Dirk Müller-Wieland, Asklepios-Klinik St.Georg, I. Med. Abteilung: Allgemeine Innere
Medizin, Gastroenterologie, Endokrinologie, Diabetes und Stoffwechsel, Hamburg
Die Daten der UKPDS (UKPDS Group. United Kingdom Prospective Diabetes Study. Diabetes;
1995; 44: 1249-1258) wiesen bereits auf die Limitationen bestehender Optionen zur
Therapie des Typ-2-Diabetes hin. Eine wesentliche Beobachtung war, dass unabhängig
von der eingeschlagenen Therapie (konventionell und mit Diät, mit Metformin oder mit
Sulfonylharnstoffen) über die Jahre ein kontinuierlicher Anstieg der HbA1C-Werte und ein kontinuierlicher Rückgang der Betazellfunktion zu beobachten war (Abb.
[1]). Epidemiologisch findet sich eine stetig ansteigende Zahl an Diabetespatienten.
Diese Situation verlangt sowohl nach einem Überdenken des pathophysiologischen Konzeptes
vom Typ-2-Diabetes als auch nach einer neuen therapeutischen Antwort.
Abb. 1 Anstieg der HbA1C-Werte bei übergewichtigen Patienten mit diätetisch bzw. medikamentös behandeltem
Typ-2-Diabetes: Ergebnisse der United Kingdom Prospective Diabetes Study (UKPDS)
Wie kommt es zur Manifestation des Typ-2-Diabetes?
Heute ist bekannt, dass eine reduzierte Insulinsensitivität in Muskel- und Fettgewebe
zunächst durch eine gesteigerte pankreatische Insulinsekretion kompensiert wird. Zur
Manifestation eines Typ-2-Diabetes kommt es erst dann, wenn diese Kompensation nicht
mehr ausreichend ist. Eine Hyperglykämie beim Typ-2-Diabetes ist damit nicht nur die
Folge einer Insulinresistenz, sondern auch besonders einer Störung in der Funktion
der Langerhans-Inseln. Hier sind mehrere Mechanismen zu beobachten, die in ihrer Gesamtheit
zur Störung der Glukosehomöostase beitragen:
-
Die Insulinsekretion durch die Betazellen als Antwort auf einen erhöhten Blutzuckerspiegel
ist reduziert. Eine genauere Analyse der Insulinantwort zeigt, dass vor allem deren
erste Phase dramatisch betroffen ist.
-
Die prozentuale Verteilung zwischen Alpha- und Betazellen innerhalb der Inseln verschiebt
sich zu Gunsten der Glukagon sezernierenden Alphazellen.
-
Die Glukagonsekretion durch die Alphazellen wird im Rahmen einer postprandialen Antwort
nicht reduziert, sondern kann kurzfristig sogar ansteigen.
Zusammenfassend stellt sich die Manifestation eines Typ-2-Diabetes aus heutiger Sicht
als Ergebnis einer Fehlfunktion verschiedener Organsysteme dar: einer reduzierten
Glukoseaufnahme durch Muskel- und Fettgewebe, einer gesteigerten hepatischen Glukoseproduktion
sowie einer Inselzellstörung, die zu einer reduzierten Insulin- und einer gesteigerten
Glukagonsekretion führt.
Inkretine - eine neue Hormongruppe im Fokus
Parallel zu diesem Paradigmenwechsel im Verständnis der Pathologie des Typ-2-Diabetes
rückt eine neue Hormongruppe in den Fokus der Therapie: die Inkretine. Bereits vor
über 100 Jahren wurde berichtet, dass Faktoren im Darm die Hormonabgabe durch das
Pankreas maßgeblich beeinflussen. Heute wissen wir, dass es sich bei diesen Faktoren
um die Inkretine handelt. Wesentlich zum Verständnis ihrer Bedeutung und Wirkungsweise
ist eine als Inkretineffekt bekannte Beobachtung: Wird einer Versuchsperson eine Glukosemenge
auf oralem oder intravenösem Wege gegeben, die zu identischen Plasmaglukosespiegeln
führt, so findet sich nach oraler Glukosezufuhr eine wesentlich stärkere Insulinantwort.
Ursächlich sind die Inkretinhormone, die bei oraler Glukosegabe aus dem Darm in das
Blut ausgeschüttet werden.
Heute wissen wir zum einen, dass Inkretine für bis zu 70 % der postprandialen Insulinantwort
verantwortlich sind; zum anderen, dass der Inkretineffekt bei Typ-2-Diabetikern erheblich
reduziert ist.
Wichtige Vertreter der Inkretine sind das Glucose-dependent Insulinotropic Peptide
(GIP) und das Glucagon-Like-Peptide-1 (GLP-1). Allerdings besitzen Typ-2-Diabetiker
meistens normale GIP-Plasmaspiegel. Der Einfluss von GIP auf die Pathogenese des Typ-2-Diabetes
scheint also weniger auf eine reduzierte Sekretionsrate als vielmehr auf eine reduzierte
Betazellantwort auf GIP zurückzuführen zu sein. Anders dagegen GLP-1: Die postprandialen
Werte dieses Inkretinhormons sind bei Typ-2-Diabetikern signifikant reduziert. Es
scheint damit maßgeblich zum verringerten Inkretineffekt beizutragen. GLP-1 stimuliert
die Insulinausschüttung durch Betazellen und hemmt zusätzlich die Glukagonsekretion
der Alphazellen. Die Magenentleerung wird verzögert, sodass Nährstoffe langsamer in
die Zirkulation einströmen; das Hungergefühl nimmt ab, die Sättigung setzt schneller
ein, und die Kalorienaufnahme sinkt. Ferner stimuliert GLP-1 die Betazellregeneration
und -neogenese.
Beim Stoffwechselgesunden werden die Inkretinfreisetzung und in der Folge die Insulinsekretion
durch eine Nahrungsaufnahme stimuliert. Diese Glukoseabhängigkeit der insulinotropen
Wirkung ist ein wesentliches Kriterium für ein Inkretinhormon und gleichzeitig ein
großer Vorteil für die therapeutische Anwendung. Denn GLP-1 wirkt nur im hyperglykämischen
Bereich und kann deshalb vom Wirkprinzip her keine Hypoglykämien verursachen. Allerdings
wird eine pharmakologische Anwendung von GLP-1 durch dessen sehr kurze Halbwertszeit
von wenigen Minuten erschwert. Das Enzym Dipeptidyl-Peptidase-4 (DPP-4) inaktiviert
GLP-1 durch N-terminale Abspaltung von zwei Aminosäuren. Um das Inkretinkonzept dennoch
für eine antidiabetische Therapie zu nutzen, gibt es zwei Optionen:
-
Die Gabe eines künstlichen Inkretinhormons, das von der DPP-4 nicht enzymatisch gespalten
wird. Dieser Ansatz führt zu unphysiologisch hohen Spiegeln und eine subkutane Anwendung
durch Injektion ist erforderlich.
-
Die Verhinderung des Abbaus von humanem GLP-1 durch Hemmung der DPP-4. Dies ermöglicht
eine physiologische Blutzuckerkontrolle. Durch Nutzung des körpereigenen Systems werden
physiologische Inkretinwirkspiegel wiederhergestellt und Insulin bedarfsgerecht ausgeschüttet.
Mit Sitagliptin steht der erste zugelassene DPP-4-Hemmer oder Inkretinverstärker für
eine therapeutische Anwendung zur Verfügung. Er erlaubt eine effektive Blutzuckersenkung
mit günstigem Nebenwirkungsprofil. Inwieweit sich durch Inkretinverstärkung auch die
Pathogenese des Typ-2-Diabetes beeinflussen lässt, wird die Zukunft zeigen.