Zu der Frage „Was ist Aufklärung?” schrieb Immanuel Kant („Berlinische Monatsschrift”
vom Dezember 1784):
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.
Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen
zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben
nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt,
sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. ‚sapere aude! habe Muth dich
deines eigenen Verstandes zu bedienen!’ ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen,
nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen hat […], dennoch
gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu
deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein
Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat,
einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, etc., so brauche ich mich ja nicht
selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann;
andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. […]. Wenn
denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? So ist
die Antwort: nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. […]”
Kant und Krankenhaushygiene
Vor gut 200 Jahren geschrieben, sind Kants Worte heute noch generell von unverändert
aktueller Bedeutung. Was aber hat diese Botschaft konkret mit dem medizinischen
Fach der Krankenhaushygiene zu tun? Eine ganze Menge. Denn wenn wir Kants Worte
nur ein bisschen verändern und erweitern, hören sich seine Definitionen, bezogen
auf die Krankenhaushygiene, etwa so an:
Selbstverschuldete Unmündigkeit. Die nicht selten zu beobachtende Unmündigkeit in der deutschen Krankenhaushygiene
besteht in Unwissenschaftlichkeit, also dem Unvermögen, sich ohne Leitung eines
Anderen mit Anschauungen und Auffassungen aus der (auch internationalen) wissenschaftlichen
Fachliteratur auseinanderzusetzen. Selbstverschuldet ist diese Unwissenschaftlichkeit,
weil ihre Ursache nicht an einem Mangel intellektueller Fähigkeiten - alle Krankenhaushygieniker
sind schließlich gut ausgebildete Akademiker - oder an fehlenden publizierten
Meinungen und wissenschaftlichen Daten in der Fachliteratur liegen kann, sondern
am individuellen mangelnden Willen und Mut, diese Diskussionspunkte und Daten
eigenverantwortlich zur Kenntnis zu nehmen, zu durchdenken und situationsangepasst
danach zu handeln.
Mangel an Mut. Bequemlichkeit und Ängstlichkeit scheinen die Ursachen zu sein, warum man sich
in der Krankenhaushygiene in Deutschland so oft strikt und unkritisch an die „Richtlinie
für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention” der gleichnamigen Kommission
(KRINKO) beim Robert-Koch-Institut (RKI) hält. Damit wird provoziert, dass auch
die fachfremden bzw. -fernen Verantwortlichen an der „Richtlinie” festhalten,
von Ärztlichen Direktoren und Chefärzten über Geschäftsführer bzw. Verwaltungsleitern
zu hygienebeauftragten Ärzten, außerdem nicht selten Mikrobiologen sowie insbesondere
Mitarbeiter im öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD).
Vormünder. Die Krankenhaushygiene bleibt so dauerhaft unmündig und macht es dadurch Anderen
leicht, die führende Rolle zu übernehmen. Diese Führungsrolle fällt in Deutschland,
wenn auch in dieser Form nicht beabsichtigt, der „Richtlinie” zu. Diejenigen,
die sie als unumstößlich proklamieren, nehmen mit dieser Interpretation entscheidenden
Einfluss auf die Entwicklung der Krankenhaushygiene in Deutschland und sorgen
dementsprechend dafür, dass dieses Fach nur noch als der verlängerte Arm der „Richtlinie”
verstanden und zum Bestandteil polizeihygienischer Maßnahmen degradiert wird.
Vor diesem Hintergrund ist die Krankenhaushygiene in Deutschland als wissenschaftliches
Fach sklerosiert und verkümmert. Möglich wurde diese kontraproduktive Entwicklung
des ursprünglich sogar universitär angesiedelten Faches zu einer richtlinienfixierten
Vorschriftensammlung also vor allem dadurch, dass sich einige namhafte Repräsentanten
der Krankenhaushygiene in Deutschland nicht ausreichend mit den in der internationalen
Fachliteratur zum Thema der Infektionsprävention im Krankenhaus vorliegenden Diskussionen
und Fakten auseinandersetzen und sich ausschließlich auf die „Richtlinie”
berufen.
Eine Richtlinie, die für uns Verstand hat. Zugegeben, es ist sehr bequem, bei der Umsetzung krankenhaushygienischer Maßnahmen
unmündig zu sein. Man hat ja die „Richtlinie”, und wenn man sich daran orientiert,
kann schon das Gesundheitsamt nichts auszusetzen haben. Oder anders ausgedrückt:
Wenn man nach den Vorgaben der „Richtlinie” arbeitet, ist man auf der gerne
zitierten „sicheren Seite”, denn schließlich macht man ja alles, was die Experten
der KRINKO festgelegt haben. Darüber nachzudenken, ob diese Empfehlungen in der
gegebenen Situation wirklich begründet und sinnvoll sind, braucht man dann nicht
mehr.
Beispiel „MRSA”: Ein Dogma wird fallen
Isolierungsvorgabe unreflektiert. Diese Haltung wird besonders beim Thema „MRSA” erkennbar, wo der vorauseilende
Gehorsam auf Seiten der Kliniken sogar so weit geht, dass in Entlassungsberichten
bei der Schilderung des stationären Verlaufs aufgeführt wird, dass der Patient
nach Feststellung des MRSA „isoliert” wurde, wie wenn es sich dabei um eine sich
auf diesen Patienten auswirkende präventive Maßnahme handeln würde. Was hat
die „Isolierung” eines Patienten, die ja nach der durch die MRSA-Empfehlung der
„Richtlinie” seit etwa 10 Jahren zementierten Meinung zum Schutz vor Übertragung
des MRSA auf andere Patienten durchgeführt werden soll, was also hat diese Maßnahme
mit dem Schutz dieses Patienten zu tun, der den MRSA schon hat und für den der
Arztbericht geschrieben wird? Gar nichts. Er leidet vermutlich psychisch unter
der Isolierung mit der Vermummung des Personals, nutzen tut sie ihm aber nicht,
denn er hat den unerwünschten Erreger bereits erworben. Nur, wie ist es geschehen,
dass er zu einem Träger von MRSA geworden ist? Die meisten würden wohl sagen:
weil der MRSA von einem anderen Patienten übertragen wurde. Dies wird stillschweigend
immer noch als erstes unterstellt, obwohl wir inzwischen wissen, dass viele Patienten
bereits mit MRSA besiedelt in die Klinik kommen und dieser erst nach einer Behandlung
mit Antibiotika nachgewiesen wird.
„Search-and-destroy”. Deshalb soll man ja ein Aufnahme-Screening durchführen, sagen die Befürworter
der holländischen „search-and-destroy”-Strategie. Klingt plausibel, allerdings
ergeben sich daraus auch Fragen: Angenommen, man findet auf diesem Weg wirklich
die Mehrzahl der mit MRSA besiedelten Patienten und kann danach durch Isolierung
dieser Pa-tienten ihre Mit-Patienten vor einer Übertragung schützen, was aber
geschieht derweil mit all den Patienten, bei denen kein MRSA nachgewiesen wurde?
Sie werden natürlich nicht isoliert, sind aber doch sehr häufig mit Methicillin-sensiblen
S. aureus (MSSA) besiedelt (die weltweit immer noch für die meisten - auch
lebensbedrohlichen - S. aureus-Infektionen ver-antwortlich sind). Außerdem beherbergen
sie sämtlich in ihrer Körperflora eine Vielzahl potenziell pathogener Bakterien,
die häufig Erreger von Krankenhausinfektionen und häufig auch multiresistent sind
und natürlich ebenfalls übertragen werden können. Gibt es unterschiedliche
Übertragungswege bei empfindlichen und bei resistenten Bakterien? Warum soll es
also erforderlich sein, die einen Patienten - nämlich die mit MRSA - zu isolieren,
die anderen - die ohne MRSA, aber mit MSSA, E. coli, P. aeruginosa etc. - jedoch
nicht? Muss man nicht bei letzteren Patienten ebenfalls die Übertragung von Vertretern
ihrer Körperflora auf andere Patienten verhüten? Ja natürlich, aber es sei
doch wichtiger, die Übertragung von resistenten Erregern zu verhüten, weil man
bei diesen im Falle einer Infektion nur wenige Antibiotika für eine Therapie zur
Verfügung hat.
Ist „Standardhygiene” wirklich „Nichts-Tun”? Und was ist dann mit multiresistenten Pseudomonas- oder Acinetobacter-Stämmen?
Solche Stämme scheinen gemessen an MRSA nicht von Bedeutung zu sein. Man sieht
sich vielmehr dem Vorwurf ausgesetzt, dass man „nichts tut”, wenn man sich nicht
an die „Richtlinie” hält und die Patienten mit MRSA nicht isoliert. Tun dann
also alle Kliniken auch „nichts”, wenn sie die Patienten ohne MRSA, aber mit empfindlichen
und resistenten gramnegativen Enterobakteriazeen in ihrem riesigen Erregerreservoir
der Darmflora nicht isolieren? Wie erreicht man denn, dass diese potenziellen
Infektionserreger nicht übertragen werden? Mit den Maßnahmen der Standardhygiene.
Was das ist? Man fasst darunter alle Maßnahmen zusammen, die bei jedem Patienten
nach klinischen Kriterien ungeachtet der Kenntnis etwaiger mikrobiologischer Nachweise
angewendet werden müssen, um potenzielle Erregerübertragungen zu verhindern. Das
bedeutet beispielsweise, dass man bei Kontakt mit sezernierenden Wunden primär
auf die Händehygiene achtet, also auch Schutzhandschuhe trägt, die man anschließend
sofort ablegen muss, und sich danach die Hände desinfiziert, weil jedes Sekret
- auch das makroskopisch klare - besiedelt sein kann. Auf diese Weise kann man
für die verschiedenen denkbaren klinischen Situationen bei der Patientenversorgung
(z. B. Gastroenteritis, Infektionen der oberen Atemwege, potenzieller Blutkontakt)
die standardmäßig erforderlichen Schutzmaßnahmen ableiten, und das ohne jede
Kenntnis eines Erregernachweises. Das Konzept der Standardhygiene ist also im
Gegensatz zur Isolierung nach einem Erregernachweis umfassend, weil bei jedem
Patienten gültig. Wozu brauchen wir dann die Isolierung nach MRSA-Nachweis? Weil
es so in der „Richtlinie” steht? Ob die Isolierung eines Patienten mit MRSA seine
Mit-Patienten vor einer Übertragung schützt, ist aber trotz aller gegenteiligen
Beteuerungen nur eine Behauptung. Gerade die inzwischen zehn Jahre alte MRSA-Empfehlung
der „Richtlinie” ist für einen solchen Beleg ungeeignet, denn es fehlen ihr
die relevanten Literaturverweise.
Vorbild „holländisches Modell”. Die Empfehlungen des MRSA-Papiers sind auch nicht etwa durch die Erfahrungen
in den Niederlanden wissenschaftlich bestätigt worden. Die KRINKO hat sich vor
ca. zehn Jahren, als die MRSA-Empfehlung erstellt wurde, offenbar dem holländischen
Modell angeschlossen, für dessen tatsächliche Wirksamkeit die Holländer keine
wirklichen Belege haben. Das behaupten sie selbst auch nicht. Behauptet wird aber
in Deutschland, dass das holländische Modell wirkt, allen voran von Mitarbeitern
des RKI.
Fazit
Zeitalter der Aufklärung. Leben wir also, was die deutsche Krankenhaushygiene angeht, bereits in einem
aufgeklärten Zeitalter? Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.
Dafür sorgen kritische Stimmen in der KRINKO, aus dem ÖGD, aus den Reihen von
Klinikern und administrativen Leitern von Krankenhäusern sowie in Zeitschriften
wie dieser. Es müssten jedoch mehr werden, die sich gegen eine Bevormundung mit
Hilfe der „Richtlinie” oder andere sachlich ungerechtfertigte „Expertenempfehlungen”
zur Wehr setzen. Das gilt durchaus auch für die weit reichenden, das Leben der
Patienten und ihrer Angehörigen massiv beeinträchtigenden „Hygienemaßnahmen”
bei MRSA entsprechend der „Richtlinie”, für deren Wirksamkeit die Belege fehlen.
Insbesondere die klinisch tätigen Ärzte möchte ich deshalb - zugegeben etwas
pathetisch - in Anlehnung an einen berühmten Aufruf aus der neueren Geschichte
ermuntern:
Ärzte aller Kliniken, vereinigt Euch! Wehrt Euch gegen nicht belegte Empfehlungen
oder gar „Vorschriften”, auch wenn sie von Aufsichtsbehörden vorgetragen werden!
Seid skeptisch gegenüber dem für sicher gehaltenen Wissen, fragt nach und fordert
Belege! Lasst Euch nicht durch „Richtlinien” entmündigen! Stellt die Versorgung
der Patienten, für die immer nur Ihr verantwortlich seid, auf eine rationale
Grundlage!