Gastroenterologie up2date 2008; 4(3): 196-197
DOI: 10.1055/s-2008-1077506
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Man wird heute „gesünder” alt – Beeinflussbarkeit der Lebenserwartung

Cornel  Sieber
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Publication Date:
08 October 2008 (online)

Kommentar zu:

Analyse der Bedeutung von Behinderung und chronischen Erkrankungen für das Erreichen eines außergewöhnlichen Lebensalters

Disentangling the roles of disability and morbiditiy in survival to exceptional age

Terry DF, Sebastiani P, Andersen SL, Perls TT; New England Centenarian Study, Geriatrics Section of the Department of Medicine, Boston University School of Medicine and Boston Medical Center, MA 02118, USA

Außergewöhnliche Langlebigkeit bei Männern. Modifizierbare Faktoren, die mit dem Erreichen des 90. Lebensjahres und dem funktionellen Status assoziiert sind

Exceptional longevity in men. Modifiable factors associated with survival and function to age 90 years

Yates LB, Djousse L, Kurth T, Buring JE, Gaziano JM; Division of Aging, Brigham and Women’s Hospital, 1620 Tremont St, Boston, MA 02 120, USA

Hintergrund: Etwa ein Drittel der 100-Jährigen erreicht das hohe Alter trotz langjähriger chronischer Krankheiten. Aus Zwillingsstudien ist bekannt, dass nur 25 % der Lebenserwartung genetisch bedingt ist. Welche Faktoren zusätzlich von Bedeutung sind, beschreiben zwei aktuelle Publikationen.

Methoden: Terry et al. verfolgten die Hypothese, dass nicht nur chronische Erkrankungen, sondern auch die damit verbundene Behinderung im Alltag eine zentrale Rolle für ein langes Leben spielt. Dazu wurden die Daten von 523 Frauen und 216 Männern im Alter von über 97 Jahren analysiert und die Alltagsfunktionen bzw. kognitiven Fähigkeiten mittels Barthel-Index (max. 100 Punkte) und „Blessed-Dementia-Skala” erfasst. In der anderen Studie untersuchten L. Yates et al. an 2357 gesunden Teilnehmern (mittleres Alter 72 Jahre) der „Physicians’ Health Study”, welche modifizierbaren Faktoren mit einer Lebenserwartung von über 90 Jahren assoziiert sind. Während der Studienzeit (1981 – 2006) füllten die Teilnehmer regelmäßig Fragebogen zu Krankheiten, Risikofaktoren und Lebensstil aus.

Ergebnisse: In der Studie von Terry et al. waren viele 100-Jährige trotz über 15 Jahre bestehender Erkrankungen wie chronisch obstruktiver Lungenerkrankung, Demenz, Diabetes, Herzerkrankungen, Hypertonie, Parkinson oder Schlaganfall in der Lage, ihren Alltag selbständig zu meistern. So hatten 60 % der Männer und 18 % der Frauen, die bereits vor dem 85. Lebensjahr an altersbedingten Erkrankungen litten, einen Barthel-Index > 90. Bei denjenigen, die erst nach dem 85. Lebensjahr erkrankten, waren es 50 bzw. 27 %. Generell zeigten hochbetagte Männer bessere Alltagsfunktionen und kognitive Leistungen als Frauen. In der anderen Studie erwiesen sich Bewegung, Rauchen, Diabetes, Übergewicht und Hypertonie als lebenszeitrelevante Faktoren. Bewegung erhöhte die Wahrscheinlichkeit eines 70-Jährigen, 90 Jahre alt zu werden um 56 %, während Raucher, Diabetiker, Übergewichtige oder Hypertoniker das Alter nur zu 25, 28, 32 bzw. 42 % erreichten. Kamen alle 5 Faktoren zusammen, sank die Chance auf 4 %.

Folgerungen: Menschen, die im Alter trotz langjähriger chronischer Erkrankungen ihren Alltag selbständig meistern, haben ebenso wie diejenigen, die einen gesunden Lebensstil mit viel Bewegung, Nikotinabstinenz und guter Blutdruck-, Blutzucker- und Gewichtskontrolle pflegen, eine deutlich höhere Lebenserwartung, so die Autoren.

Arch Intern Med 2008; 168: 277 – 283 und 284 – 290 (zusammengefasst von Renate Ronge)

Modifizierbarkeit der Lebenserwartung. Studien zur Langlebigkeit bei Männern sind selten. Da nur etwa 25 % der Lebenserwartung genetisch bedingt sind, sind also 75 % (präventiv) modifizierbar. In der 25 Jahre dauernden prospektiven Studie von Yates et al. wurden 2350 Männer (Ärzte) untersucht, die die Chance hatten, 90 Jahre oder älter zu werden. Dabei wurde 2 Fragen nachgegangen:

Was gibt es für beeinflussbare Faktoren, die eine Lebenserwartung von über 90 Jahren garantieren? Haben Männer, die ein so hohes Alter erreichen, eine niedrigere Inzidenz von altersassoziierten Krankheiten?

Diese prospektive Studie zeigt exemplarisch auf, dass viele nicht genetische Faktoren Langlebigkeit ermöglichen. Dies bedingt sowohl eine gute ärztliche Betreuung für die biologischen Faktoren, aber auch eine Verhaltensweise der Betroffenen selbst, die Langlebigkeit erst garantiert. Dass sich dies auch für den funktionellen Status lohnt, unterstreicht das Motto: „Den Jahren Leben geben”.

Lebenserwartung und Behinderung. Die über 80- oder gar 85-Jährigen sind je nach Land die prozentual am raschesten wachsende Bevölkerungsgruppe. In Deutschland nimmt pro Jahr die durchschnittliche Lebenserwartung unabhängig vom Geschlecht um 3 Monate zu. Fries prägte schon vor Jahrzehnten den Begriff der „Kompression der Morbidität”: Zunehmende Lebenserwartung muss nicht parallel mit länger dauernder Zeit in Abhängigkeit korreliert sein. Er konnte schon zeigen, dass Behinderungen pro Jahr um etwa 2 % abnehmen, die Mortalität aber nur um 1 %. Die Leute werden heute „gesünder” alt.

Terry et al. untersuchten das Fehlen oder Vorhandensein von Behinderungen bei über 100-jährigen „Überlebenden”. Die Hypothese war, dass nur die bis zum 100. Lebensjahr überleben können, die überdurchschnittliche Adaptationsfähigkeiten besitzen und/oder eine bessere funktionelle Reserve haben. Dies wurde auch für eine mögliche Geschlechtsspezifität untersucht. Die Männer, die mit Komorbiditäten alt wurden, hatten einen besseren Barthel-Index (Funktionalität) sowie eine bessere kognitive Leistung als Frauen. Man könnte dies so interpretieren: Die bessere physische und mentale Funktionalität bei Männern reflektiert, dass Männer, die so alt werden, im Sinne Darwins die Gruppe der „survival of the fittest” darstellen.

Erstpublikation: DMW 2008; 19: 996

Prof. Dr. C. Sieber

Institut für Biomedizin des Alterns
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Heimerichstraße 58
90419 Nürnberg

Email: sieber@klinikum-nuernberg.de

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