GGP - Fachzeitschrift für Geriatrische und Gerontologische Pflege 2018; 02(05): 198-199
DOI: 10.1055/a-0666-2286
Kolumne
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Eine Herzensangelegenheit

Sabine Hindrichs
Further Information

Publication History

Publication Date:
16 October 2018 (online)

Gerade deshalb ein Beruf zum (Ver-)Lieben!

Es ist Samstagnachmittag gegen 15 Uhr, wunderschönes Wetter, und ich suche wie immer hier in Stuttgart einen Parkplatz. Mein heutiger Auftrag für das Betreuungsgericht in Stuttgart: ein Verfahrenspflegeeinsatz als pflegerechtlicher Beistand für eine ältere Dame, die in einer Senioreneinrichtung hier in Stuttgart lebt. Der Parkplatz ist endlich gefunden und ich mache mich auf den Weg in die Einrichtung. Der Weg führt durch eine sehr gepflegte, behindertengerechte und liebevoll gestaltete Außenanlage. Es gibt einige Sitzmöglichkeiten, auf denen in kleinen Gruppen, aber auch vereinzelt zumeist ältere Menschen entspannt sitzen, plaudern oder einfach die Sonne genießen. Der eine oder andere raucht eine Zigarette. Ich grüße die Menschen, an denen ich vorbeigehe, und erhalte ein freundliches Nicken und mitunter auch eine Erwiderung. Ich trete vor die Eingangstür, die sich automatisch öffnet, betrete die sehr geräumige, offene und helle Eingangshalle und tauche ab in eine andere Welt, eine Welt der 50er Jahre. Die beschwingte Musik der 50er umhüllt mich, fängt mich ein, ich bleibe stehen und staune. Menschen jeden Alters sitzen, stehen oder tanzen. Ein buntes Treiben von Rollatoren, Rollstühlen und Kinderwagen zwischen Tischen und Stühlen. Ein Plakat an der Wand informiert mich, dass heute der Tanzcafé-Nachmittag dem Motto „50er Jahre“ gewidmet ist.

Ich bedauere es ein wenig, diesen Ort zu verlassen, und mache mich auf die Suche nach dem Fahrstuhl, der mich zum Wohnbereich Sonnenschein bringt. Der Wohnbereich Sonnenschein empfängt mich, wie sein Name verspricht: die Wände sind in einem warmen Gelb gehalten und an der Wand gegenüber des Fahrstuhls ist ein riesiges Bild von einem Sonnenblumenfeld. Den Verantwortlichen in dieser Einrichtung gebührt Hochachtung für die Idee und die Umsetzung dieses gut durchdachten Wohn- und Lebensbereichs.

Das Haus ist so gestaltet, dass die Mitte des Wohnbereichs aus einem offenen Innenraum besteht, der sich durch das ganze Haus zieht, sodass alle Bewohner nach unten in die Eingangshalle sehen und an der Musik und dem bunten Treiben trotz der unterschiedlichsten körperlichen und kognitiven Einschränkungen teilhaben können. Die ältere Dame, die ich besuchen will, finde ich zusammen mit einer Mitarbeiterin inmitten des Wohnbereichs. Sie fährt mit ihrem Rollstuhl auf dem Flur hin und her, verweilt an dem einen oder anderen Ort und nimmt dann mit den Füßen die Weiterfahrt mit ihrem Rollstuhl wieder auf. Damit sie bei der selbstständigen Fortbewegung nicht aus dem Rollstuhl fällt, ist sie mit einer Sitzhosensicherung im Rollstuhl gesichert.

Diese Sitzhosensicherung ist der Anlass für meinen Besuch bei der älteren Dame. Das Anwenden einer Sitzhosensicherung gilt als freiheitseinschränkende Maßnahme und bedarf einer richterlichen Genehmigung. Mein Auftrag als pflegerische Verfahrenspflegerin ist, für die Richterin im Vorfeld zu prüfen, ob diese Maßnahme angemessen und erforderlich ist, und ob sie entsprechend den gesetzlichen Rahmenbedingungen fachgerecht angewendet wird. Als pflegerechtlicher Beistand für die ältere Dame vertrete ich nicht nur ihre Interessen, sondern berate darüber hinaus die beteiligten Parteien, die Angehörigen und die Einrichtung hinsichtlich Einschränkungen und Gefahren, die es bei der Anwendung von freiheitseinschränkenden Maßnahmen geben kann, und welche alternativen Maßnahmen möglich sind. Im Falle der älteren Dame ist die eingesetzte Sitzhosensicherung im Rollstuhl eine geeignete pflegerische Interventionsmaßnahme, die es ihr ermöglicht, sich selbstbestimmt und selbstständig mit ihrem Rollstuhl fortzubewegen. Dies werde ich der Richterin so weitergeben.

Ich erlebe im Rahmen meiner Tätigkeit zumeist Kollegen in der Pflege, die sich verantwortungsbewusst mit dem Für und Wider einer freiheitsentziehenden Maßnahme auseinandersetzen, um für ihre Bewohner gute Lösungen zu finden, damit diesen die größtmögliche Selbstbestimmung und Selbstständigkeit ermöglicht wird. Dieses Erleben steht so ganz im Gegensatz zu dem, wie Pflege leider allzu oft in der Öffentlichkeit dargestellt wird. Aber genau so kann Pflege sein und findet in der Realität auch Tag für Tag statt. Für mich ist dies zum einen die Bestätigung, dass ich mit meiner (Wunsch-)Vorstellung von Pflege nicht allein bin, und zum anderen, dass wir dieser Pflege mehr Raum geben und sie bekannt machen müssen. Auch, um Mitstreiter zu finden und sie für unsere Idee von Pflege zu begeistern. Nur so, glaube ich, können wir Menschen dafür gewinnen, diesen Beruf zu ergreifen, und Kolleginnen und Kollegen überzeugen, im Beruf zu bleiben. Natürlich müssen auch die anderen Rahmenbedingungen, wie ein leistungsgerechter Lohn und bedarfsgerechte Personalschlüssel stimmen. Aber ohne dass wir selbst unseren Beruf lieben und eine Vorstellung von „lebenswerter Pflege“ entwickeln, können wir nicht erwarten, dass sich die öffentliche Darstellung und Wahrnehmung von Pflege zum Positiven hin ändert.

Für mich kann ich sagen, dass ich bei meiner täglichen Arbeit, die mich in die verschiedensten Einrichtungen in Deutschland führt, Pflege und Betreuung erlebe, die trotz aller Erschwernisse alles versucht, um pflegebedürftigen Menschen ein Zuhause zumeist in ihrer letzten Lebensphase zu geben, in dem sie sich wohl, umsorgt und geborgen fühlen können.

Dafür zu stehen und zu kämpfen, ist eine absolute Herzensangelegenheit für mich.

Ihre

Sabine Hindrichs
sabine@hindrichs-pflegeberatung.de