Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/s-2008-1081547
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Der amerikanische Patient - Nachdenkliches über unser Gesundheitssystem
Publication History
Publication Date:
19 June 2008 (online)

Für die Gesundheit geben die Amerikaner insgesamt mehr als jedes andere Land aus, dennoch sind große Teile der Bevölkerung medizinisch unterversorgt. 47 Millionen Amerikaner leisten sich ärztliche Hilfe nur im Notfall. Dr. Ellen Nolte und Prof. Martin McKee untersuchten, publiziert im Januar 2008 in der Zeitschrift „Health Affairs”, vermeidbare Todesfälle in 19 Industrienationen. Mit 109 vermeidbaren Todesfällen pro 100000 Einwohner sind die USA das Schlusslicht.
Warum? Das ist relativ einfach zu beantworten: Bei einem Klinikaufenthalt von bis zu 60 Tagen beispielsweise beträgt in den USA der Eigenanteil eines Patienten rund 1000 Dollar. Von Tag 61 bis Tag 90 werden 250 Dollar pro Tag fällig, bis zum Tag 150 steigt der Eigenanteil dann auf 512 Dollar täglich, danach trägt der Patient die vollen Kosten. Bei uns sieht das alles noch ganz anders aus: Bis zum 29. Tag zahlen deutsche Patienten täglich 10 Euro zu, danach erlischt die Zuzahlungspflicht. Wer in den USA mit einer Blasenentzündung oder mit Halsschmerzen in die Notaufnahme einer Klinik geht, ist schnell 300 Dollar los. Wesentlich günstiger gibt es die Behandlung in einer Billig-Klinik in Drogeriemärkten und Lebensmittelketten. Für 20-40 Dollar erhält man da von sogenannten „nurse practioners” schnelle Hilfe gegen Allergien, Durchfall, Sinusitis oder Halsweh. Ärzte sind zu teuer.
Noch ist es in Deutschland anders. Besser. Doch wie lange noch? Die Gesundheit ist eines der bedeutendsten Güter für eine Nation. Das hat bereits Bismarck begriffen, als er 1883 das Krankenkassenwesen einführte, denn nur mit gesunden Arbeitern und Soldaten floriert die Wirtschaft und sind Kriege zu gewinnen. Heute, so der Heidelberger Medizinhistoriker Prof. Paul U. Unschuld, bräuchten wir keine Volksheere mehr, und die Manufakturen stünden in China. Dennoch: Prävention ist für eine Volkswirtschaft, die im weltweiten Netz der Globalisierung bestehen muss, bedeutender als Kuration.
Bislang galt der Grundsatz, dass der Staat Gesundheit für jedermann zu garantieren hat. Doch der Staat verscherbelt nicht nur staatseigene Wohnungen und die Bahn, er zieht sich auch vehement aus der Verantwortung für die Gesundheit zurück. Insofern ist es bezeichnend, dass die Politik auch ihr Interesse am Präventionsgesetz still und heimlich begraben hat. Humanität ist im Medizinbetrieb nicht mehr gefragt. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens marschiert zügig voran. Früher galt der Arzt als Anwalt seines Patienten. Heute ist er zum Dienstleister geschrumpft. Und aus seinen Patienten sind über Nacht Kunden geworden. Auch in vielen Kliniken sieht es inzwischen verheerend aus. Die Aktien der Rhön-Kliniken setzen zwar zum Höhenflug an. Kein Wunder: Denn für 2008 erwartet der Klinikkonzern über 120 Millionen Euro Gewinn. Das Kontrastprogramm sind kommunale Kliniken, die am Tropf ihrer Träger hängen oder, inzwischen alleingelassen, tief in die roten Zahlen schlittern. Die Unikliniken stehen finanziell vor dem Ruin.
Bisher hielt ich amerikanische Zustände bei uns in Deutschland für undenkbar, doch fürchte ich, dass wir schnurstracks auf eben diese zusteuern. Staatliche Banken dürfen unter höchster politischer Aufsicht Milliarden verzocken, für die wir Steuerzahler geradezustehen haben. Ungefragt. Was jedoch die Gesundheit betrifft, stiehlt sich der Staat im Eiltempo aus der Verantwortung.