Der Klinikarzt 2018; 47(05): 190-191
DOI: 10.1055/a-0628-1600
Editorial
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Aktuelle Paradigmenwechsel in der Anästhesiologie

Bernhard Zwißler
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Publication Date:
23 May 2018 (online)

Die in diesem Heft vorliegenden Beiträge weisen – trotz sehr unterschiedlichem inhaltlichen Focus – eine Gemeinsamkeit auf: Sie beschäftigen sich mit Themen, bei denen sich Vorgehen bzw. Betrachtungsweisen in den zurückliegenden Jahren ganz erheblich bis hin zu echten Paradigmenwechseln verändert haben. Das Spektrum reicht hier von der präoperativen Risikoeinschätzung und Diagnostik über die Rolle der Sonografie in unserem Fachgebiet bis hin zur Erkenntnis, dass eine lange Zeit vermeintlich harmlose postoperative Komplikation wie das Delir das Outcome nach Operationen massiv negativ beeinflussen kann und daher viel gezielter als bisher adressiert werden muss.

Tomasi et al. geben in ihrem Beitrag (S. 192) zunächst eine Übersicht über die modernen Strategien zur präoperativen Risikoevaluation, die erst jüngst in einer gemeinsamen Publikation der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie sowie der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin im Jahr 2017 als Handlungsempfehlung vorgelegt wurden. Waren vor 10–20 Jahren – in der vermeintlichen Annahme, hierdurch die perioperative Sicherheit des Patienten zu erhöhen und Komplikationsraten zu senken – die routinemäßige Durchführung von technischen Untersuchungen wie EKG, Röntgen-Thoraxaufnahme sowie meist ein umfangreiches ‚Labor‘ der Standard, so ist diese Herangehensweise heute obsolet.

Wir haben gelernt, dass ein ungerichtetes Routinescreening ohne relevante Krankheitswahrscheinlichkeit deutlich mehr Nachteile als Vorteile aufweist (z. B. zahlreiche falsch positive Befunde, Komplikationen durch – unnötige – weiterführende Untersuchungen, häufig keine Relevanz für die Operation, unnötige Kosten). Heute gilt es, die präoperative Untersuchung zu individualisieren, wobei Umfang und Ausmaß vom spezifischen Risiko der Operation abhängen, vor allem aber von den durch Anamnese und körperliche Untersuchung erfassten Vorerkrankungen des Patienten. Neu hinzugekommen ist dabei auch die Erkenntnis, dass gerade beim alten Menschen das Ausmaß der Gebrechlichkeit (‚frailty‘) bzw. der Umfang der Abhängigkeit des Patienten von fremder Hilfe im täglichen Leben (‚dependency‘) selbst ohne weitere, konkret fassbare Vorerkrankungen die Wahrscheinlichkeit für Komplikationen im perioperativen Verlauf erheblich erhöhen. Die Umsetzung dieser Erkenntnisse im Bereich der präoperativen Risikoevaluation und Stratefizierung stellt – auch angesichts einer zunehmend alternden Gesellschaft – zweifellos eine der großen Herausforderung für die gesamte operative Medizin dar.

Auch im Bereich der Anwendung der Ultraschall-Technik und deren Einsatzgebieten ist in der Anästhesiologie in den letzten 15 Jahren ein echter Paradigmenwechsel zu beobachten, wie der Beitrag von Siebers et al. zeigt (S. 206). War die Sonografie in der Vergangenheit im Wesentlichen eine Domäne der Inneren Medizin und Chirurgie, so eröffneten technische Weiterentwicklungen zunehmend auch Einsatzmöglichkeiten für die Anästhesiologie. So war es initial die transösophageale Echokardiografie während herzchirurgischer Eingriffe, die es erlaubte, sich rasch ein Urteil über die kardiale Funktion zu bilden und auch dem Herzchirurgen das Ergebnis seiner intraoperativen Bemühungen zu visualisieren. Heute reicht der Einsatz der Sonografie in den Händen des Anästhesiologen über das rein kardiale Monitoring weit hinaus. Die Nervenlokalisation im Rahmen von Regionalanästhesie zählt ebenfalls zum Standard wie die Erleichterung zentraler Venenzugänge. Beides hat sowohl die Sicherheit der jeweiligen Interventionen als auch deren Erfolgsrate und nicht zuletzt den Patientenkomfort (die Anlage von Regionalanästhesien kann unter Bildgebung heute häufig auch am schlafenden Patienten erfolgen) dramatisch verbessert. Weitere Paradigmenwechsel zeichnen sich bereits ab. So wird die Sonografie beispielsweise das Röntgenthoraxbild zur Diagnostik von Pneumothoraces im OP und auf der Intensivstation wohl in wenigen Jahren abgelöst haben. Diese Entwicklungen können nicht ohne Auswirkungen auf die Weiter- und Fortbildung der Ärzte bleiben. Folgerichtig wird die Sonografie daher zukünftig auch in der Weiterbildungsordnung für den Facharzt für Anästhesiologie aufgenommen werden. Dies alles setzt intensive Trainingsprogramme und strukturierte Fortbildungscurricula sowohl für die jüngeren Mitarbeiter, aber auch für bereits erfahrene Ober- und Chefärzte voraus, die sich dieser Technik stellen müssen, wollen sie den Anschluss an die Zukunft nicht verpassen.

Waren die Risikoevaluation und die Ultraschalltechnik eher der Kategorie ‚Diagnostik‘ zuzuordnen, so bedarf das erst in den letzten Jahren in seiner Bedeutung wirklich deutlich gewordene Phänomen des postoperativen Delirs vor allem einer adäquaten Prophylaxe und Therapie. Wir wissen heute, dass das Auftreten eines postoperativen Delirs kein ‚Schönheitsfehler‘ ist, sondern das Outcome der betroffenen, häufig älteren Patienten massiv verschlechtern kann. Wie der Beitrag von Saller et al. zeigt (S. 199), äußert sich das Delir dabei keineswegs nur in hyperaktiven Symptomen. Gerade das hypoaktive Delir ist im Hinblick auf das Outcome genauso bedeutsam, aber schwieriger zu erkennen. Saller et al. beschreiben in ihrem Beitrag, welche Maßnahmen heute systematisch ergriffen werden bzw. ergriffen werden sollten, um ein postoperatives Delir zu erkennen, aber auch welche evidenzbasierten Maßnahmen (es liegt eine aktuelle S3-Leitlinie zu diesem Thema vor) für eine wirksame Prophylaxe sowie Therapie eingeleitet werden sollten.

Insgesamt weisen die vorliegenden Beiträge allesamt auf Entwicklungen und Erkenntnisse hin, die zwar für das Fachgebiet der Anästhesiologie bedeutsam sind, letztlich jedoch Implikationen für den gesamten perioperativen Verlauf haben können (vom Hausarzt bis zum Intensivmediziner) und daher auch für viele andere Fachdisziplinen interessant und relevant sind. Vor diesem Hintergrund wünsche ich Ihnen nun viel Spaß bei der Lektüre.