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DOI: 10.1055/s-2007-986601
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Erklärungsmodell für Störungen des autonomen Nervensystems - Die Polyvagaltheorie
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
17. September 2007 (online)
- Wie erklärt man ein lebensbedrohliches Verhaltensmuster?
- Das Phänomen Bewegungskrankheit
- Günstige Beeinflussung psychischer Erkrankungen
- Literatur
"Panik kommt in mir auf. Plötzlich entlädt sich diese Anspannung in einem heftigen Bedürfnis nach Entleerung" [6]. So beschreibt Hajo Netzer in seinem Erfahrungsbericht einer Expedition auf den Cho Oyu in der letzten Ausgabe der Flugmedizin Tropenmedizin Reisemedizin seine Reaktion auf eine scheinbar ausweglose Situation, in der er nicht nur mit dem Wetter, sondern auch noch mit einem höhenkranken Expeditionsteilnehmer zu kämpfen hat. Woher stammt dieses paradoxe Reaktionsmuster, das eine ohnehin lebensbedrohliche Situation noch weiter verschlimmert?
#Wie erklärt man ein lebensbedrohliches Verhaltensmuster?
Seit 1995 wird ein Erklärungsmodell der physiologischen Abläufe und Störungen des autonomen Nervensystems getestet: die Polyvagaltheorie [3], [7], [8], [9]. Demnach hat sich das autonome Nervensystem phylogenetisch stufenweise von dem der Reptilien zu dem der Säugetiere entwickelt. Es besteht aus
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zwei vagalen Motorsystemen, die aus einem ventralen und einem dorsalen Kern im Hirnstamm entspringen
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aus den neben dem Rückenmark gelegenen sympathischen Ganglien.
Wichtige Zielorgane dieser Nervenbahnen sind neben dem enterischen Nervengeflecht vor allem Herz und Lungen. Das autonome Nervensystem sichert unter anderem eine für Säugetierhirne lebensnotwendige, konstante Sauerstoffsättigung des Blutes. Bei Säugetieren werden efferente Bahnen des ventralen Vaguskerns in den ersten Lebensmonaten mit Myelin ummantelt, während andere, die aus dem dorsalen Vaguskern entspringen, wie bei den Reptilien unmyelinisiert bleiben. Myelinisierte und nicht myelinisierte Vagusfasern können an gleichen Zielorganen unterschiedliche Reaktionen auslösen und bei jeweils anderen adaptiven Verhaltensweisen beteiligt sein.
Bei Säugetieren lassen sich drei Reaktionsmuster unterscheiden, die so hierarchisch strukturiert sind, dass das jeweils jüngere das ältere Programm inhibitiert. Die Programmrealisierung des autonomen Systems wird beeinflusst durch höhere Zentren (z. B. Neurone der Großhirnrinde) und Motorneurone der Kopf-Halsregion, die aus den Hirnnervenkernen im Stammhirn entspringen und quer gestreifte Muskeln innervieren. Die Ausschüttung der Hypophysenhinterlappenpeptide Vasopressin und Oxytozin und die Reflexe sensibler Vagusfasern wirken zusätzlich auf die Steuerung des Systems ein.
Das phylogenetisch jüngste Programm ist durch eine Aktivierung myelinisierter Vagusfasern gekennzeichnet. Diese "vagale Bremse" dämpft die Herz- und Atemfrequenz rhythmisch (u. a. in der Ausatmungsphase), und ist beispielsweise erforderlich für das sich Kümmern um den Nachwuchs. Verhaltensmuster wie soziale Kontaktaufnahme, Zuhören und Kommunizieren erfordern Ruhe und Sicherheit, die unbewusst über die Rückmeldung der auf Kommunikation ausgerichteten Hirnnervenkerne (III, V, VII, VIII, XI, XII) vermittelt und mit dem ventralen Vaguskern ("smart vagus") verschaltet werden.
Bleibt diese Reaktionsform erfolglos, wird die "vagale Bremse" abgeschaltet und die sympathische Reaktion aktiviert. Es resultieren Mobilisierung und Verhaltensprogramme, die auf Flucht oder Kampf ausgerichtet sind. In dieser Phase ist die Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt oder unmöglich.
Wenn auch dieses Lösungsmuster versagt, reagieren Säugetiere mit Immobilisation, Sich-Totstellen, In-Ohnmacht-Fallen und der Entleerung von Magen und Darm. Dieser phylogenetisch älteste und primitivste neuronale Kreislauf wird durch den nicht myelinisierten Vagus (dorsaler, vegetativer Vagus) vermittelt. Bei Reptilien macht diese Reaktionsform Sinn (Tauchreaktion eines Krokodils, Einschränkung der metabolischen Aktivität einer Schlange).
Für Säugetiere ist das Verhaltensmuster dagegen lebensbedrohlich. Es hat sich, so wird vermutet, erhalten, weil es in veränderter Form im sozialen Kontext Nutzen bringt: Bewegungslosigkeit verbunden mit bedingungsloser Aufgabe des eigenen Grenzbereiches begegnet uns beim Stillen, in bestimmten Phasen des Partnerverhaltens und bei der Sexualität, wenn ein besonders großer Vertrauensvorschuss gegenüber dem Partner besteht. Diese angepasste Reaktionsform eines alten Musters wird durch die Ausschüttung von Oxytozin vermittelt, das daher auch als Bindungshormon bezeichnet wird.
#Das Phänomen Bewegungskrankheit
Gut untersucht ist das verwandte Phänomen der Bewegungskrankheit. In der ersten Phase der Nausea lösen widersprüchliche Meldungen des Gleichgewichtsorgans und der Augen Missempfindungen aus. Dies führt zunächst zu einer Dämpfung parasympathischer Neurone und zur Aktivierung der sympathischen Reaktionsmuster (Schwitzen, Blässe, Atembeschwerden, Beklemmungsgefühl). Ein plötzlicher Zusammenbruch der sympathischen und ein erneuter Anstieg der parasympathischen Aktivierung vermittelt schließlich zusammen mit lokalen Reflexmustern des Intestinums die Expulsion von Magen- oder Darminhalt ("autonomic gastro-intestinal cascade") [1], [2], [5]. |
Günstige Beeinflussung psychischer Erkrankungen
Therapeutische Konsequenzen der Polyvagaltheorie konzentrieren sich auf die günstige Beeinflussung psychischer Erkrankungen durch Strategien der Aktivierung der "vagalen Bremse". Vorrangiges Ziel ist dabei eine Beruhigung, um die Kommunikationsfähigkeit wiederzuerlangen. Bewährt haben sich offenbar Methoden zur Dämpfung des Atemrhythmus, das Hören ruhiger menschlicher Stimmfrequenzen, Förderung des Schluckens, Intonation und Stimmbildung, Verlangsamung der Augenbewegung, Betrachten von Gesichtern oder ruhigen Bildern, das Lösen von Verkrampfungen der Gesichts- und der Nackenmuskulatur.
Helmut Jäger, Hamburg
#Literatur
- 01 Golding JF . . Auton Neurosci. 2006; 129 (1-2) 67-76
- 02 Grundy D . . Auton Neurosci. 2006; 129 (1-2) 1-2
- 03 Lewis M . Hitchcock DFA . Sullivan MW . . Infancy. 2004; 6 (1) 121-143
- 04 Movius HL . Allen JJB . . Biologycal Psychology. 2005; 68 (2) 147-162
- 05 Muth ER . . Auton Neurosci. 2006; 129 (1-2) 58-66
- 06 Netzer H . . FTR. 2007; 14 (2) 61-62
- 07 Porges SW . . Psychoneuroendocrinology. 1998; 23 (8) 837-861
- 08 Porges SW . . Ann N Y Acad Sci. 2003; 1008 31-47
- 09 Porges SW . . Biol Psychol. 2007; 74 (2) 116-143
Literatur
- 01 Golding JF . . Auton Neurosci. 2006; 129 (1-2) 67-76
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- 03 Lewis M . Hitchcock DFA . Sullivan MW . . Infancy. 2004; 6 (1) 121-143
- 04 Movius HL . Allen JJB . . Biologycal Psychology. 2005; 68 (2) 147-162
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- 06 Netzer H . . FTR. 2007; 14 (2) 61-62
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- 08 Porges SW . . Ann N Y Acad Sci. 2003; 1008 31-47
- 09 Porges SW . . Biol Psychol. 2007; 74 (2) 116-143