Neue Impulse für die Gesundheitspolitik
Neue Impulse für die Gesundheitspolitik
„Kooperation und Verantwortung - Voraussetzungen einer zielorientierten Gesundheitsversorgung”
ist der neue Bericht des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im
Gesundheitswesen überschrieben, der im Juli 2007 in Berlin vorgestellt wurde [1]. In zwei Bänden sollen auf knapp 1000 Seiten „neue Möglichkeiten und Wege zur Weiterentwicklung
des Gesundheitswesens” aufgezeigt werden - so der in der Einleitung erhobene ambitionierte
Anspruch der Autoren. Und tatsächlich: Der Sachverständigenrat hat keine handzahme
Fortschreibung seiner früheren Gutachten vorgelegt [2] und sich nicht ausschließlich auf Fragen der Finanzierbarkeit von Gesundheitsleistungen
beschränkt, sondern es wurden heiße Eisen angepackt, die gerade auch für die Psychiatrie
große Bedeutung haben.
Hier sind besonders zwei Forderungen hervorzuheben: Zum einen schlägt der Sachverständigenrat
eine Neudefinition der Rollen und Aufgaben verschiedener Berufsgruppen im Gesundheitswesen
vor und will darauf aufbauend eine neue Kultur therapeutischer Kooperation ermöglichen
- trotz vorhersehbarer Ängste und Tendenzen zur Besitzstandswahrung der betroffenen
Berufsgruppen. Zum anderen werden verstärkte Bemühungen im Bereich der Primärprävention
speziell für „vulnerable Gruppen” wie beispielsweise Arbeitslose, sozial benachteiligte
alte Menschen und Obdachlose gefordert, die eine erhöhte Morbidität für psychische
Erkrankungen aufweisen und daher besonderer Aufmerksamkeit bedürfen [3]
[4]. Die Sozialpsychiatrie kann also durchaus aus dem vorliegenden Gutachten Unterstützung
für ihre Anliegen - insbesondere das einer stärker patientenzentrierten psychiatrischen
Versorgung - herleiten [5]
[6], auch wenn die Psychiatrie als Fachgebiet im Sachverständigenrat (leider) nicht
mit einem eigenen Mitglied vertreten ist.
Der Sachverständigenrat
Der Sachverständigenrat
Das Bundesministerium für Gesundheit beruft auf der Grundlage von § 142 SGB V den
Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Dieser hat
die Aufgabe, Gutachten zur Entwicklung der gesundheitlichen Versorgung mit ihren medizinischen
und wirtschaftlichen Auswirkungen zu erstellen. Dabei sollen unter ausdrücklicher
Berücksichtigung der finanziellen Rahmenbedingungen und vorhandener Wirtschaftlichkeitsreserven
Prioritäten für den Abbau von Versorgungsdefiziten aber auch eventuell bestehender
Überversorgung aufgezeigt werden. Dem Sachverständigenrat gehören aktuell sieben Mitglieder
der Fachrichtungen Innere Medizin (zwei Mitglieder), Allgemeinmedizin, Volkswirtschaftslehre,
Medizinische Soziologie, Pharmakologie und Public Health an.
Angesichts der Tatsache, dass beispielsweise die Depression nach den Daten der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) die Erkrankung ist, die zu den meisten mit Behinderung gelebten Lebensjahren
beim Menschen führt und auch Alkoholerkrankungen, Schizophrenien und bipolare affektive
Störungen jeweils mehr Lebensjahre mit Behinderung verursachen als Diabetes mellitus
oder Malignome [7]
[8], wäre es aus psychiatrischer Sicht natürlich wünschenswert, den Sachverständigenrat
auch gezielt mit psychiatrischem Sachverstand zu verstärken. Dass solch ein beständiges
Drängen auf eine bessere institutionelle Verankerung der Psychiatrie in gesundheitspolitischen
Gremien dringend geboten ist, belegt nicht zuletzt das neue Gesundheitsstrategiepapier
der Weltbank, in dem das Thema seelische Gesundheit schlicht übersehen wurde [9]. Dabei hat gerade die seelische Gesundheit nicht nur direkte Auswirkungen auf das
Wohlbefinden der Betroffenen und ihres unmittelbaren psychosozialen Umfeldes, sondern
auch auf die soziale Ausgeglichenheit und den Wohlstand der Gesellschaft als Ganzes,
wie die WHO bereits im World Health Report 2001 „Mental Health: New Understanding,
New Hope” festgestellt hat [10].
Chancen für die Psychiatrie
Chancen für die Psychiatrie
Das vorliegende Gutachten des Sachverständigenrates bietet gerade für die Sozialpsychiatrie
wichtige Anknüpfungspunkte. Die Forderung nach multidisziplinären therapeutischen
Strategien mit einer flachen Hierarchie zwischen den Berufsgruppen entspricht genau
der Arbeitsorganisation, wie sie in der modernen Psychiatrie angestrebt wird. Aus
ärztlicher Sicht wäre besonders der Ausbau rechtssicherer Delegationsmöglichkeiten
von Aufgaben an nichtärztliche Berufsgruppen hilfreich. Dies ist schon alleine aus
Ressourcengründen eine notwendige Voraussetzung für gemeindenahe Hilfsangebote. Die
Psychiatrie kann hier - gestützt auf den Sachverständigenrat - weiterführende Vorschläge,
beispielsweise zu einer erweiterten ambulanten psychiatrischen Pflege, in die gesundheitspolitische
Diskussion einbringen und die Erprobung in Modellprojekten fordern.
Bedeutend ist auch die Forderung des Sachverständigenrates, die bestehenden Defizite
in der Prävention zu beseitigen. Um die sozial bedingte Ungleichverteilung von Gesundheitschancen
zu reduzieren, wurde vorgeschlagen, die verfügbaren Mittel für Primärprävention auf
sozial benachteiligte Gruppen mit hoher Krankheitslast und geringen Gesundheitsressourcen
zu konzentrieren. Zutreffend rückt der Rat dabei die seelische Gesundheit mit in den
Mittelpunkt seiner Analysen. Der Vorschlag, im Rahmen des Präventionsgesetzes die
Finanzierungsverantwortung für Präventivmaßnahmen nicht alleine bei den Krankenkassen
zu belassen, sondern auch andere Zweige der Sozialversicherung mit in die Pflicht
zu nehmen, ist dabei bedenkenswert - wenn dadurch die für Prävention verfügbaren Mittel
tatsächlich erhöht werden und nicht nur neue negative Kompetenzkonflikte zwischen
den Kostenträgern provoziert werden. Wichtig wäre allerdings, nationale Präventionsstrategien
auch im europäischen Kontext inhaltlich abzustimmen und für eine kontinuierliche wissenschaftliche
Evaluation zu sorgen. Eine gute Grundlage hierfür böte der mit dem Grünbuch der EU-Kommission
„Die psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern - Entwicklung einer Strategie
für die Förderung der psychischen Gesundheit in der EU” bereits im Jahr 2005 eingeleitete
Diskussionsprozess [11]. Der politische Wille, verbesserte Präventionsangebote zur Förderung der seelischen
Gesundheit aufzulegen, erfordert aber hierauf abgestimmte wissenschaftliche Anstrengungen,
um auch geeignete Präventionskonzepte bereitstellen zu können. Hier erscheinen entsprechende
wissenschaftliche Schwerpunktsetzungen sinnvoll [12]
[13]. Dabei ist unbedingt zu vermeiden, psychiatrische Kompetenz in den aufzulegenden
Präventionsprogrammen und Modellprojekten außen vor zu lassen. Gerade neben der auf
die Allgemeinbevölkerung gerichteten Prävention ist die sog. „indizierte Prävention”
bei Risikogruppen mit erhöhter Vulnerabilität eine sozialpsychiatrische Spezialität.
Beispiele hierfür sind das äußerst erfolgreiche „Bündnis gegen Depression” oder auch
die Einrichtung psychiatrischer Früherkennungszentren [14]
[15]. Beachtliche inhaltliche Impulse gehen in diesem Bereich auch von den „Psychiatriegrundsätzen
Bayern” aus, die im Rahmen des „Runden Tisches Psychiatrie” von einer breiten Fachöffentlichkeit
erarbeitet wurden [16]
[17].
In der Vergangenheit haben sich Gesundheitspolitiker immer wieder auf die Gutachten
des Sachverständigenrates berufen und auch das Bundesministerium für Gesundheit lobt
das aktuelle Gutachten in einer Pressemitteilung vom 3. Juli 2007 in den höchsten
Tönen. Daher sollte die Chance ergriffen werden, zentrale psychiatriepolitische Forderungen
mit Hinweis auf das aktuelle Sachverständigenratsgutachten erneut in die öffentliche
Diskussion einzubringen [18]. Denn: Für entsprechende Maßnahmen müssen natürlich auch die notwendigen finanziellen
Ressourcen zur Verfügung gestellt werden - alleine mit Ankündigungspolitik sind keine
substanziellen Fortschritte zu erzielen!
Interessenkonflikte
Keine angegeben.