Univ.-Prof. Dr. Michaela Amering
Bedeutung
Bedeutung
Recovery beschreibt in seiner traditionellen Bedeutung - Genesung, Wiederherstellung,
Gesundung - klassische Ziele jeder therapeutischen Intervention. Als Ron Coleman Ende
der 90er-Jahre Recovery als eine fremdartige Idee - „an alien concept” - bezeichnete
und ausdrückte, dass PatientInnen und professionelle HelferInnen offenbar allesamt
vergessen hatten, dass man sich von Schizophrenie wieder erholen kann [1], hat wohl auch er kaum damit gerechnet, dass Recovery in den kommenden Jahren ganz
neu „in Mode” kommen würde. Colemans eigene Geschichte illustriert, dass auch nach
langjährigen katastrophalen Behandlungsverläufen Gesundung möglich ist, zeigt aber
auch, wie sehr sich die früh widerlegte Kraepelin'sche These von der Unheilbarkeit
in falschen negativen prognostischen Einschätzungen aller Beteiligten niederschlägt.
2005 wurden für die Schizophrenie Remissionskriterien formuliert [2]. Davon erwartet man sich nicht nur eine Korrektur der Einschätzung der Prognose
und klare Vorteile im Messen und Vergleichen von Verläufen und Interventionen, sondern
auch, dass die Erwartungen erhöht und die therapeutischen Bemühungen verstärkt werden.
Ebenso wie der US-amerikanische Vorstoß weist auch die rasche und affirmative europäische
Antwort [3] klar darauf hin, dass Recovery jedoch noch etwas anderes und mehr bedeutet als Remission
im Sinne des Abklingens von Symptomen und der Steigerung der Funktionsfähigkeit.
Pat Deegans [4] Analysen dazu, wie sie und andere Betroffene aus den Beschränkungen der Patientenrolle
heraus zu einem selbstbestimmten Leben gefunden haben, zeigen klar, worum es geht,
wenn von Recovery die Rede ist. Es geht nicht um eine Rückkehr zu einem Zustand vor
der Erkrankung, sondern vielmehr um ein Wachstum und eine Entwicklung, die es ermöglichen,
die persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Folgen einer psychischen Erkrankung
zu überwinden. Das Leben soll sich an den persönlichen Werten und Zielen orientieren
und kann zufriedenstellend und hoffnungsvoll verlaufen, auch wenn Symptome und Behinderungen
über längere Zeit bestehen. Wesentlich ist, Selbstwert und Selbstachtung unabhängig
von der PatientInnenrolle zu erleben und zu wissen, dass eine psychiatrische Diagnose
nicht die Entwicklung von Resilienz verhindert [5].
Die Recovery-ProponentInnen aus der Betroffenenbewegung machen klar, dass Recovery
ein individueller Prozess ist, bei dem es um persönliche Werte und Lebensziele geht
im Gegensatz zu statistisch erfassbaren „objektiven” Kriterien. Häufig werden in der
wissenschaftlichen Recovery-Literatur grob zwei Definitionen unterschieden [6]:
-
die Reduktion von Symptomen und Behinderungen und
-
die Erfolge und Bemühungen mit oder trotz psychischer Probleme, Behinderungen, Anfälligkeiten
oder Besonderheiten ein selbstbestimmtes und ausgefülltes Leben zu führen.
Die erste Definition wird dem medizinischen Bereich zugerechnet und als „klinisch”
im Unterschied zur zweiten „rehabilitativen” Definition [7] oder als basierend auf den Konzepten der Versorgung - „service-based” - bzw. basierend
auf den Konzepten der Betroffenen - „user-based” [8] - benannt. Es wird angezweifelt, ob es zu einer Integration dieser beiden unterschiedlichen
Perspektiven kommen muss. Beide können komplementär Bedeutung haben und unterschiedlichen
Personengruppen und Absichten dienen [7].
Entwicklung
Entwicklung
Recovery-Konzepte sind keineswegs auf Schizophrenie beschränkt. Recovery ist heute
in vielen Ländern gesundheitspolitische Vorgabe für den Bereich der psychiatrischen
Versorgung und Gesundheitsförderung. Drei wesentliche Punkte, die Recovery derzeit
im Wege stehen, hat eine Gesundheitskommission der Regierung der USA in den Vordergrund
gestellt [9]:
-
das Stigma, das psychische Erkrankungen noch immer umgibt;
-
die weiter vorherrschenden Ungerechtigkeiten und Ungleichbehandlung im Versicherungssystem;
-
das fragmentierte psychiatrische Versorgungssystem.
Diese drei Punkte machen deutlich, dass bei allen Unterschieden zwischen Europa und
den USA große Probleme identisch und schwierig zu überwinden sind.
Mit Blick auf die Hauptziele der Psychiatriereform - Schließung der alten Anstalten,
Entwicklung gemeindenaher Versorgungssysteme, Integration von psychiatrischen Angeboten
in den allgemeinen Gesundheitsbereich, Integration von sozialen und Gesundheitsleistungen
- ist festzustellen, dass sie in westeuropäischen Ländern zu etwa 30 - 70 % umgesetzt
sind [10]. Hauptsächlichen Aufholbedarf orten Becker u. Vazquez-Barquero [11] beim Zugang zum Arbeitsmarkt, der Integration von psychiatrischen Angeboten in den
allgemeinmedizinischen Bereich und der Unterstützung von Angehörigen und Freunden
- alles für Recovery relevante Bereiche. Internationale Zahlen zeigen, dass weniger
als 25 % aller PatientInnen mit schweren psychiatrischen Erkrankungen diejenigen Behandlungen
erhalten, die umfassend evidenzbasierten Vorschlägen entsprechen [12].
Viele Recovery-Entwicklungen finden außerhalb der Psychiatrie statt [13]. Entscheidend wichtig sind häufig ganz spezifische individuell wirksame Ansätze
ohne Anspruch darauf, dass genau dasselbe auch den meisten anderen Menschen helfen
könnte [14]. Dabei finden Betroffene meist zu wenig Unterstützung durch professionelle HelferInnen.
Das mag sich ändern, wenn sich die Rollenverteilung zwischen dem Hilfesystem und seinen
NutzerInnen verändert. PatientInnen als ExpertInnen in eigener Sache, Selbstmanagement
länger dauernder Erkrankungen, partizipative Entscheidungsfindung, Behandlungsvereinbarungen,
Vorausverfügungen und Trialog und Psychoseseminar sind Entwicklungen, die Ausdruck
einer neuen Rollenverteilung zwischen KlinikerInnen und PatientInnen sind. PatientInnen
haben eine aktive KonsumentInnenrolle in einem Dienstleistungsverhältnis übernommen
[15]. Die Rolle der PsychiaterInnen erweitert sich in Richtung Coaching und Mentoring
und neue Fähigkeiten zum partnerschaftlichen Umgang mit Entscheidungen und zur Unterstützung
von Selbstbestimmung werden unterrichtet. Meine Forschungstätigkeit zu psychiatrischen
Vorausverfügungen [16] in New York hat gezeigt, dass auch PatientInnen mit langen Geschichten von Zwangsbehandlungen
und Verletzungen und Enttäuschungen durch das psychiatrische Versorgungssystem bereit
sind mit großer Verantwortung und Umsicht ihre Selbstbestimmung zur Verbesserung ihrer
Behandlung in Akutsituationen wahrzunehmen.
Verantwortung
Verantwortung
Professionelle HelferInnen sehen die Haupthindernisse für eine Entwicklung zu recovery-orientierten
Angeboten in Fragen ihrer Verantwortung und dem stetig verspürten Mangel an Ressourcen und der Verpflichtung
therapeutische Interventionen zu setzen, auf deren Effekte - oder deren unerwartete
Unwirksamkeiten - man dann Recovery-Erfolge oder Misserfolge zurückführen kann. Eine
Annäherung der Psychiatrie an andere Bereiche der Medizin, in denen Wahlfreiheit und
Selbstbestimmung der PatientInnen nicht traditionell infrage steht, könnte hier als
Orientierung dienen [17]. Ebenso wie verbesserter Schutz vor Diskriminierung könnte dazu eine Gesetzgebung,
die Zwangsmaßnahmen nicht auf der Basis von psychiatrischen Diagnosen, sondern unabhängig
davon auf Basis von Entscheidungsfähigkeit und gemeinsam für alle Personen im gesamten
Gesundheitswesen regelt, ein Fortschritt sein [18].
Mike Slades [19] Beispiel von einer notwendigen Debatte um die Empfehlenswürdigkeit einer Intervention,
von der wissenschaftlich erwiesen ist, dass sie Symptome reduziert, aber Abhängigkeit
und Hoffnungslosigkeit fördert, deutet an was Recovery-Forschung leisten muss, damit
das Konzept bestehen bleiben und Veränderungen bewirken kann. Um zu erforschen was
Hilfeangebote tatsächlich förderlich für Recovery macht, muss es möglich werden, nicht
nur zu beschreiben, was Einrichtungen und HelferInnen tun, sondern auch wie sie es tun, also eine Erfassung von Haltungen und Werten, die in therapeutischen
Kontakten und Interventionen zum Ausdruck kommen. Um Ergebnisse von Recovery-Prozessen
zu messen, müssen Ergebnisvariablen definiert werden, die auch subjektive, an individuellen
Werten und Zielen orientierte Ergebnisse messbar machen. Eine günstige Voraussetzung
dafür ist der Ausbau von Forschungskooperationen zwischen Betroffenen und ForscherInnen
sowie zwischen ForscherInnen, die eigene Erfahrungen mit psychischen Störungen gemacht
haben und solchen ohne entsprechende Erfahrungen [20]. Eine andere Möglichkeit ist die Einbeziehung von Personen, die selbst Recovery
erfahren haben, in die Planung, Durchführung und Evaluation von Hilfeangeboten [21]. Wesentliche Fragen betreffen auch die Aus- und Weiterbildung in recovery-orientiertem
Arbeiten. Auch hier bietet sich klar der Einsatz von Personen mit eigener Recovery-Erfahrung
als Bereicherung an. Die Forderung nach einer Evidenzbasis, die unterschiedliche Perspektiven
integrieren kann, geht Hand in Hand mit der Forderung nach der kompetenten Anwendung
und Mischung unterschiedlicher Forschungsmethoden und partizipativen Prozessen zur
Erstellung von Richtlinien [22].
Recovery leuchtet ein, entspricht dem „common sense”. Das ist viel verlangt für die
Psychiatrie. Aber so wünsche ich sie mir. Und weil es gerade so viele Stimmen dafür
gibt und so viel klugen Einsatz und hochkarätiges Engagement, könnte sich doch glatt
was tun in dieser Richtung.