren. Auch wenn dieser Teil sehr klar geschrieben ist, ist er durchaus voraussetzungsreich. Umso einladender ist es, dass der Autor gleich im Vorwort den philosophisch weniger geneigten Leser abholt und eine alternative Lesart vorschlägt. So ist es möglich, nach der Lektüre einer sehr gelungenen Einführung in die historischen Bezüge von phänomenologischer Psychiatrie und Sozialpsychiatrie zu Teil 2 vorzurücken: Hier wird es erheblich anschaulicher, geht es doch darum, den Sensus communis im sozialen Raum zu verorten und diese miteinander „ins Spiel“ zu bringen. Dabei helfen grafische Schemata zu verstehen, wie soziale Räume und Interaktionsmodi des Sensus communis ineinandergreifen.

Leider komplettiert der Autor erst gegen Ende des Buches sein wegweisendes Modell zur Genese psychischer Krisen. Dabei wird das durchaus defizitorientierte Störungsverständnis der Tradition phänomenologischer Psychiater überwunden und durch ein modernes Krisenverständnis ersetzt. Demnach wird Verrücktheit nicht etwa im Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit (Blankenburg), sondern in der Einbuße von angemessen responsivem sozialem Raum ausgemacht. Anhand konkreter Fälle beschreibt der Autor, wie es in der Krise zu einer Verschiebung der Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum komme. Bei einer wahnhaften Entwicklung würde bspw. der private Raum als zunehmend bedrohlich erlebt, weil sich die Sichtbarkeit des Öffentlichen zunehmend ins Private hinein ausdehne. Bemerkenswert ist, dass der Autor bei seinen Schilderungen völlig ohne den Schizophreniebegriff auskommt.

Das Buch endet mit einer Ausführung zur Therapie des sozialen Raums. Hier wird das zuvor entwickelte Modell für innovative psychosoziale Therapieansätze fruchtbar gemacht. Man wundert sich, auf welch organische Weise sich Soteria, Home-Treatment, Open Dialogue und andere Ansätze in das Modell fügen und deren grundlegende Wirkprinzipien daran nachvollziehbar werden.

Thoma ist es mit seinem „Entwurf einer phänomenologischer Sozialpsychiatrie“ gelungen, eine integrative und ökologische Theorie zu entwickeln. Der geneigte Leser bekommt hier keinen theoretischen Überbau für eine „sozialpsychiatrische Basis“, sondern eine Theorie, deren Stärke in ihrer Praxistauglichkeit liegt. Etwas schade ist die teilweise etwas überhöhende Darstellung der phänomenologischen Methode als Wunderwaffe für einen „vermenschlichenden“ Zugang zur Verrücktheit. Es gibt auch andere Methoden der qualitativen Sozialforschung, die Ähnliches zu leisten im Stande sind, z. B. die Ethnografie.

Julian Schwarz, Berlin