Welche Ergebnisse liefert die primäre retroperitoneale Lymphadenektomie (RLA) bei
Männern mit nichtseminomatösen Keimzelltumoren im klinischen Stadium I mit oder ohne
Gefäßinvasion? Dieser Frage gingen A. J. Stephenson et al. in ihrer Studie nach. (J Urol 2005; 174: 557-560)
Der prospektiven Studie liegen die Daten von 267 Patienten zugrunde, die sich in den
Jahren 19892 einer primären retroperitonealen Lymphadenektomie (RLA) unterzogen. Bei
allen Patienten war zuvor ein nichtseminomatöser Keimzelltumor im klinischen Stadium
I-IIA diagnostiziert worden. Untersucht wurden Patienten, in deren Histologie überwiegend
embryonale Karzinome und/oder eine Lymph-/Gefäßinvasion nachgewiesen worden waren.
Der durchschnittliche Beobachtungszeitraum nach dem Eingriff lag bei 53 Monaten.
42% der Patienten zeigten ein pathologisches Stadium (pS) II. 54% dieser pSII-Patienten
hatten geringvolumige Lymphknoten-Metastasen (N1), bei 16% fand sich ein Teratomanteil
im RLA-Präparat. Die 5-Jahres-Wahrscheinlichkeit für ein progressionsfreies Überleben
betrug in der Gesamtpopulation 90%-für die Patienten der pSI-Gruppe 90% und 86% für
die Patienten, die der pN1-Kategorie zugeordnet worden waren.
Alle Patienten, die im Nachuntersuchungszeitraum ein Rezidiv aufwiesen, waren nach
einer Standard-Chemotherapie mit oder ohne Resektion des residualen Gewebes tumorfrei
und die Überlebensrate lag für die folgenden 10 Jahre bei 100%.
Würde die adjuvante Chemotherapie auf Patienten mit einem Stadium pN2 beschränkt,
beliefe sich die geschätzte 5-Jahres-Rezidivrate auf 9%. Nach der statistischen Berechnung
durch die Autoren müssten sich 72% der Patienten keiner Chemotherapie unterziehen.
Diese Ergebnisse zeigen, dass bei der Behandlung von Patienten in einem frühen Stadium
(klinisches Stadium I oder IIA) und mit Embryonalzellkarzinomen und/oder Lymph-/Gefäßinvasion,
die nicht für eine reine Surveillance infrage kommen, die RLA eine sinnvolle Behandlungsoption
darstellt. Basis für diese Entscheidung bilden das geringe Risiko eines systemischen
Rezidives bei Patienten mit pSI und pN1 nach einer RLA alleine, kombiniert mit der
16% Wahrscheinlichkeit einer Inzidenz eines retroperitonealen Teratoms, welches chemoresistent
ist, sowie das günstige Morbiditätsprofil.
Laut der Schätzung der Autoren würde 72% der Patienten die potentielle Toxizität der
Chemotherapie erspart, wenn die adjuvante Therapie auf Patienten mit pSII beschränkt
wird.
Abb. 1 Laparoskopische Entfernung eines interaortokavalen Lymphknotenkonglomerats
während einer laparoskopischen modifizierten retroperitonealen Lymphadenektomie (RLA)
rechts (Bild: Jocham D, Miller K. Praxis der Urologie. Thieme, 2003).
Abb. 2 Operationssitus bei retroperitonealer Lymphadenektomie (Bild: Jocham D, Miller
K. Praxis der Urologie. Thieme, 2003).
Fazit
Nach der Meinung der Autoren, sollte die primäre retroperitoneale Lymphadenektomie
bei Patienten mit Hodentumoren in einem klinischen Stadium I/IIA mit überwiegend embryonalen
Karzinomen und/oder Lymph-/Gefäßinvasion die bevorzugte Behandlungsmethode darstellen.
Britta Brudermanns, Köln
Kommentar
S. Krege
RLA sinnvolle Alternative
Konsensuskonferenz empfiehlt risikoadaptiertes Vorgehen
Entgegen dem Fazit der vorliegenden Arbeit wurde auf der ersten europäischen Konsensuskonferenz
2002 zur Diagnostik und Therapie des Hodentumors [1] für Patienten mit einem Nichtseminom
im klinischen Stadium I entsprechend dem Vorliegen (V+) oder Fehlen (V-) einer vaskulären
Invasion ein risikoadaptiertes Vorgehen vorgeschlagen. Patienten V- werden einer Überwachungsstrategie
(Surveillance) unterzogen, Patienten V+ erhalten zwei adjuvante Kurse einer PEB-Chemotherapie.
Als Alternative wird bei V+ die Surveillance vorgeschlagen, da 50% der Patienten,
die keine retroperitoneale okkulte Metastasierung haben, die Chemotherapie unnötig
erhalten. Alternative bei V- ist die adjuvante Chemotherapie, da meist die Patienten
nicht für eine Surveillance infrage kommen, denen die entsprechende Compliance zu
dieser Strategie fehlt. So wird bei ihnen das Risiko, ein Rezidiv zu entwickeln von
14 auf 3-5% minimiert. Die nerv-protektive retroperitoneale Lymphadenektomie (RLA)
wird nur als dritte Alternative bei Ausscheiden der jeweils anderen beiden Optionen
genannt, da durch sie das spätere extraperitoneale Rezidivrisiko von ca. 10% nicht
beseitigt wird. Außerdem wird die RLA selbst in der High-risk-Gruppe (V+) in 50% der
Fälle unnötig durchgeführt.
Surveillance: gute Ergebnisse, aber psychischer Druck
Es sind hier die Vor- und Nachteile der drei Optionen zu nennen [2]: Bei einer risiko-adaptierten
Surveillance wird kein Patient einer unnötigen Therapie unterzogen. Allerdings entwickeln
14-15% ein Rezidiv, das mit einer Standard-Chemotherapie (3-4 Zyklen PEB) in den meisten
Fällen geheilt werden kann. Um das Rezidiv frühzeitig zu entdecken, bedarf es einer
regelmäßigen, qualitativ hochwertigen Nachsorge, die entsprechende Ansprüche an Patient
und Arzt stellt. Die Nachsorge betrifft Retroperitoneum und Lunge. Oftmals wird berichtet,
dass sich Patienten unter Surveillance einem hohen psychologischen Druck (Damoklesschwert
des Rezidivs) ausgesetzt fühlen, obwohl sie sich selbst für dieses Vorgehen entschieden
haben.
Adjuvante Chemotherapie: gute Ergebnisse, aber hohe Toxizität
Mit adjuvanter Chemotherapie in der High-risk-Gruppe (V+) wird das Rezidivrisiko auf
3-5% minimiert. Zwar sind Retroperitoneum und Lunge zu kontrollieren, allerdings können
bei diesem geringen Rezidivrisiko die Intervalle großzügiger gewählt werden. 50% der
Patienten werden durch die Chemotherapie allerdings unnötigerweise einer Toxizität
ausgesetzt, u.a. einer vorübergehenden Beeinträchtigung der Fertilität. Die vorliegende
Literatur zeigt allerdings keine wesentliche Spättoxizität nach zwei Zyklen PEB-Chemotherapie.
Für das Auftreten von Spätmalignomen fehlen Daten nach adjuvanter Chemotherapie.
RLA: histologische Sicherheit, aber jeder zweite Eingriff unnötig
Durch die RLA wird eine Histologie gewonnen. Patienten mit einem höheren Stadium werden
entsprechend identifiziert und ggf. einer anschließenden Chemotherapie unterzogen.
50% der Patienten erhalten die Operation mit einer Morbidität von 8-10% unnötigerweise.
Insbesondere ist als Komplikation die retrograde Ejakulation zu nennen. Zwar wird
das Risiko für das Stadium I in der Literatur mit nur 2% angegeben, bezieht sich aber
auf ausgewiesene Zentren. In der Nachsorge kann die Kontrolle des Retroperitoneums
vernachlässigt werden. Das Rezidivrisiko pulmonal liegt bei 10%. Insgesamt betragen
die Heilungsraten für den Patienten bei allen drei Optionen 98%-100%.
Therapie im Stadium IIa
Das Marker-negative klinische Stadium IIa wurde im Konsensuspapier aufgrund der Schwierigkeit
der Definition in der Bildgebung als besondere Entität dargestellt. Als Optionen werden
die nerv-protektive RLA oder eine zunächst engmaschige (6-wöchige) Verlaufskontrolle
genannt. Findet sich bei der Lymphadenektomie ein pathologisches Stadium, geht der
Patient in die Nachsorge, bei Nachweis eines höheren Stadiums wird ggf. nach Befundresektion
eine adjuvante Therapie mit zwei Zyklen PEB angeschlossen.
Bei dem Vorgehen der zunächst engmaschigen Kontrolle wird die weitere Entscheidung
von der Entwicklung des Befundes in der Bildgebung abhängig gemacht. Kommt es zu einer
Vergrößerung des Lymphknotens, wird eine Chemotherapie mit 3 Zyklen PEB durchgeführt.
Bei Regression des Befundes geht der Patient in die Nachsorge. Bei gleichbleibender
Größe wird die engmaschige Kontrolle fortgesetzt oder es wird die Entscheidung zur
RLA getroffen.
Chemotherapie bei Teratom unwirksam
Im Zusammenhang mit der Beurteilung der verschiedenen Therapieoptionen im klinischen
Stadium I und IIA soll erwähnt werden, dass der histologische Nachweis von Teratom
bedeutet, dass dieses Gewebe auf Chemotherapie nicht angesprochen hätte. Die Inzidenz
für Teratom lag in einer Arbeit von Sheinfeld et al. für die niedrigen Stadien insgesamt
bei 9%, stieg allerdings mit zunehmendem Stadium (CSI 3%, CSIIA 22%) [3].
Höherer Stellenwert für RLA?
Phenson et al. favorisieren bei High-risk-Patienten mit klinischem Stadium I und IIa
die nerv-protektive Lymphadenektomie. Bei dem sehr geringen Rezidivrisiko bei pN1-Befunden
haben sie auf eine adjuvante Chemotherapie verzichtet, sodass in ihrem Patientengut
72% der Patienten keine Chemotherapie erhalten haben und damit die genannten Nachteile
einer solchen Therapie vermieden werden konnten. Wie berichtet, betrug die Progressionsfreiheit
nach 5 Jahren für das Gesamtkollektiv 90%, für pSI ebenfalls 90% und bei pN1 86%,
das 10-Jahres-Gesamtüberleben 100%. Das Teratomgewebe, welches nicht auf Chemotherapie
anspricht, wurde primär seziert, sodass sich auch das Risiko eines späteren Rezidivs
vermindert. Vor diesem Hintergrund bleibt zu fragen, ob der retroperitonealen Lymphadenektomie
in diesen frühen Stadien nicht doch wieder ein höherer Stellenwert eingeräumt werden
sollte. Allerdings setzt dies eine entsprechende Expertise im nerv-protektiven Operieren
voraus, denn der Verlust der Ejakulation wird für die meist jungen Männer schwerer
wiegen als die mäßige Toxizität durch zwei Kurse PEB.
Literatur beim Autor
Dr. Susanne Krege, Essen
Prof. Dr. Herbert Leyh, Garmisch-Partenkirchen