In großer Höhe und ganz speziell beim Bergsteigen in sehr großen Höhen werden manchmal
absurde Entscheidungen getroffen. Der Sauerstoffmangel setzt die Reaktionsfähigkeit
herab und es werden Entscheidungen getroffen, die so in Meereshöhe nie gefallen wären.
Jeder Bergsteiger an 8000 Meter hohen Bergen weiß, dass im Ernstfall eine Rettung
aus großen Höhen nur notdürftig und improvisiert durchgeführt werden kann. Zu welchen
sonderbaren Leistungen ein höhenkrankes Gehirn dann doch noch fähig ist, erzählt die
folgende Geschichte von einer Rettung am Cho Oyu (8201m) an der Grenze zwischen Tibet
und Nepal. Der Autor der Geschichte vom verlorenen Handschuh ist Hajo Netzer. Hajo
Netzer ist einer der renommiertesten Bergführer in Deutschland. Er leitet häufig kommerziell
organisierte Expeditionen zu den großen Bergen im Himalaya.
Jörg Schneider, BExMe
Ich trotte das Schneefeld vom Gipfel des Cho Oyus herunter. Das Wetter ist unangenehm
- windig und kalt. Gepaart mit der Erschöpfung ist meine Stimmung dementsprechend
lausig. Am Ansatz des Grats treffe ich ein paar aus meiner Gruppe, die sich noch im
Aufstieg befinden. Wir wechseln noch einige Sätze. Doch einer wirkt apathisch, scheint
nicht mehr in dieser Welt zu sein. Offensichtlich ist G. akut höhenkrank. Ich fordere
ihn mit Nachdruck auf, mich auf meinem Abstieg zu begleiten. Stoisch folgt er mir
abwärts - langsam, aber konstant.
Sind wir auf dem Wege zu einem grandiosen Mannschaftssturz?
Sind wir auf dem Wege zu einem grandiosen Mannschaftssturz?
Zunehmend wird er langsamer und auf halbem Wege zu Lager III setzt er sich in den
Schnee. Nichts kann ihn dazu bewegen, den Abstieg fortzusetzen. Ich trete mit dem
leitenden Sherpa Chuldim im Hochlager in Funkkontakt, er müsse noch einmal aufsteigen
und mich tatkräftig unterstützen. Eine Tortur bei diesen Bedingungen. Ich sitze relativ
hilflos neben G., rede ergebnislos auf ihn ein. Tabletten nimmt er nicht zu sich.
Unser Doktor kommt im Abstieg von seinem Gipfelgang bei uns vorbei und pumpt ihn mit
Kortison voll. Die Wirkung ist fatalerweise minimal. Zumindest können wir ihn dazu
bewegen weiter zu stolpern.
Am späten Nachmittag erreichen wir die Abseilpiste am Gelben Band. Zusammen mit Chuldim,
der inzwischen angekommen ist, lassen wir ihn Stück für Stück ab. Die Dunkelheit bricht
herein und es dauert und dauert. G. ist zu keiner Mithilfe mehr fähig. Chuldim lässt
mich immer zum nächsten benutzbaren Fixpunkt ab. Dort warte ich, um G. in Empfang
zu nehmen, der von Chuldim abgelassen wird. In der Zwischenzeit richte ich die nächste
Abseilstelle ein. Verzweiflung keimt in mir auf. Ohne Taschenlampe kann ich nicht
erkennen, welche mickrigen Haken und verfaulten Seilreste ich zu einem Stand verknüpfe.
Sind wir auf dem Wege zu einem grandiosen Mannschaftssturz?
Mit meinen drei Handschuhschichten bin ich auch nicht in der Lage, etwas zu spüren
oder vernünftig zu fädeln. Trotz der beißenden Kälte ziehe ich meine mittlere Schicht,
die Walkhandschuhe, aus und stopfe sie bei G. in den Rucksack. Mit letzter Kraft -
Chuldim hat sich eine schmerzhafte Knieverletzung, unser Doc beim handschuhlosen Spritzen
Erfrierungen zugezogen - erreichen wir gegen Mitternacht das rettende Lager III.
Er versinkt in seiner Welt, seine Augen verlieren sich starr in der Ferne
Er versinkt in seiner Welt, seine Augen verlieren sich starr in der Ferne
Die Nacht ist für alle Beteiligten ein Horror. Doch G. stabilisiert sich mithilfe
von Sauerstoff und weiteren Medikamenten einigermaßen. Der Doc und Chuldim müssen
aufgrund ihrer Verletzungen am nächsten Morgen sofort absteigen. Ich bin mit G. allein.
Ich merke recht bald, wie mutterseelenallein ich hier auf 7400 Metern bin. Zunächst
steigen wir kontinuierlich ab und können glücklicherweise den zugigen, schwach ausgeprägten
Pfeiler verlassen. In der großen Flanke oberhalb von Lager II sind wir windgeschützter
und das rettende Lager lacht mich hoffnungsvoll an. Weit kann es eigentlich nicht
mehr sein.
Doch G. geht nicht mehr weiter. Er steht. Ich rede einfühlsam auf ihn ein. Ich versuche,
ihn von der Notwendigkeit des Weitergehens zu überzeugen. Er bleibt stehen. Ich schreie
ihn an, beschimpfe ihn. Er bleibt stehen. Er schaut unbeteiligt in die Ferne. Oh,
wie ich ihn hasse!
Wenn er wenigstens einen Ton sagen oder eine Gefühlsregung zeigen würde, wenn ich
ihm Beleidigungen an den Kopf werfe. Nichts dergleichen. Ich erinnere mich an die
schöne Zeit mit ihm im Basislager, an seine ruhige und nette Art. Ich versöhne mich
innerlich mit ihm, mache ihm das nahe Lager schmackhaft. "Komm, geh fünf Schritte
und dann können wir ja wieder Pause machen".
Irgendwann tapst er wieder ein oder zwei Schritte vorwärts. Das ist es dann wieder
für eine Weile. Er versinkt komplett in seiner Welt, seine Augen verlieren sich starr
in der Ferne. Unsere Lage spitzt sich laufend zu - auch ich bin ja psychisch und physisch
an meiner Belastungsgrenze angekommen. Panik kommt in mir auf. Plötzlich entlädt sich
diese Anspannung in einem heftigen Bedürfnis nach Entleerung. Hektisch reiße ich alle
hemmenden Gegenstände wie Klettergurt und Hosen herunter. Ich ziehe meine Handschuhe
aus und übergebe sie ihm. Er nimmt sie wortlos entgegen - und lässt sie wieder los.
Der Wind nimmt sie sofort mit und treibt sie vor sich her, bis sie im Gletscherbruch
von einer Spalte geschluckt werden. Fassungslos und hilflos verfolge ich ihr Verschwinden.
Letztlich bleibt nur die grausame Frage: er oder wir?
Letztlich bleibt nur die grausame Frage: er oder wir?
Meine sowieso schon kalten Hände sind schutzlos dem kalten Wind ausgesetzt und ich
habe keine wärmenden Gegenstände mehr im Rucksack. Ich gehe alle Lösungsmöglichkeiten
durch, doch letztendlich bleibt nur die grausame Frage, die mich ja schon seit 24
Stunden innerlich quälte: er oder wir? Seit Stunden hat es mich umgetrieben, wie ich
reagieren werde, wenn sich die Lage in dieser Art und Weise verschärfen würde. Ich
habe die ganze Zeit auf mich eingehämmert, ich müsse nicht als heiliger Samariter
sterben. Warum sollte ich jetzt meine Hände opfern? Doch schaffe ich es wirklich,
ihn jetzt sitzen zu lassen ohne zu wissen, wann die Rettung von unten eintrifft? Unsere
Augen treffen sich - sie spiegeln blankes Entsetzen und Schuldgefühl. Wie lang und
intensiv können Sekunden sein. Plötzlich öffnet sich sein Mund und er sagt: "Du hast
noch Handschuhe bei mir im Rucksack, die du gestern Abend deponiert hast."
Wir können unsere Odyssee fortsetzen. Am Nachmittag erreicht uns mein Kollege Andreas
mit einem Gast, sodass wir auf einen effektiveren Abtransport umstellen können. Dank
der weiteren professionellen Unterstützung der Sherpas und des unermüdlichen Einsatzes
des auf uns wartenden Doktors können wir das ganze Drama noch zu einem glücklichen
Ende führen. Doch der entscheidende Punkt ist, dass G. trotz aller Bewusstseinseintrübung
im entscheidenden Moment aus seinem Hirnarchiv das richtige Bild hervorkramen konnte.
Welch kleiner, kaum messbarer elektrischer Impuls mit so weitreichenden Konsequenzen.
Hajo Netzer, Waakirchen
Alle Fotos: Hajo Netzer