Gesundheitswesen 2019; 81(05): 448-452
DOI: 10.1055/a-0915-1359
Stellungnahme zum Leserbrief
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Attributable Fraktionen und vorzeitige Todesfälle: Wichtige Klärung von Missverständnissen

Peter Morfeld
1   Institut und Poliklinik für Arbeitsmedizin, Umweltmedizin und Präventionsforschung der Universität zu Köln
,
Thomas Erren
1   Institut und Poliklinik für Arbeitsmedizin, Umweltmedizin und Präventionsforschung der Universität zu Köln
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Publication Date:
05 June 2019 (online)

Warum ist die „Anzahl vorzeitiger Todesfälle durch Umweltexpositionen“ nicht angemessen quantifizierbar?

Wir danken Plaß und Kollegen für den Leserbrief [1] zu unserem Artikel [2]. Dies gibt uns die Gelegenheit zur Stellungnahme, um Missverständnisse zur attributablen Fraktion AF[1] und ihrer Beziehung zur Anzahl expositionsbedingter vorzeitiger Todesfälle[2] und zu anderen Größen in Environmental Burden of Disease(EBD)-Studien[3] aufzuzeigen, die trotz unserer Bemühungen um Klärung bestehen. Wir fragen:

  • Zeigen Plaß et al. [1] an welchen Stellen die Beispiele in unserem Beitrag nicht einer sachgerechten Anwendung der AF entsprechen?

  • Zeigen Plaß et al. [1] „warum“ unsere Ausführungen „falsch“ sind?

  • Zeigen Plaß et al. [1] „warum“ ihre Ausführungen „richtig“ sind?

  • Ist unser Gedankenexperiment „verzerrend“? Sind unsere Beispiele „vereinfacht“?

  • Ist Kritik an methodischen Werkzeugen, die in Epidemiologie und Public Health regelmäßig angewendet werden, und hier insbesondere an speziellen Verwendungen der AF, gerechtfertigt?

Unsere Antworten „nein – nein – nein – nein – ja“ erklären wir nachfolgend – explizit und implizit.

Vorangestellt sei, dass wir uns nicht gegen eine Verwendung der AF in EBD-Studien wenden, sondern im Gegenteil betonen, dass die insgesamt und im Durchschnitt durch die Exposition verlorene Lebenszeit korrekt mittels der AF bestimmt werden kann (siehe [2]: „Verlorene Lebenszeit: Hier ist die Formel gültig – aber warum?“). Wir wenden uns aber nachdrücklich gegen die Nutzung der AF zur Bestimmung der Anzahl expositionsbedingter vorzeitiger Todesfälle, wie in Schneider et al. [3] (sog. UBA-Studie zu NO2)[4].

Die Autoren des Leserbriefes [1] stellen das Folgende als einen „entscheidenden Kernaspekt“ heraus, weshalb die in [2] geäußerte Kritik an der AF „bei genauerem Hinsehen nicht gerechtfertigt“ sei:

Ein entscheidender Kernaspekt der Methode ist, dass mit der PAF ausschließlich der attributable Anteil berechnet wird, der auf einen Risikofaktor zurückgeführt werden kann. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass alle EBD-Studien nicht die ätiologische, sondern die attributable Fraktion berechnen. Um diesen wichtigen Punkt zu illustrieren, nehmen wir an, dass in einer Bevölkerung von 75 Personen alle Personen eine chronische Lungenerkrankung innerhalb eines bestimmten Zeitraums neu entwickeln. Von diesen Personen hätten 25 (A) die Erkrankung auch ohne NO 2 bekommen, 25 (B) hätten sie auch ohne NO 2 bekommen, aber NO 2 hat die Progression beschleunigt, und 25 (C) hätten sie ohne NO 2 nicht bekommen. Der Anteil der exponierten Bevölkerung, die durch NO 2 geschädigt wurde, ist also (B+C) / 75 also (25+25) / 75=2/3. Dies wäre dann die ätiologische Fraktion – eine Zahl, die das komplette Kausalgeschehen berücksichtigt und die nicht, wie Robins und Greenland zurecht darstellen, mit der PAF berechnet werden kann …. Der Anteil der exponierten Bevölkerung, der in Abwesenheit von NO 2 nicht erkrankt wäre, ist C / 75 also 25/75=1/3. Das ist die attributable Fraktion oder auch ‚excess fraction‘ genannt, bestimmbar mit der PAF-Formel.

Plaß et al. [1] schreiben richtigerweise, dass „die ätiologische Fraktion … nicht … mit der PAF berechnet werden kann“, also kann B+C nicht bestimmt werden. Da Plaß und Kollegen gleichzeitig erklären, dass C bestimmt werden kann, folgt, dass B nicht bestimmbar ist. B ist die Zahl der durch die Exposition vorverlagerten Fälle. Geht es um Todesfälle, wie in Schneider et al. [3], so bezeichnet B die Anzahl der expositionsbedingten vorzeitigen Todesfälle. Die zitierten Ausführungen von Plaß et al. [1] haben somit eine unausweichliche Konsequenz: die Anzahl expositionsbedingter vorzeitiger Todesfälle ist nicht mittels der AF bestimmbar [5]. Genau das ist unsere zentrale Aussage in [2] [6].

Damit könnten wir unsere Stellungnahme zu dem Leserbrief schließen: Gemessen an dem von Plaß et al. [1] genannten Kernaspekt ist unsere Kritik gerechtfertigt.

Darüber hinaus möchten wir aber dazu beitragen, elf weitere Missverständnisse in den Argumentationen von Plaß und Kollegen aufzuzeigen.

  1. Die Autoren des Leserbriefes [1] möchten die AF entgegen bisherigen Darstellungen umdeuten: „Das ist die attributable Fraktion oder auch ‚excess fraction‘ genannt, bestimmbar mit der PAF-Formel. … Das ‚attributable Risiko‘, das auch in der Studie von Schneider et al. verwendet wurde, gibt somit nur den Anteil des Erkrankungsrisikos an, der durch das Entfernen der jeweiligen Exposition gänzlich vermieden werden kann“. Da es in Schneider et al. [3] um Todesfälle geht, besagt dies: die AF misst nicht den Anteil der expositionsbedingten vorzeitigen Todesfälle, sondern den Anteil der Todesfälle, der durch Entfernen der NO 2 -Exposition gänzlich vermieden werden kann. Todesfälle können aber grundsätzlich nicht vermieden werden, denn jeder Mensch muss sterben.

  2. Die Autoren des Leserbriefs [1] möchten sich in dieser Auslegung der AF auf Robins und Greenland berufen: „Sie [Robins und Greenland] stellen zudem fest, dass für die Berechnung der „etiologic cases” die PAF nicht zum Einsatz kommen sollte, gleichwohl jedoch für die „excess cases“ genutzt werden kann“. Dies dreht die Feststellung in ihr Gegenteil. Um dies zu sehen, legen wir zunächst klar, wie Schneider et al. die AF bestimmt haben, nämlich als ‚hazard fraction‘, d. h. berechnet auf Basis des ‚hazard ratio‘: „Für die Berechnung wurde ein gepooltes Hazard Ratio von 1,030 (95%-Konfidenzintervall: 1,010–1,050) für einen Anstieg des NO2 um 10 μg/m³ … verwendet“ [3]. Nun die tatsächliche Aussage von Robins und Greenland: „One measure, which we call the excess fraction … Another measure, which we call the etiologic fraction … A third measure, which we call the hazard fraction … We have documented that these measures can be very far from one another in epidemiologic settings“ und weiter: „The excess fraction is not a useful measure if when the outcome occurs … is important … the excess fraction is always zero (and is thus a vacuous measure) whenever the outcome inevitably occurs“ [8]. Robins und Greenland sagen also, dass die ‚hazard fraction‘ von der ‚excess fraction‘ weit entfernt sein kann und die Bestimmung von ‚excess cases‘ bei Todesfällen immer zum Ergebnis „Null“ führt und damit nichtssagend ist („vacuous measure“).

  3. Plaß et al. [1] stellen in Bezug auf unser AF-Beispiel in [2] fest: „Die PAF ist jedoch keine Maßzahl, die auf eine Einzelstudie (Primärdaten epidemiologischer Studien) angewendet werden sollte… Eine Berechnung innerhalb einer Gruppe von sechs Personen ist also sinnlos, da wichtige externe Informationen zur Berechnung der PAF fehlen“. Diese Aussage trifft nicht zu. Selbstverständlich können Ziel- und Quellpopulation identisch gesetzt werden, und die Quellpopulation kann mit der Kohorte identifiziert werden, in der das relative Risiko bestimmt wird. Darrow [9] beschreibt dieses Vorgehen explizit: „to estimate the PAF for an exposure within the same study population used to estimate the risk ratio. For example, … a cohort study of weight and mortality“. Kowall und Stang [10] gehen so vor, wenn sie Tabelle 1 aufbauen. Die von Plaß et al. [1] gewünschten „externen Informationen“ liegen in dieser Tabelle 1 nicht vor, da sie zur Berechnung und Anwendung der AF nicht notwendig sind, so wie in unserem AF-Beispiel. Siehe auch Fußnote 6.

  4. Plaß et al. [1] bemerken: „Die von Morfeld und Erren dargestellte Berechnungsweise „Man multipliziert die Anzahl aller Todesfälle unter den höher Exponierten mit AF und erhält (vermeintlich) die Anzahl der ‚vorzeitigen Todesfälle‘, auch ‚attributable Todesfälle‘ genannt, d. h. die Anzahl der Todesfälle, die durch den Expositionsunterschied von H zu N verursacht wurden“ entspricht somit nicht dem korrekten Vorgehen bei der Analyse der Krankheitslast. … [YLL, YLD, DALY] werden nicht, wie von den Autoren beschrieben, ausschließlich für Exponierte berechnet, sondern … zunächst unabhängig von der Exposition für die jeweiligen Erkrankungen in der gesamten Bevölkerung“. Hier liegt ein Missverständnis vor. Wir erklären ausdrücklich: „H steht für die Population und entspricht der Bevölkerung in Deutschland“ [2]. Entsprechend fragen wir: „Können wir allein aus den obigen Studiendaten die Anzahl der vorzeitigen Todesfälle unter H ableiten?“ Die „höher Exponierten“ sind also die gesamte Bevölkerung in unserem AF-Beispiel. Und diese Population besteht aus drei Personen, nicht wie Plaß und Kollegen angeben, aus sechs Personen (vgl. Punkt 3). Keinesfalls leidet unsere Rechnung unter einer „nicht fachgemäßen Anwendung spezieller epidemiologischer Methoden“ [1].

  5. Plaß et al. [1] kritisieren unseren Zugang zum Begriff des expositionsbedingten Lebenszeitverlustes: „Stirbt also eine exponierte Person mit 79 Jahren und eine nicht-exponierte Person mit 80 Jahren, so ergäbe sich dadurch ein verlorenes Lebensjahr, das der Exposition zugeschrieben wird. Die Berechnung der verlorenen Lebensjahre, wie sie üblicherweise in Studien zur Krankheitslast stattfindet, basiert jedoch zumeist auf Informationen aus der Todesursachenstatistik und Daten zur Restlebenserwartung und nicht, wie in dem Beispiel dargestellt, auf dem Vergleich von Individualdaten aus einzelnen epidemiologischen Studien“. Der erste Satz bezieht sich auf die Definition des expositionsbedingten Lebenszeitverlusts, wie sie nicht nur bei uns [2] sondern auch z. B. in [5], Abschnitt „Basics of attribution“ zu finden ist. Der zweite Satz handelt dagegen von einer Rechenformel zur Bestimmung dieses Verlustes, anwendbar auch dann, wenn eine direkte Verwendung der Definition nicht möglich ist. Dass diese AF-Rechenformel den expositionsbedingten Lebenszeitverlust ergibt, bedarf eines Beweises, der mittels vollständiger Induktion in [11], Abschnitt 2.3, und abstrakter in [12], Gleichungen (3) und (4), geführt wurde. Plaß und Kollegen vermengen also Definition und Rechenformel.

  6. Plaß et al. [1] schreiben das Folgende – ohne Beweis: „kann die PAF auch auf die Ergebnisse einzelner Altersklassen angewendet werden, was entsprechend eine Zuordnung der Krankheitslast zu den Altersstrata ermöglicht.“ Dies ist im Allgemeinen nicht zulässig. Wir zitieren Robins und Greenland [12]: „We show that, in general, the average years of life lost among exposed subjects dying at a given age (the age-specific expected years of life lost) is not identifiable … We also show that the average years of life lost among all exposed subjects dying of a specific cause (the cause-specific expected years of life lost) is not identifiable.“ Der erste Satz steht im Gegensatz zu dem, was Plaß und Kollegen schreiben. Der zweite Satz betrifft zahlreiche Anwendungen in Schneider et al. [3], wo die gesamte expositionsbedingte verlorene Lebenszeit unangemessen nach Todesursachen aufgeteilt wird als Grundlage für die Bestimmung von erkrankungsspezifischen DALYs z. B. für Diabetes oder Herzinsuffizienz. Dieses Vorgehen ist ungültig (zum Beweis siehe [11], Abschnitte 3 und 4; [12], S. 85, 88, 89).

  7. Plaß et al. [1] deuten unser Einleitungsbeispiel als „verzerrt“: „Entsprechend wären die Noten der Schulkinder mit Informationen zum Alter, Geschlecht oder Todesursachen gleichzusetzen. Die Schlussfolgerung der Autoren aus dem Gedankenexperiment ist, dass anhand ihres Beispiels bewiesen sei, dass es bei der präsentierten Informationslage keine gültige Formel für die Berechnung der PAF gäbe, die eine mathematisch korrekte Lösung des Problems darstelle. … Das von den Autoren gewählte Beispiel verzerrt somit bereits einleitend die Grundlagen“. Diese Darstellung überrascht, denn die Noten entsprechen nicht den Kovariablen sondern dem Gesundheitszustand (‚Note schlechter als Vier‘ entspricht ‚Todesfall‘) und selbstverständlich haben wir nicht anhand des Schulbeispiels gefolgert oder gar „bewiesen“, dass „es keine gültige Formel für die Berechnung der PAF gäbe“. Das Einleitungsbeispiel dient allein der Illustrierung einer Situation, in der eine behauptete Formel offensichtlich ungültig ist, aber die Informationslage nicht ausreicht, um diese Formel zu verbessern.

  8. Plaß et al. [1] führen an, dass es in Publikationen, „auf die sich Morfeld und Erren zur Unterstützung ihrer Argumentation beziehen [19], um gerichtliche Entscheidungen über Entschädigungszahlungen („compensation decisions“) im Rahmen des Berufskrankheitsrechts geht“. Die AF hat verschiedene Anwendungen, nicht nur in EBD-Studien, sie wird auch zur Quantifizierung der Verursachungswahrscheinlichkeit im Berufskrankheitenrecht eingesetzt [13], wo aber die ätiologische Fraktion verwendet werden sollte („the etiologic fraction is equivalent to the probability of causation“ [8]). Tatsächlich betreffen die konzeptionellen Limitationen der AF-Formeln alle Anwendungen. Insofern begrenzt eine ebenfalls irreführende Verwendung der AF in einem anderen Zusammenhang nicht unsere Kritik an ihrem unsachgemäßen Einsatz in EBD-Studien.

  9. Plaß et al. [1] betonen: „Zusammenfassend hat die von Morfeld und Erren vorgetragene Kritik aus unserer Sicht wenig Gehalt und geht an der konkreten Sache vorbei: es geht bei der Anwendung der PAF nicht darum, einzelne Fälle zu identifizieren, die durch eine Exposition ausgelöst wurden“. Um ein Missverständnis auszuräumen: Es geht in unserer Argumentation nicht um die Identifizierbarkeit betroffener Individuen, z. B. eines Herrn Schmitt aus Osnabrück mit einer verkürzten Lebenserwartung durch NO2, und es geht auch nicht um die Identifizierbarkeit solcher Gruppen von betroffenen Menschen. Eine solche Identifikation ist selbstverständlich unmöglich. Unsere Argumentation geht allerdings deutlich darüber hinaus: Weder mit EBD-Methoden noch mit anderen epidemiologischen Ansätzen können wir die Anzahl der betroffenen Individuen identifizieren. Schneider et al. [3] schreiben jedoch, diese Anzahl der attributablen vorzeitigen Todesfälle (bis auf Zufallsfehler) ermittelt zu haben, obwohl die Verfahren dies nicht zulassen. Da man bereits die Anzahl der Betroffenen nicht ermitteln kann, können a forteriori betroffene Gruppen oder gar betroffene Einzelpersonen nicht identifiziert werden. Wir betonen aber, dass man die Identifikation von Individuen und Gruppen nicht mit der Identifikation der Anzahl von Individuen bzw. des Umfangs der Gruppen verwechseln darf. Eine solche Verwechslung ist auch in Stellungnahmen der WHO[7] und des Umweltbundesamtes[8] nicht auszuschließen.

  10. Plaß et al. [1] argumentieren: „Die Anwendung der PAF-Formel in diesem Zusammenhang ist weltweit anerkannt …. Die Ergebnisse solcher Studien wurden in einschlägigen Zeitschriften mit „peer-review“ veröffentlicht“. Gleichwohl ist dies kein hinreichender Beleg für die Richtigkeit der Formel, und in keiner der zitierten Arbeiten ist ein entsprechender Beweis enthalten. Greenland schreibt: „Those assumptions go beyond what can be identified with statistical analysis of epidemiologic data (as exemplified by the assumptions needed to equate rate fractions to etiologic fractions) and hence are often overlooked or misreported in articles and books. When explicated correctly in context, however, they often have no empirical support or plausibility. Explanation of these limitations of causal attribution should be part of core epidemiologic training.“ [5] Wir lesen dies auch als eine Aufforderung an wissenschaftliche Fachgesellschaften, wie z. B. die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie, sich mit dem hier diskutierten Themenfeld auseinanderzusetzen und weit verbreitete Missverständnisse bereits systematisch in der Ausbildung anzugehen.

  11. Plaß et al. [1] beziehen sich auf frühe Arbeiten von Levin [14] und Miettinen [15]: „Das grundlegende Konzept der Formel zur Berechnung der PAF wurde in Artikeln von Levin sowie Miettinen eingeführt (Levin 1953, Miettinen 1974). Die Formel wurde seit der ersten Global Burden of Disease-Studie vermehrt zur Berechnung der Krankheitslast … eingesetzt“. Hier gibt es aber als wichtigen Zwischenschritt die Kritik an Miettinens Arbeit [15] durch Greenland und Robins Ende der 1980er Jahre [8] [16]. Greenland schreibt [5]: „Interestingly, the article that introduced the term ‚etiologic fraction‘ defined it as the proportion of disease attributable to a factor [Miettinen 1974], which is not clearly distinct from the excess caseload“. Dieser Artikel von Miettinen [15] und ein Nichtbeachten der Klärungen von Robins und Greenland [8] [12] [16] könnten zu einer falschen Weichenstellung für die Methodenpraxis in EBD-Studien beigetragen haben.

Plaß und Kollegen betonen in ihrer Diskussion der AF im Zusammenhang mit EBD-Studien zurecht, dass „Voraussetzungen sowie Limitationen sowohl bei der Anwendung als auch bei der Interpretation der Ergebnisse beachtet werden müssenund es ein Ziel sein sollte,die Ergebnisse solcher Studien für politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger verständlich und für Public Health-Fragestellungen besser nutzbar zu machen“, denn PAF-Rechnungen „tragen zur Faktenbasis von politischen Entscheidungen bei“. [1]

In exakt diesem Zusammenhang sollten die Ergebnisse von [2] berücksichtigt werden, die im Wesentlichen auf Beweisen von Robins und Greenland [8] [12] [16] beruhen und sowohl für epidemiologische Studien als auch für EBD-Studien gültig sind:

  • Die Anzahl vorzeitiger Todesfälle, verursacht durch z. B. erhöhte Umweltbelastungen, ist nicht aus epidemiologischen Daten allein bestimmbar: Tatsächlich kann die wahre Zahl viel größer oder kleiner sein als über die AF berechnet;

  • Die Auswirkung von Expositionsänderungen wird durch sog. DALY (Disability Adjusted Life Years) nicht angemessen bewertet;

  • Die Gesamtzahl der verlorenen Lebensjahre verursacht durch Umweltbelastungen kann angemessen mithilfe der AF ermittelt werden, aber nicht ihre Aufteilung in unterschiedliche Todesursachen (Krankheiten) oder Altersklassen.

Dass Anwendungen und Interpretationen der AF, die Robins und Greenland als führende Analytiker bereits in den 1980er Jahren als unangemessen identifiziert haben, sich trotzdem in Epidemiologie und Public Health regelmäßig wiederfinden, ist tatsächlich bemerkenswert. Diese weite Verbreitung, z. B. durch die Global Burden of Disease(GBD)-Studien, bedeutet aber keinesfalls, dass diese Methodenpraxis von EBD-Studien nicht wissenschaftlich hinterfragt werden kann und sollte. Angemessenerweise findet sich in einem aktuellen Kommentar im Lancet: „[w]hile acknowledging the huge achievements and value of GBD risk estimates, it is vital to be critical to further improve credibility of outputs.“ [17] Unser Ziel war und bleibt eine transparente wissenschaftliche Analyse und Diskussion der benannten methodischen Vorgehensweisen, auch um zu einem begründeten ‚Paradigmenwechsel‘ in dieser ‚etablierten‘ EBD-Methodenpraxis beizutragen.

 
  • Literatur

  • 1 Plaß D, Tobollik M, Devleesschauwer B, Grill E, Hoffmann B, Hurraß J, Künzli N, Peters A, Rothenbacher D, Schneider A, Wichmann H, Wintermeyer D, Wolf J, Zeeb H, Straff W. Beitrag von Morfeld and Erren: Warum ist die „Anzahl vorzeitiger Todesfälle durch Umweltexpositionen“ nicht angemessen quantifizierbar? – Kritik an Population Attributable Fraction bei genauerem Hinsehen nicht gerechtfertigt. Gesundheitswesen 2019; 81: 377-380
  • 2 Morfeld P, Erren TC. Warum ist die „Anzahl vorzeitiger Todesfälle durch Umweltexpositionen“ nicht angemessen quantifizierbar?. Gesundheitswesen 2019; 81: 144-149 doi:10.1055/a-0832-203
  • 3 Schneider A, Cyrys J, Breitner S et al. Quantifizierung von umweltbedingte Krankheitslasten aufgrund der Stickstoffdioxid-Exposition in Deutschland. Abschlussbericht im Auftrag des Umweltbundesamtes, überarbeitete Version (Februar 2018). Herausgeber: Umweltbundesamt 2018 ISSN 1862-4340. https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/quantifizierung-von-umweltbedingten
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  • 8 Robins JM, Greenland S. Estimability and estimation of excess and etiologic fractions. Statistics in Medicine 1989; 8: 845-859
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  • 10 Kowall B, Stang A. Stolpersteine bei der Interpretation des populationsattributablen Risikos. Gesundheitswesen 2018; 80: 149-153
  • 11 Morfeld P. Years of Life Lost due to exposure: Causal concepts and empirical shortcomings. Epidemiologic Perspectives & Innovations: EP+I 2004; 1: 5 URL http://www.biomedcentral.com/1742-5573/1/5
  • 12 Robins JM, Greenland S. Estimability and estimation of expected years of life lost due to a hazardous exposure. Statistics in Medicine 1991; 10: 79-93
  • 13 Morfeld P, Piekarski C. Anerkennung von Berufskrankheiten aus Sicht der Epidemiologie – Missverständnis und Missbrauch des Kriteriums der Risikoverdopplung. Zbl Arbeitsmed 2001; 51: 276-285
  • 14 Levin ML. The occurrence of lung cancer in man. Acta Unio Int Contra Cancrum 1953; 9: 531-541
  • 15 Miettinen OS. Proportion of disease caused or prevented by a given exposure, trait, or intervention. Am J Epidemiol 1974; 99: 325-332
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  • 17 Forouhi NG, Unwin N. Global diet and health: old questions, fresh evidence, and new horizons Lancet 2019; published online April 3. http://dx.doi.org/10.1016/S0140-6736(19)30500-8