intensiv 2018; 26(06): 282-283
DOI: 10.1055/a-0671-2434
Kolumne
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Für Gertrud

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Publication Date:
05 November 2018 (online)

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(Quelle: Paavo Blåfield)

„Es ist gut, wenn wir die nicht immer kennen, für die wir arbeiten.“

(Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), deutscher Dichter)

Als ich in die hohen Weihen der Krankenpflege, um ehrlich zu sein in die der Kinderkrankenpflege, eingeweiht wurde, war sie ein Mädchen von neun Jahren. Vielleicht wusste sie zu dieser Zeit schon, dass sie einmal Krankenschwester sein würde. Vielleicht träumte sie aber damals noch von einem Leben auf dem Bauernhof oder wollte Tierärztin, Tänzerin, Musikerin oder Lehrerin werden.

Kennengelernt habe ich sie 1995. Ich kam aus einem großen Krankenhaus aus Ostberlin, hatte den real existierenden Sozialismus, die Wende und fast 20 Dienstjahre hinter mich gebracht und glaubte, zumindest im Beruf schon alles gesehen und erlebt zu haben. Zuvor hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie eine Privatklinik von innen gesehen. Dort traf ich dann auf eine moderne, taffe, resolute und ein bisschen Angst einflößende junge Frau. Gertrud. Sie machte vom ersten Moment dem Synonym ihres Namens alle Ehre. Gertrud – starker Speer. Im Sternzeichen Zwillinge und im Jahr des Feuerpferdes geboren. Dafür, dass sie mit Donald Trump an einem Tag Geburtstag hat, kann sie ja nun wirklich nichts.

Ich sollte ihre Stellvertretung auf einer wirklich schönen Intensivstation werden, und nachdem sich die ersten wechselseitigen Eindrücke relativiert hatten (wahrscheinlich war auch ich ein Schock für sie), gelang es uns sehr schnell, ein gutes Miteinander zu finden. War doch für mich von nun an alles ganz anders als vorher. Sie hat mich in die wirklich merkwürdigen Geheimnisse dieser Privatklinik mit ihrer ganz besonderen Betriebsphilosophie eingewiesen und mir auch nach einer kurzen, aber sehr intensiven Lernphase anfängliche Ängste genommen. Damit hat sie auch sicherlich meinen späteren Leitungscharakter geprägt. Irgendwann haben sich dann unsere Wege getrennt. Sie ist in eine andere Klinik gegangen, und ich bin geblieben.

Zehn Jahre später. Es war Zeit für mich, eine neue berufliche Aufgabe zu finden. Ich bewarb mich in der Schön-Klinik und traf sie wieder. Da bekam der Satz „Man sieht sich immer zweimal im Leben!“ endlich mal einen Sinn – und in unserem Fall einen positiven noch dazu. Sie wurde wieder und ist immer noch meine Vorgesetzte, als Pflegedienstleitung dieser Klinik. Und es hatte sich viel in diesen Jahren bei ihr getan. Sie heißt nicht mehr Gertrud N., sondern Gertrud W. (wobei ich übrigens Jahre gebraucht habe, um mir ihren neuen Namen zu merken, und über die Schreibweise stolpere ich heute noch!). Sie hatte zwei Kinder bekommen und sich in den letzten Jahren auf der Karriereleiter beständig hochgearbeitet. Wirklich schön war es bei dieser neuerlichen Begegnung, dass wir keine einzige sprachlose Sekunde hatten. Es war, als hätten wir erst vor wenigen Wochen das letzte Mal miteinander gesprochen.

Nun arbeiten wir seit zwölf Jahren wieder zusammen. Gertrud smart, streng, sehr professionell und businesslike und eine Frau mit Visionen für die Pflege. Eines ihrer größten Anliegen ist es, die Position der Pflege, als die größte Berufsgruppe im Haus, zu stärken. Sie wünscht sich Wertschätzung für uns und spricht oft von Augenhöhe zwischen Pflegekräften und Ärzten. Sie stellt offensichtlich an sich, aber auch an uns hohe Ansprüche. Sie fördert und fordert und macht auch keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung, wenn wir im Leitungsteam nicht liefern. Sie ist immer wieder für einige, vor allem für junge Mitarbeiter, ein bisschen Angst einflößend. Und ich weiß, dass sie das weder hören noch glauben möchte.

Ich habe mal grob überschlagen und komme tatsächlich auf mehr als 500 Leitungssitzungen, die ich erleben durfte oder musste. Ich glaube, nur der Bundestag hat eine höhere Sitzungsdichte vorzuweisen. Apropos Bundestag. Diesem würde eine Gertrud als Präsidentin sehr guttun. Ich sehe immer mit großem Erstaunen, wie unsere Abgeordneten, wenn überhaupt anwesend, während dieser Sitzungen umherlaufen, dazwischenrufen, sich unterhalten oder mit dem Smartphone spielen und nur halbherzig von Herrn Schäuble oder Frau Roth zur Räson gerufen oder mit der Glocke um Aufmerksamkeit gebeten werden. Bei Gertrud reichen Blicke völlig aus. Und unentschuldigtes Fehlen – bei uns undenkbar.

Ich weiß, dass einige Kollegen im Leitungsteam denken, dass ich durch diese lange Bekanntschaft mit ihr Vorteile habe. Aber ich kann alle beruhigen. So ist es nicht. Auch wir haben unsere „Kämpfe“. Ich bereite mich immer auf irgendwelche Treffen vor und muss wie alle anderen argumentieren, rechtfertigen und liefern.

Aber bei all der Funktion als Pflegedienstleitung, die von einem Termin zum anderen hetzt, gern mal um Mitternacht Mails beantwortet, telefonisch kaum zu erreichen ist und selten etwas vergisst, kenne nicht nur ich sie auch ein bisschen anders. Als lustige Frau, die ihre Kinder und – davon gehe ich mal aus – ihren Mann liebt, die gern tanzt, Freundschaften pflegt, sich politisch interessiert, gern reist, die Weihnachtskränze bastelt und Motivtorten backt. Offiziell ist sie ja Nichtraucherin, aber wenn sie doch mal eine möchte, dann raucht sie meine Zigaretten. Das toleriere ich ausgesprochen gern. Wenigstens können wir jetzt aufrecht auf dem von der Klinik uns großzügig zugestandenen und dennoch etwas kläglichen Platz stehen. Das war bei unserem ersten gemeinsamen Arbeitgeber ein bisschen anders.

Jetzt hat sie 20-jähriges Betriebsjubiläum. In einer Ehe wäre es die Dornenhochzeit. Ich hoffe, sie blickt nicht nur auf eine dornenreiche Zeit zurück.

In dieser Kolumne habe ich ja noch keine einzige Statistik bemüht. Aber ich glaube, mit dieser langen Betriebszugehörigkeit und der langen Zeit als Pflegedienstleitung überschreitet sie die durchschnittliche Verweildauer in diesem Job und im Gesundheitswesen sowieso um Längen.

Ich weiß nicht so genau, wie und was ich ihr jetzt wünschen soll. Toi, toi, toi für die nächsten 20 Jahre?! Auf jeden Fall muss ich Herrn von Goethe heute mal widersprechen.

Gertrud, es ist schön, dass ich Dich kenne!

In diesem Sinne Ihre

Heidi Günther
hguenther@schoen-kliniken.de