Fortschr Neurol Psychiatr 2018; 86(04): 211-212
DOI: 10.1055/a-0564-8822
Editorial
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Warum sind Suizide stationärer Patienten so belastend?

Why are suicides of inpatients so burdensome?
Johannes Kornhuber
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Publication Date:
24 April 2018 (online)

Suizide haben verheerende Folgen für die betroffenen Familien, Freunde und die Gesellschaft. Sie belasten auch Therapeuten stark [9]. Manche weigern sich daher, suizidalen Patienten eine Behandlung anzubieten, oder beenden die Behandlung, wenn die Patienten Suizidalität äußern [3]. Was sind die Gründe für die hohe Belastung durch Suizide?

  1. Suizidopfer sind meist körperlich gesund.

  2. In vielen Fachgebieten außerhalb der Psychiatrie sterben mehr Patienten. Dort geht dem Tod jedoch oft ein bekannter und sichtbarer natürlicher Krankheitsprozess voraus. Der Tod nach Schlaganfall oder Leberzirrhose beispielsweise ist dadurch leichter hinnehmbar. Suizide dagegen sind selbst initiiert und werden demzufolge prinzipiell als vermeidbar angesehen. Vergleichbares wird bei posttraumatischen Belastungsstörungen beobachtet: Von Menschen initiierte Handlungen wirken stärker traumatisierend auf die Opfer als die Auswirkungen von Naturkatastrophen.

  3. Der Therapeut kennt persönliche Details und Probleme des Patienten und ist damit typischerweise sehr viel näher an der Person als Therapeuten in anderen Fachgebieten. Dementsprechend wirkt hier der Tod belastender.

  4. Der Therapeut fühlt sich oftmals verletzt und ist enttäuscht, dass der Patient sich ihm trotz aller Bemühungen nicht anvertraut hat.

  5. Da die Möglichkeit der Prädiktion eines Suizids oft überschätzt wird [5], können nach einem Suizid Zweifel an der eigenen klinischen Kompetenz aufkommen.

  6. Sorgen um juristische Konsequenzen nach einem Suizid können belasten.

  7. Und schließlich belasten Kognitionen wie „Was hätte ich anders machen müssen?“.

Weitere Gründe ließen sich sicherlich finden. Bei der Bewältigung eines Suizids hilft es, sich die hier genannten Gründe zu vergegenwärtigen. Manche beruhen jedoch auf falschen Annahmen und kognitiven Verzerrungen.

Bei Punkt 5 handelt es sich um ein Wissensdefizit. Suizide sind auch von Spezialisten und guten Klinikern kaum in sinnvoller Weise prädizierbar [5]. Auch die Kategorisierung der Patienten in solche mit niedrigem und solche mit hohem Suizidrisiko ist nur begrenzt zweckmäßig [5]. „Suizide sind vermeidbar, aber nicht vorhersehbar“ [8]. Zufälle spielen eine bedeutende Rolle [7]. Die präzise Prädiktion suizidaler Handlungen ist nicht möglich und wird vom Arzt auch nicht verlangt. Wir müssen nach sorgfältiger, empathischer, hochqualitativer und leitliniengerechter Behandlung streben und alle Patienten möglichst optimal behandeln. Mit einer solchen realistischen Einschätzung nehmen auch die Sorgen um juristische Konsequenzen ab.

Bei Punkt 7 handelt es sich um einen häufigen Denkfehler, den „Rückschaufehler“, d. h. die Rückwärtsbetrachtung bei Kenntnis des Ausgangs [1], [6]. Damit ist die Tendenz gemeint, bereits eingetretene Ereignisse als wahrscheinlicher einzuschätzen, als sie vor ihrem Eintritt tatsächlich waren. Die Vorhersehbarkeit eines Ereignisses wird zu hoch eingeschätzt. Der Rückschaufehler ist schwer zu vermeiden [2] und scheint mit Expertise des Therapeuten sogar zuzunehmen [4]. Die Rückwärtsbetrachtung bei Kenntnis des Ausgangs ist gerade bei sehr seltenen Ereignissen wie Suiziden wenig sinnvoll. Die Vergegenwärtigung dieser kognitiven Verzerrung hilft nicht nur, die psychische Belastung nach Suizid zu reduzieren, sondern reduziert auch ein Fehllernen durch falsche Assoziationen.

Wer verinnerlicht, dass Suizide kaum prädizierbar sind, und auch nicht dem Rückschaufehler aufsitzt, dem fällt der Umgang mit Suiziden leichter. Suizide sind tragische Ereignisse, die jedoch oft trotz aller Sorgfalt und optimaler Behandlung schwer vorhersehbar und nicht immer vermeidbar sind. Es bewährt sich aus meiner Sicht, die aufgezählten Punkte in den Behandlungsteams nach einem Suizid zu besprechen.

 
  • Literatur

  • 1 Fischhoff B. Hindsight =/ foresight: The effect of outcome knowledge under judgment of uncertainty. J Exp Psychol Hum Percept Perform 1975; 1: 288-299
  • 2 Guilbault RL, Bryant FB, Howard Brockway J. et al. A meta-analysis of research on hindsight bias. J Basic Appl Soc Psychol 2004; 26: 103-117
  • 3 Hawgood J, De LD. Suicide prediction – A shift in paradigm is needed. Crisis 2016; 37: 251-255
  • 4 Knoll MAZ, Arkes HR. The effects of expertise on the hindsight bias. J Behav Decis Making 2016; 30: 389-399
  • 5 Kornhuber J. “Nicht suizidal”: Wie valide ist dieses klinische Urteil?. Fortschr Neurol Psychiat 2016; 84: 607
  • 6 Large M, Callaghan S, Ryan C. Hindsight bias and the overestimation of suicide risk in expert testimony. The Psychiatrist 2012; 36: 236-237
  • 7 Large M, Galletly C, Myles N. et al. Known unknowns and unknown unknowns in suicide risk assessment: evidence from meta-analyses of aleatory and epistemic uncertainty. BJPsych Bull 2017; 41: 160-163
  • 8 Large M, Nielssen O. Suicide is preventable but not predictable. Australas Psychiatry 2012; 20: 532-533
  • 9 Séguin M, Bordeleau V, Drouin MS. et al. Professionals’ reactions following a patient’s suicide: review and future investigation. Arch Suicide Res 2014; 18: 340-362