Aktuelle Dermatologie 2008; 34(11): 437-441
DOI: 10.1055/s-2008-1077711
Von den Wurzeln unseres Fachs

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Haut und Kultur

Auch ein Gang des GeistesSkin in Cultural Studies to Trace the Spirits WayE.  G.  Jung
Further Information

Prof. Ernst G. Jung

Maulbeerweg 20
69120 Heidelberg

Email: Ernst.G.Jung@t-online.de

Publication History

Publication Date:
03 November 2008 (online)

Table of Contents #

Einleitung

Die Haut mit ihren Anhangsgebilden ist das größte Organ des Menschen und sie sticht dem Betrachter ganz vordergründig ins Auge. Sie prägt unsere äußere Erscheinung, dient der Selbstdarstellung und erlaubt individuelles Erkennen. Bei allen Formen menschlichen Erkennens ist unsere Haut „mit von der Partie”. Sie ist unmittelbar beteiligt bei der Erfassung eines Menschen im Bild, also in Malerei, Fotografie und Film, und sie dient maßgeblich der literarischen Schilderung eines solchen in Wort und Schrift.

So finden sich in der Malerei, aber auch in der Literatur, über Dekaden hinweg Hautveränderungen und Krankheiten an der Haut dargestellt, wobei es dahingestellt sein mag, oder exakter Analyse bedarf, ob der Maler solches gezielt und willentlich darstellte, ob ihm dies im Zuge exakten Porträtierens unterlief oder ob er hervorhebend und karikierend wirken mochte.

Die medizingeschichtliche und dermatologische Literatur ist reichlich bestückt mit Einzeldarstellungen und Gruppenbildern einschlägiger Hautbefunde. Diese sind naturgemäß oft im Gesicht. Zusammenfassende Darstellungen liegen in deutscher Sprache aus Ost [1] und aus West [2] vor und dokumentieren meisterlich die enorme Vielfalt. Es ist schwierig und oft müßig, anhand der Bilder exakte dermatologische Diagnosen zu wagen. Dieses begreifliche und doch meist sehr fragwürdige Unterfangen wird nicht wesentlich bestärkt, wenn in einzelnen Fällen zeitgenössische Informationen und Kenntnisse über die dargestellten Personen zu Hilfe genommen werden können. Man kann davon ausgehen, dass die Künstler nur in seltenen Fällen explizit Hautkrankheiten darstellen wollten. Die Malerei unterscheidet sich damit eindeutig und entscheidend von allen Formen der Bilddokumentation in medizinischen und besonders in dermatologischen Lehrbüchern, und ebenso von den Anliegen der Moulagensammlungen [3]. Damit ist den fachspezifischen Darstellungen keineswegs genommen, dass sie sehr ansprechend sind und zuweilen auch künstlerischen Ansprüchen genügen. Medizinhistorische Kollegen und entsprechende Exponenten der klinischen Fachrichtungen sind sich weitgehend einig, dass retrograde, oft über Jahrhunderte zurückblickende Diagnostik anhand von Bildern kaum je modernen diagnostischen Ansprüchen genügen kann.

#

Die Haut als Spiegel der Seele

Dieser Bereich der retrograden Diagnostik bildhafter Darstellung schien weitgehend ausgelotet und ausgeschöpft. Die Bemühungen um die dermatologisch-kulturellen Interaktionen wandten sich vor einigen Jahrzehnten zunehmend den psychosomatischen Bereichen zu. Ausgehend von einer beliebten Sichtweise von uns Dermatologen, Hauterscheinungen mit Bezügen zu Erkrankungen innerer Organe zu sichten, zu ordnen und in ihrer monitorischen, ergänzenden oder komplizierenden Deutungskraft zu werten, wird Psyche und Haut besonders betrachtet und korreliert. „Die Haut als Spiegel der Seele” gilt es zu ergründen. Psychosomatische Aspekte der Dermatologie werden erarbeitet und betont. Haut und Hirn also mit phylogenetischem Bezug auf den gemeinsamen ektodermalen Ursprung. Psychodermatologie wird etabliert und fruchtbar betrieben.

Grundlegende Impulse kommen aus Frankreich vom klinischen Psychologen Didier Anzieu, der in seinem Buch „Le Moi-peau” 1985 (Deutsche Ausgabe 1991, [4]) das Problem aus zwei Quellen erschließt: aus der griechischen Mythologie und aus dem Sprachgebrauch, wenn er „Haut” vielfältig als Symbol oder Metapher einsetzt. Die Haut gibt Form, Aspekt, bildet Grenze, ist Organ der Empfindung, des Schmerzes und bei Verlust zerläuft die Persönlichkeit gleichsam. Also Decke, Dekor und Deutung! Der Mythos vom geschundenen Satyr Marsyas ist eine zentrale Figur, an welcher Anzieu neun mythologische Schlüsselelemente (sog. Mytheme) ausmacht. Als praktisch tätiger Psychologe belebt er den theoretischen Ansatz mit Fallbeispielen, wobei er auf Sigmund Freud basierend die Psychoanalyse zum Beleg der Theorie nutzt, wie auch zur eigentlichen Behandlung.

In unserem Sprachraum hat sich der daseinsanalytische Psychosomatiker Gian Condrau aus Zürich mit dem kulturanthropologischen Medizinhistoriker Heinrich Schipperges aus Heidelberg zusammengetan und 1993 Grundsätzliches festgehalten. „Unsere Haut, Spiegel der Seele und Verbindung zur Welt” [5] geht ebenfalls von den mythologischen Zusammenhängen aus, sowie von der hermeneutischen Erkundung landläufiger Volksweisheiten und Sprichwörter, was wahrhaftig „unter die Haut geht”. Zudem wird eine „Philosophie der Haut” angesprochen, der Oberfläche also, der Grenzfläche und deren Bearbeitung. Die Häutung wird, im Gegensatz zum „Marsyas-Mythos”, als Metapher für Reifung, Verjüngung und Metamorphose gesehen, dem Symbol der Schlange folgend. Auch sie versuchen, den theoretischen Part mit praktischen Beispielen zu belegen. Erstmals wird versucht, auf beiden Seiten diagnostische Ordnung einzubringen, bei den seelischen Leiden und bei den Hautkrankheiten.

Es folgen 2001 zwei kostbare Fundgruben. Hannelore Mittag [6] stellt als Produkt einer Ausstellung an der Universität Marburg die Haut äußerst vielfältig dar im medizinischen und im kulturgeschichtlichen Kontext. Claudia Benthien [7] erweitert die Sicht um Literaturgeschichte und Psychologie und sie setzt den Gedanken der „Philosophie der Haut” fort mit Ausführungen zu Körperbildern und als Grenzdiskurs. Damit ist eine enorme Breite und Tiefe der Kulturgeschichte der Haut aufgetan und zur Diskussion gestellt. Hier schließen sich Versuche einer „Kleinen Kulturgeschichte der Haut” an, wie sie Heinrich Schipperges 1968 [8] und der Autor 2007 [9] herausgaben. In die gleiche Richtung zielen die vielgestaltigen Bemühungen der Zürcher Dermatologen Günter Burg und Michael Geiges [10] [11].

In den vergangenen drei Jahrzehnten fanden enorme Anstrengungen statt, psychosomatische Zusammenhänge und Regelhaftigkeiten zwischen Psyche und Haut resp. deren Erkrankungen zu ergründen und festzuhalten. Ohne klare Diagnose der psychosomatischen und psychiatrischen Erkrankungen auf der einen Seite und exakte Klassifizierung der Hautkrankheiten andererseits kommt man nicht weiter. Dies ist gesichert. Die Phase allgemeiner Zusammenhänge, Bezüge und Ausschlüsse ist überwunden. Zusammengefasst wird 2002 der Stand der Klärung durch ein bemerkenswertes Buch des Wiener Dermatologen Fritz Gschnait mit dem Medizinjournalisten Wolfgang Exel unter dem Titel „Haut und Seele” [12], das gesichertes Wissen klar von den als Mythen bezeichneten falschen Ansichten scheidet. Viele Mosaiksteine sind zusammengetragen worden, um das gesicherte Wissen zu mehren und Falsches zu verwerfen. Zwei Klarheiten sind von besonderer Bedeutung und verdienen hervorgehoben zu werden, die beide am besten anthropologisch zu deuten sind:

Wir Menschen haben ausgesprochen geeignete Instrumente und Fähigkeiten, Stresssituationen zu bewältigen und sogar biopositiv zu gestalten, während uns die Fähigkeit weitgehend abgeht, Störungen der Rhythmen (Tag-Nacht, Monate, Jahreszeiten, Lebensabschnitte etc.) zu bewältigen und zu nutzen.

Bei chronischen Hautkrankheiten (Neurodermitis atopica, Psoriasis vulgaris) führt die wiederkehrende Herausforderung durch die Erkrankung und deren Bewältigung zumeist zu einem biopositiven „Schulungseffekt”, der auch anderen Lebensbereichen zugute kommt.

Für die Zukunft steht die biochemische und immunologische Ergründung der „Geisteskrankheiten” an, wozu die kombinierten bildgebenden Verfahren mit funktioneller und lokalisatorischer Kompetenz bereitstehen, um Beziehungen zu den ebenfalls zu charakterisierenden Hautkrankheiten auf ganz neuer, naturwissenschaftlicher und damit rationaler Basis zu suchen. Ein Licht scheint aufzugehen!

#

Qualitäten des Lebens in der Kunst

Neuerdings genießen Themenbücher steigendes Interesse, so 2004 die Monografie des Semiotikers und Kulturanthropologen Umberto Eco aus Bologna mit einer künstlerischen Darstellung der Geschichte der Schönheit [13]. Vom selben Autor erschien 2007 eine „entgegengesetzte” Monografie über die Geschichte der Hässlichkeit [14]. Auffallend ist die enge, wenn auch nicht zwingende Verknüpfung der Schönheit mit der Jugend und eine solche der Hässlichkeit mit dem Alter. Das war nicht immer so. Seit der Antike gibt es zwei Reflexionen des Alters, die der Verwerfung durch Aristoteles und diejenige seiner Wertschätzung seit Cicero. Die Betrachtungsweisen wechseln sich ab. Die Positivierung des Alters im 18. und 19. Jahrhundert wurde im 20. Jahrhundert wieder zurückgenommen. Der Literaturwissenschaftler Helmut Kiesel sieht den Bedeutungszuwachs des Expressionismus mit seiner „Ästhetik des Hässlichen” dafür verantwortlich und die demografische Entwicklung [15]. Beide Pole, Schönheit und Hässlichkeit, basieren weitgehend auf dem ersten Eindruck des Betrachters, und damit auf dem Aspekt der Haut und ihrer Anhangsgebilde. Erst in zweiter Linie, oft nach übergreifenden Reflexionen, werden vielfältige und verarbeitete Werte dazu gesellt. Dennoch bleibt das Verdikt „Alter bringt Hässlichkeit” und „Hässlichkeit bedeutet Alter”. Man versucht also die Zeichen des Alters zu verzögern oder gar zu verhindern mit vielfältigen Bemühungen zum „anti-aging”. Altersbedingten und krankhaften Hautveränderungen werden mit pflegerischen, mit biologischen und invasiven Methoden gegengesteuert oder sie werden entfernt. Dies betrifft die Haut, die Anhangsgebilde, die Unterhaut und die Fettpolster nicht minder. Die Ansprüche und Wünsche übersteigen bei Weitem die Möglichkeiten und die unerwünschten Effekte werden verharmlost. So führt der Schönheitsdrang zum Jugendwahn.

Auch das Alter und das Altern waren und sind Gegenstand vielfältiger Darstellungen, wobei 2008 die Frage „Was ist Alter(n)?” zu beantworten versucht wird [15]. Auch hier gibt es neue Monografien über die bildhafte Darstellung des Alters in der Kunst durch den Dresdner Dermatologen und Medizinhistoriker Albrecht Scholz [16] sowie eine umfassende Darstellung der Kulturgeschichte des Alters 2005 durch die Londoner Professorin für Zeitgeschichte Pat Thane [17]. Es wird klar, dass die Kulturgeschichte gegenwärtig die Verwerfung des Alters als „bionegativ” und hässlich befördert. Es wird sogar noch weiter gegangen, indem eigentliche Krankheiten an und in der Haut nicht als solche erkannt und dargestellt werden, sondern als Metaphern des Alters, des vorzeitigen Alterns, eingebunden werden in die deletäre Anprangerung des Alterns. Der Dermatologie obliegt es, solche Übergriffe zu erkennen und zu bezeichnen, wie anhand von kutanen Lymphomen beispielhaft zu zeigen ist [18].

#

Nochmals Mythologie: Wunden in der Kulturgeschichte

Die Haut und die Kulturgeschichte der Haut stehen in enger und vielfältiger Beziehung zu kulturanthropologischen Überlegungen. Besonders aber gilt dies für die Defekte der Haut, für Wunden also und den Narben als Resultat von deren Abheilung.

Wunden entstehen durch Verletzungen oder aus Infektionen. Sie tragen als Symbole für Beeinträchtigung sowie als Metapher (uneigentliche sprachliche Übertragung) für Verfehlung oder Sünde, für Strafe nach Anmaßung oder Rache weit über die direkte Bedeutung hinaus mythische oder religiöse Botschaften durch Raum und Zeit.

Großflächige Wunden entstehen durch physikalische Einwirkung (Verbrennen) oder durch Häuten (Schinden) und führen über eine Schmerzphase zum Tode. Anders die umschriebenen Wunden, sie können heilen, auch narbig abheilen. Sie können aber auch, vor allem wenn sie superinfiziert werden, zu chronischen, nicht heilenden Wunden werden, die fürchterlich stinken und zur Ausgrenzung und Isolation, aber auch zum eigenen Rückzug führen.

Ganz anders werden Narben oft als Erkennungscharakteristik einer Person gewertet und gehören zur Identität. Solches ist hervorragend vom Anglisten Norbert Greiner [9] am Beispiel der Wadennarbe des Odysseus dargestellt, der bei der Rückkehr nur von der Magd anlässlich der Fußwaschung anhand der Narbe erkannt wird.

#

Umschriebene Wunden

In der griechischen Mythologie erleidet Philoktet, der von Herakles Pfeil und Bogen sowie die Fertigkeit zum Bogenschießen erbte, auf dem Zug nach Troja einen Schlangenbiss. Da die Griechen seine Schmerzensschreie und den Gestank nicht mehr aushielten, verbannten sie ihn, Odysseus’ Rat folgend, auf der Insel Lemnos, wo er 9 Jahre grollend verblieb. Dann wurde er mit einer List zurückgewonnen. Vor Troja wurde er von seiner Wunde geheilt, worauf er mit dem Pfeil des Herkules alsbald Paris erschoss und den Sieg der Griechen einleitete. Die mit Pseudomonas infizierte, stinkende und sehr schmerzhafte Wunde hätte beinahe die Weltgeschichte verändert.

In der Parzifal-Geschichte liegt König Amfortas an einer schmerzhaften, stinkenden Wunde darnieder, die er als Mal einer begangenen Sünde zu tragen hat, bis eben Parsifal bei der zweiten Begegnung von Mitleid getragen das Tabu bricht und die Erlösung ermöglicht.

Auch in der christlichen Ikonografie sind Wunden, nicht nur die Wundmale Christi, weit verbreitet. Vor allem bei Pilgerreisen treten Wunden auf, wenn die Gläubigen auf den Knien den Leidensweg Christi nachvollziehen. Christusabbildungen gemahnen daran, wie der „Ölbergchristus” im Münster St. Georg zu Dinkelsbühl mit ahornblattartigen Wunden an beiden Knien ([Abb. 1]).

Zoom Image

Abb. 1 Ölbergchristus, bemalte Holzfigur, 1728 im Münster St. Georg zu Dinkelsbühl. Beachte die blattförmigen Wunden an beiden Knien. (Foto: Niels Petersen), Übersicht und Detail.

#

Großfläche Wunden, der Mythos von Marsyas

Es begann mit Pan, dem Hirtengott der Griechen. Die Nymphe Syrinx entzog sich Pans Gier durch Verwandlung in ein Schilfrohr, das im Wind klagend sang. Pan schnitt sich ungleich lange Stücke aus dem Rohr, die er zur Hirtenflöte band, womit er anmutige Weisen zu spielen verstand. Ehrgeizig tritt er zum Wettstreit mit dem Leier spielenden Gott Apollo an – und verliert. Er akzeptiert das Verdikt „Leier vor Flöte” und bleibt ungeschoren. Den mithörenden König Midas aber, der dem Urteil widersprach, strafte der gekränkte Apollo mit Eselsohren; Spitzohren und Hypertrichose also!

Im Geißenklösterle auf der Schwäbischen Alb wurden zwei, vor 35 000 Jahren aus Schwanenknochen gefertigte Flöten gefunden. Seit dem 3. Jahrtausend v. Chr. gibt es Fundstücke und bildhafte Darstellungen von Flöten und Aulos im Mittelmeerraum.

Den Aulos, die Doppelflöte, schuf die Göttin Athena aus Knochen vom Steinbock und sie spielte ihn ergreifend. Dennoch verwarf sie das Instrument, als sie im Wasser sah, wie sie durch die aufgeblähten Wagen entstellt wurde. Wer immer die Flöte aufhebe, sollte schwer bestraft werden. Der Satyr Marsyas hob die Flöte trotz Warnung auf und spielte meisterhaft. Ehrgeizig forderte er den Leier spielenden Gott Apollo zum Wettstreit – und verliert. Der Sieger dürfe mit dem Besiegten verfahren wie er wolle. Auf Hautabziehen hatte man sich geeinigt. Also hängte Apollo den klagenden Marsyas an einen Baum und zog ihm bei lebendigem Leib die ganze Haut ab ([Abb. 2]). „Er war nur eine Wunde”, heißt es bei Ovid. Das Häuten oder Schinden war eine Strafe mit Leiden, Todesfolge und Verlust der Person und zudem ist es eine Warnung vor Überheblichkeit gegenüber Göttern und Herrschern. Marsyas gilt als Metapher in Richtung Unterdrückung und Beherrschung des Menschen durch allmächtige Dominanz und Symbol für die Aufgabe der eigenen Gestalt und damit der Individualität. Das Schinden des Marsyas und anderer Märtyrer zieht sich durch die Jahrhunderte künstlerischer Darstellung [9] und findet sich in allen anthropologischen Reflexionen über Dominanz auf der einen und Selbstaufgabe auf der anderen Seite [4] [5] [6] [7]. Der ganze Komplex wird gegenwärtig im Liebighaus Frankfurt in der großartigen Ausstellung über „Die Launen des Olymp. Der Mythos von Athena, Marsyas und Apoll” aufgearbeitet und präsentiert [19].

Zoom Image

Abb. 2 Apoll schindet Marsyas. Adam Lenkhardt, Elfenbein 1644 (aus [9]).

#

Erneute Versuche der retrograden Diagnostik

Und wiederum wird versucht, aus Kunstwerken rückwirkend zu medizinisch stichhaltigen Diagnosen von Hautkrankheiten zu kommen. Der Biologe Manfred Reitz ist sich der Unschärfe des Unterfangens wohl bewusst, vermag aber doch mit einiger Sicherheit Rosacea (Kupferrose), Pigmentverschiebungen, Hauttumoren zweifelsfrei zu diagnostizieren [20]. Dem kann man sogar folgen, während die Auslegungen und Schlüsse des flämischen Rheumatologen Jan Dequeker teilweise recht spekulative Züge aufweisen [21]. Er findet einleuchtende Diagnosen wie Struma (Kropf) am Hals oder verformte Finger einer rheumatischen Arthritis. Und bei den „Drei Grazien” von Rubens erkennt er mächtige Krampfadern, Zellulitis, Plattfüsse und Wirbelsäurenverkrümmungen, was auch damals kaum als „graziös” und einem Schönheitsideal zupassend angesehen wurde. 2007 verbreiteten die Agenturen Schlagzeilen zu seinem Buch „Künstler und Arzt” über den sogenannten anderen Blick auf Gemälde [21]. Bei dem im Pariser Louvre ausgestellten Bild der Mona Lisa (Gioconda von Leonardo da Vinci) entdeckt er eine Vorwölbung an der linken Hand, die er als Fettablagerung deutet, und weiß-gelbliche Xanthelasmen an den Augenlidern. Daraus glaubt er eine Hyperlipidämie ableiten zu können und findet damit eine Erklärung für den frühen Tod der Porträtierten mit 37 Jahren. „Das Lächeln einer Todgeweihten” lautete provokativ die damalige Schlagzeile in der Presse.

Deutlich weniger gewagt und erstaunlich präzise sind hingegen die Aussagen des französischen Rechtsmediziners Philipp Charlier, der kürzlich eine paleopathologische Analyse menschlicher Monstrositäten in der Antike vorlegt [22]. Einerseits finden sich eindeutige Formen des Krankhaften in antiken Darstellungen, die darauf hinweisen, dass solche Veränderungen damals vorlagen und in ihrer Darstellung den Krankheiten in heutiger Zeit entsprechen. So finden sich auf einer etruskischen Vase und an einer hellenistischen Statuette Köpfe mit allen Zeichen für Trisomie 21 (Down-Syndrom). Aber auch Fettleibigkeit ist auf etruskischen Sarkophagen dargestellt, Hermaphroditismus an einer römischen Plastik, ein Zyklopenauge an einer griechischen Statuette und Zwergwuchs bei Figuren, Bronzelampen und auf Vasen aus Ägypten, Karthago und Kleinasien. Selbst eine Phimose ist auf einer römischen Votivtafel zu sehen. Andererseits sind in Gräbern und an Mumien alle Formen von Verletzungen am Skelett, Schädeldeformationen, Trepanationen, Syndaktylie, Polydaktylie, Kieferspalten, Zahnanomalien, Anenzephalie zu finden und mit bildgebenden Verfahren analysiert und dokumentiert worden. Diese Diagnosen sind klar zu belegen, während Krankheitsfolgen und Störungen von Ernährung und Stoffwechsel schlecht und nur indirekt anhand von Knochenveränderungen vermutet werden können.

Die Haut kommt in der Kulturgeschichte immer wieder und auch an bevorzugter Stelle zur Sprache und auch zur Darstellung. Dies ist so deutlich, dass man sogar eine Kulturgeschichte der Haut ableiten kann und zu formulieren wagt [9]. Diese Bestrebungen entwickeln zunehmend eigene Kräfte als Gang des Geistes im Zug durch die Zeiten. In den vergangenen Dekaden wurden diese Bemühungen gesteigert und intensiviert. Eine eigentliche Gegenwartsverdichtung findet statt. Dabei erleben wir Phasen, in welchen die mythischen Bezüge betont werden und diese wechseln sich ab mit solchen hermeneutischer Prägung. Durchsetzt werden sie immer wieder vom medizintypischen Ringen um Diagnose, welche dann auch immer wieder aus den Kunstwerken der Vergangenheit herauszulocken versucht wird. Ein Ende ist nicht in Sicht und ist auch keineswegs wünschenswert.

#

Literatur

  • 1 Scholz A. Patient und Krankheit in der Kunst. Sammlung der Gustav Carus TU Dresden. Dresden; 2002
  • 2 Wagner G, Müller W J. Dermatologie in der Kunst. Biberach a. d. Riss; Basotherm GmbH 1970
  • 3 Stoiber E. Chronik der Moulagen-Sammlung des Universitätsspitals Zürich. Zollikon bei Zürich; Fröhlich Druck AG 1993
  • 4 Anzieu D. Das Haut-Ich. Frankfurt; Suhrkamp 1991
  • 5 Condrau G, Schipperges H. Unsere Haut. Zürich; Kreuz 1994
  • 6 Mittag H. Die Haut im medizinischen und kulturgeschichtlichen Kontext. Marburg; Völker & Ritter 2001
  • 7 Benthien C. Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse. Reinbek; Rowohlt TB 1999
  • 8 Schipperges H. Kleine Kulturgeschichte der Haut.  Ruperto Carola. 1968;  20 3-10
  • 9 Jung E G. Kleine Kulturgeschichte der Haut. Darmstadt; Steinkopff 2007
  • 10 Burg G, Geiges M L. Die Haut, in der wir leben. Zürich; Rüffer & Rub 2001
  • 11 Burg G, Geiges M L. Rundum Haut. Zürich; Rüffer & Rub 2006
  • 12 Gschnait F, Exel W. Haut und Seele. Wien; Ueberreuter 2002
  • 13 Eco U. Die Geschichte der Schönheit. München; Hanser 2004
  • 14 Eco U. Die Geschichte der Hässlichkeit. München; Hanser 2007
  • 15 Staudinger U M, Häfner H. (Hrsg) .Was ist Alter(n)? Neue Antworten auf eine scheinbar einfache Frage. Heidelberg; Springer 2008
  • 16 Scholz A, Oehmichen F. Das Alter in der Kunst. Katalog. Technische Universität Dresden 2006
  • 17 Thane P. (Hrsg) .Das Alter. Eine Kulturgeschichte. Darmstadt; Primus 2005
  • 18 Jung E G. Kutane Lymphome in der Malerei.  Akt Dermatol. 2007;  33 481-484
  • 19 Hollein M. (Hrsg) .Die Launen des Olymp. Der Mythos von Athena, Marsyas und Apoll. Liebighaus Skulpturen, Frankfurt. Petersberg; Katalog M. Imhof 2008
  • 20 Reitz M. Kunst und ärztliche Diagnose. Expedition in die Wissenschaft. Bd. 1. Weinheim; Wiley-VCH 2006
  • 21 Dequeker J. Der Künstler und der Arzt. Ein anderer Blick auf Gemälde. Leuven; Davidsfonds NV 2006
  • 22 Charlier P. Les monstres humaines dans l’Antiquité. Paris; Fayard 2008

Prof. Ernst G. Jung

Maulbeerweg 20
69120 Heidelberg

Email: Ernst.G.Jung@t-online.de

#

Literatur

  • 1 Scholz A. Patient und Krankheit in der Kunst. Sammlung der Gustav Carus TU Dresden. Dresden; 2002
  • 2 Wagner G, Müller W J. Dermatologie in der Kunst. Biberach a. d. Riss; Basotherm GmbH 1970
  • 3 Stoiber E. Chronik der Moulagen-Sammlung des Universitätsspitals Zürich. Zollikon bei Zürich; Fröhlich Druck AG 1993
  • 4 Anzieu D. Das Haut-Ich. Frankfurt; Suhrkamp 1991
  • 5 Condrau G, Schipperges H. Unsere Haut. Zürich; Kreuz 1994
  • 6 Mittag H. Die Haut im medizinischen und kulturgeschichtlichen Kontext. Marburg; Völker & Ritter 2001
  • 7 Benthien C. Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse. Reinbek; Rowohlt TB 1999
  • 8 Schipperges H. Kleine Kulturgeschichte der Haut.  Ruperto Carola. 1968;  20 3-10
  • 9 Jung E G. Kleine Kulturgeschichte der Haut. Darmstadt; Steinkopff 2007
  • 10 Burg G, Geiges M L. Die Haut, in der wir leben. Zürich; Rüffer & Rub 2001
  • 11 Burg G, Geiges M L. Rundum Haut. Zürich; Rüffer & Rub 2006
  • 12 Gschnait F, Exel W. Haut und Seele. Wien; Ueberreuter 2002
  • 13 Eco U. Die Geschichte der Schönheit. München; Hanser 2004
  • 14 Eco U. Die Geschichte der Hässlichkeit. München; Hanser 2007
  • 15 Staudinger U M, Häfner H. (Hrsg) .Was ist Alter(n)? Neue Antworten auf eine scheinbar einfache Frage. Heidelberg; Springer 2008
  • 16 Scholz A, Oehmichen F. Das Alter in der Kunst. Katalog. Technische Universität Dresden 2006
  • 17 Thane P. (Hrsg) .Das Alter. Eine Kulturgeschichte. Darmstadt; Primus 2005
  • 18 Jung E G. Kutane Lymphome in der Malerei.  Akt Dermatol. 2007;  33 481-484
  • 19 Hollein M. (Hrsg) .Die Launen des Olymp. Der Mythos von Athena, Marsyas und Apoll. Liebighaus Skulpturen, Frankfurt. Petersberg; Katalog M. Imhof 2008
  • 20 Reitz M. Kunst und ärztliche Diagnose. Expedition in die Wissenschaft. Bd. 1. Weinheim; Wiley-VCH 2006
  • 21 Dequeker J. Der Künstler und der Arzt. Ein anderer Blick auf Gemälde. Leuven; Davidsfonds NV 2006
  • 22 Charlier P. Les monstres humaines dans l’Antiquité. Paris; Fayard 2008

Prof. Ernst G. Jung

Maulbeerweg 20
69120 Heidelberg

Email: Ernst.G.Jung@t-online.de

Zoom Image

Abb. 1 Ölbergchristus, bemalte Holzfigur, 1728 im Münster St. Georg zu Dinkelsbühl. Beachte die blattförmigen Wunden an beiden Knien. (Foto: Niels Petersen), Übersicht und Detail.

Zoom Image

Abb. 2 Apoll schindet Marsyas. Adam Lenkhardt, Elfenbein 1644 (aus [9]).