Wettbewerb muss sein. Das gilt auch für die Arzneitherapie. Der Bundestagsausschuss
für Jugend, Familie und Gesundheit formulierte die Notwendigkeit bei der Vorbereitung
des »Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelrechts« (2. Arzneimittelgesetz) wie folgt:
»Nach einmütiger Auffassung des Ausschusses kann und darf es nicht Aufgabe des Gesetzgebers
sein, durch die einseitige Festlegung bestimmter Methoden für den Nachweis der Wirksamkeit
eines Arzneimittels eine der miteinander konkurrierenden Therapierichtungen ... zum
ausschließlichen Maßstab... zu erheben.« Das war am 24. August 1976 und ist nachzulesen in der Bundestagsdrucksache 7/5091/15.
Rückblickend wäre zu fragen: Hat die seinerzeit vom Parlament eingeforderte Konkurrenz
der Therapierichtungen tatsächlich dazu beigetragen, dass Wirksamkeiten verbessert,
Risiken minimiert oder Arzneikosten eingedämmt wurden? Bei genauerem Hinsehen durchaus!
Erfolgreicher Wettbewerb zwischen zwei Therapierichtungen fand zum Beispiel auf dem
Milliarden-Markt der Antidepressiva statt. Diese Gruppe von Wirkstoffen war seit 1957
ungestört und ertragssicher im Griff »schulmedizinischer« Synthetika. Anfang der Neunzigerjahre
tauchte jedoch ein pflanzlicher Konkurrent auf. Johanniskraut-Extrakte setzten neue
Maßstäbe nicht nur bei der Verträglichkeit, sondern auch bei den Kosten. Mit mehr
als 40 kontrollierten Therapiestudien wurde nachgewiesen, dass sich mit Extrakten
aus Hypericum perforatum in der Praxis durchaus ähnliche Behandlungserfolge erzielen lassen wie mit herkömmlichen
synthetischen Antidepressiva.
Betroffene Fachkreise reagierten geteilt. Die einen klammerten sich an die bekannte
Maxime, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Bei anderen fand jedoch ein bemerkenswerter Wandel der Ansichten zur Arzneitherapie
der Depressionen statt. Bis spät in die Neunzigerjahre wurde zum Beispiel in dem Periodikum
Arzneiverordnungs-Report überwiegend löblich über neu in den Markt drängende synthetische Antidepressiva berichtet.
Noch in der Ausgabe 2000 wurde wohlwollend von »innovativen Arzneimittelgruppen wie ... selektiven Antidepressiva« berichtet [1]. Danach änderte sich der Tenor. In der Ausgabe 2002 wurde erstmals eingeräumt: »Im Durchschnitt beträgt der absolute Unterschied der Responserate zwischen Antidepressiva
und Placebo 20 %. ... Breite Fortschritte in der Behandlung depressiver Patienten sind daher in den
kommenden Jahren nicht von neuen Substanzen zu erwarten, sondern von ... rationalen
Kombinations- bzw. Augmentationsstrategien« [2].
Etwa 50-70 % aller Patienten mit Depressionen sprechen erfahrungsgemäß bei ambulanter
Behandlung mit Antidepressiva auf die Therapie an. Zieht man von dieser »hausärztlichen
Responsrate« die oben zitierten 20 % ab, so bleibt nach den Regeln der Algebra ein
Zweidrittel-Rest übrig, der sich nicht vorrangig mit pharmakodynamischen Effekten
erklären lässt. Der dominante Erfolgsanteil in der Praxis resultiert also gar nicht
aus der Pharmazie und Pharmakologie der Wirkstoffe, sondern aus den Selbstheilungskräften
bzw. deren Stimulation durch das therapeutische Umfeld. Die neuen Empfehlungen im
Sinne rationaler Kombinations- bzw. Augmentationsstrategien tragen dieser Erkenntnis verspätetet Rechnung.
Was aber fällt einigen Wettbewerbern aus der parlamentarisch gehegten Phytotherapie
dazu ein? Sie berufen eine »Kommission Qualität und Transparenz von Phytopharmaka«.
Die Ergebnisse von 42 Johanniskraut-Therapiestudien werden selbstzerstörerisch in
neun Extrakt-Modifikationen zerpflückt. Während die andere Seite sich mühsam anschickt,
von der Wirkstoffdominanz antidepressiver Therapieerfolge abzurücken, gräbt man sich
ganz in die Linie von gestern ein und mündet mit einer 53-seitigen statistischen Analyse
in den Depressionen auslösenden Satz: »Aufgrund der meist kleinen Zahl von Studien, der unterschiedlichen Patientenpopulationen
(leichte, mittelschwere und auch schwere Depressionen, 'major depression' vs. 'nicht
major depression'), der unterschiedlichen Vergleichsmöglichkeiten (Placebo, ältere
und neuere Antidepressiva) und zum Teil widersprüchlicher Ergebnisse besteht ein erheblicher
Interpretationsspielraum, inwieweit der Wirksamkeitsnachweis für einzelne Präparate
als vollständig erbracht angesehen werden kann« [3]. Die Vertreiber synthetischer Antidepressiva dürften für dieses Eigentor dankbar
sein. Teilen und herrschen, mit statistischer Vorarbeit der Gegenpartei! Auf diese
Weise wollte der Gesetzgeber den Wettbewerb miteinander konkurrierender Therapierichtungen
ganz bestimmt nicht beendet wissen.