DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2007; 5(03): 1
DOI: 10.1055/s-2007-985177
Editorial
Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Diabetes palpieren?

N. N.
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Publication Date:
09 July 2007 (online)

 

    Jim Jealous erzählt, dass es während seiner Ausbildung zum Osteopathen in Kirksville üblich war, dass die Studenten Stoffwechselerkrankungen palpieren sollten. Es gab einen richtigen Wettstreit darüber, wer dem tatsächlichen Laborwert am

    nächsten kam. Die meisten Erfahrungen hatte man mit Diabetes mellitus und Schilddrüsenerkrankungen, aber auch mit Elektrolytverschiebungen wie Hypo- und Hyperkaliämie. Bestimmte Qualitäten in der Palpation der Flüssigkeiten ließen Rückschlüsse zu auf die Schwere der Erkrankung. Besonders interessant sei es natürlich gewesen, beginnende Erkrankungen zu entdecken, die noch keine offensichtlichen Probleme entwickelt hatten und deswegen einer osteopathischen Behandlung besonders gut zugänglich waren. Bei Depressionen nach Entbindungen konnte man nicht selten feststellen, dass sich die Gewebe verhielten wie bei einer Schilddrüsenunterfunktion, obwohl sich die Laborwerte noch im Grenzbereich befanden. Eine Behandlung mit Schilddrüsenhormonen sei also nicht angezeigt gewesen, aber durch osteopathische Behandlung war es möglich, sowohl die gefühlte Hypothyreose wie auch die Depression zu verbessern.

    So wie sich die Osteopathie in den letzten Jahrzehnten hier in Europa entwickelt hat, werden den meisten Osteopathen, abgesehen von einigen Allgemeinmedizinern, nicht genügend endokrinologische Problemfälle samt Laborwerten zur Verfügung stehen, als dass man sein Palpationsvermögen hinreichend trainieren könnte. Es ist jedoch immer wieder überraschend, welche Spezialisierungen der Palpation möglich sind.

    Vehement wehrt sich Jealous jedoch dagegen, dass man Krebserkrankungen manuell einigermaßen zuverlässig diagnostizieren könne. Er könne es jedenfalls nicht und wer behaupte, er könne das, bringe die Osteopathie in Misskredit. Er ist ein Mann klarer Stellungnahmen. Es lassen sich jedoch einige genaue Regeln ableiten für den Umgang mit unseren tatsächlichen oder eingebildeten Fähigkeiten der palpatorischen Diagnostik:

    Man solle sich jederzeit möglichst klar darüber sein, ob man eine Struktur wirklich erspürt oder ob man ein Modell dafür benutzt. Kann man hinreichend sicher in Kontakt mit einer Niere treten, um deren Beweglichkeit zu beurteilen, oder diagnostiziert man stattdessen in den Nierenfaszien, dem Ligamentum longitudinale anterius der Wirbelsäule oder anderen retroperitoneal gelegenen Strukturen? Oder, um es noch bunter zu treiben: Kann man wirklich die Störung in einem Papillarmuskel des rechten Herzventrikels erspüren, der für die Dysfunktion einer Taschenklappe verantwortlich ist? Palpation im klassischen Sinne muss in diesen Fällen von einer irgendwie anders gearteten Wahrnehmung getrennt werden, auch wenn wir uns der genannten Phänomene noch so sicher sind.

    Man sollte keine Möglichkeit auslassen, Palpationsergebnisse zu objektivieren, sei es anhand von Röntgen-, Kernspintomographie- oder Ultraschallbildern, ggf. auch durch Laborwerte. Die wertvollste Überprüfung bietet, wie seit den ersten Tagen der Osteopathie, das anatomische Präparat und, mit Einschränkungen, sein Abbild, der Anatomieatlas.

    Selbst wenn man für sich der Meinung ist, einen klaren Befund erfühlt zu haben, muss dieser nicht unter allen Umständen den Patienten mitgeteilt werden. Hat man Hinweise auf eine Pathologie, so empfiehlt es sich, diese medizinisch sichern zu lassen.

    Die Diagnostik durch Berühren in ihren verschiedenen Formen bleibt ein spannendes Thema und je mehr kompetente Menschen sich in diese Diskussion einschalten, umso mehr haben wir alle davon.

    Wir haben unser Herausgeber-Team erweitert und begrüßen Peter Wührl als neuen Mit-Herausgeber der DO. Herzlich willkommen und auf eine gute Zusammenarbeit!

    Die Herausgeber


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