Der Klinikarzt 2006; 35(10): XX-XXI
DOI: 10.1055/s-2006-954438
Recht

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Ärztliche Sorgfaltspflicht - Organisationsverschulden in der Klinik

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Publication Date:
02 November 2006 (online)

 
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Jeder Arzt trägt nicht nur eine große Verantwortung für seine Patienten, in seiner täglichen Arbeit ist er auch erheblichen Haftungsrisiken ausgesetzt. Dabei fürchten die meisten Mediziner vor allem Klagen aufgrund eines klassischen Behandlungsfehlers. Probleme aus dem organisatorischen Bereich dagegen werden häufig unterschätzt.

Zunehmend komplexer werdende Behandlungsmethoden, aber auch die Einführung des Arbeitsschutzgesetzes und der daraus resultierende "Schichtbetrieb", haben dazu geführt, dass immer mehr Personen an der Behandlung eines Patienten mitwirken. Die Folge ist eine starke Arbeitsteilung in fast allen medizinischen Bereichen.

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Komplexe Strukturen benötigen sorgfältige Überwachung

Diese Entwicklung birgt aber Gefahren, weil unter anderem die Planung, die Koordination und die Kontrolle des klinischen Alltags mehr Umsicht erfordert. Je mehr Ärzte, Techniker und Hilfskräfte an der Diagnose und Therapie eines Patienten beteiligt sind und je komplizierter und gefährlicher apparative und medikamentöse Therapien werden, umso stärker muss die Organisation dieser Zusammenarbeit überwacht werden.

Vor diesem Hintergrund gewinnen ärztliche organisatorische Sorgfaltspflichten in allen Bereichen des klinischen Alltags eine immer größere Bedeutung. Der umfangreiche Pflichtenkatalog richtet sich dabei primär an die verantwortlichen Krankenhausträger und Chefärzte, zum Teil jedoch auch an die Oberärzte. Im Vordergrund stehen dabei vor allem die Überwachungs-, Auswahl- und Anleitungspflicht. Aber auch die Betriebsleitung bzw. das Direktorium bestehend aus Ärztlichem Direktor, Verwaltungsdirektor und Pflegedienstleitung können natürlich in die Pflicht genommen werden.

Wie weit die Verantwortlichkeit jeweils reicht, richtet sich dabei nach den tatsächlichen Verhältnissen des jeweiligen Krankenhauses. Eine generelle und allgemeingültige Regelung hierfür gibt es nicht. Maßgeblich können dabei die Größe des Hauses und die personelle Zusammensetzung des ärztlichen Dienstes sein. Hochschulkliniken müssen sicherlich höheren Anforderungen genügen als zum Beispiel kleinere Landkrankenhäuser.

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Organisationspflichten des Chefarztes sind umfassend

Chefärzte sind grundsätzlich verpflichtet, ihre Abteilung so zu organisieren, zu leiten und zu überwachen, dass Patienten bei der Diagnostik und Therapie keinen Gefahren ausgesetzt sind. Sie müssen dafür sorgen, dass ihre Mitarbeiter ausreichend qualifiziert sind und aufgrund ihrer fachlichen und charakterlichen Qualifikation ein selbstständiges Arbeiten gewährleisten können. In jeder Behandlungsphase muss ein qualifizierter Arzt bereitstehen, der - wenn es erforderlich ist - eingreifen kann.

Assistenzärzte dürfen demnach nur solche medizinischen Handlungen verrichten, denen sie nach ihrer Kenntnis und ihrem Ausbildungsstand gewachsen sind. Mit zusätzlichen Gefahren für den Patienten darf der Einsatz eines Assistenzarztes nicht verbunden sein. Daher sind Chefärzte verpflichtet, Assistenzärzte durch regelmäßige Visiten zu beobachten und zu überprüfen oder sie durch einen Oberarzt überwachen zu lassen. Dies gilt verstärkt bei noch unerfahrenen Assistenzärzten.

Leisten Assistenzärzte einen Bereitschaftsdienst ab, muss sichergestellt sein, dass sie über das hierfür erforderliche Fachwissen und die nötige Routine verfügen. Besonders wichtig ist dies bei den so genannten fachübergreifenden Bereitschaftsdiensten, die juristisch sicherlich die größten Probleme bereiten.

Assistenzärzte müssen immer (am besten durch eine schriftliche Dienstanweisung) eindeutig angewiesen werden, bei Unsicherheiten oder Notfällen sofort den in Rufbereitschaft befindlichen Oberarzt oder Chefarzt telefonisch zu kontaktieren. Die Rufbereitschaft muss kurzfristig zur Stelle sein, da nur so der von den Gerichten bei jeder Behandlung von Patienten geforderte Facharztstandard gewährleistet ist.

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Personelle Engpässe schon im Vorfeld vermeiden

Zudem verhindern klare Einsatzpläne und Vertretungsregeln Arbeitsüberschneidungen bei der Kooperation fachübergreifender Ärzte, die zu Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der entsprechenden Kompetenzen führen können.

Kommt es aufgrund von wirtschaftlichen Einsparungen im Krankenhaus zu personellen Engpässen, ist es nach Auffassung mancher Gerichte ebenfalls Aufgabe des Chefarztes, insbesondere den Krankenhausträger nachhaltig und wiederholt auf diese Missstände aufmerksam zu machen: Nur dann muss er sich später selbst nicht dem Vorwurf eines Organisationsverschuldens aussetzen, wenn aufgrund dieser personellen Situation ein Schaden entsteht.

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Zivilrechtliche und strafrechtliche Beurteilung

Kommt ein Patient im Organisationsbereich des Krankenhauses zu Schaden, haftet neben dem Arzt, der die Behandlung durchgeführt hat, immer häufiger auch der verantwortliche Chefarzt und/oder der Krankenhausträger, wenn der Fehler auf einen organisatorischen Mangel zurückzuführen ist. Sogar strafrechtlich kann gegen die Verantwortlichen vorgegangen werden.

Zivilrechtlich kann ein Patient Schadensersatzansprüche und Schmerzensgeld geltend machen. Im Rahmen des Strafrechts kann ein Organisationsverschulden sogar zu einer Verurteilung wegen fahrlässiger Körperverletzung oder sogar fahrlässiger Tötung des für die Organisation verantwortlichen Arztes führen.

Bei der fahrlässigen Körperverletzung handelt es sich um ein so genanntes Antragsdelikt. Damit muss entweder der Patient selbst einen Strafantrag stellen oder die Staatsanwaltschaft kann von Amts wegen ermitteln, wenn ein so genanntes "öffentliches Interesse" vorliegt. Ein solches wird gerade bei ärztlichen Behandlungs-, Organisations- und Aufklärungsfehlern jedoch stets angenommen. Bei fahrlässiger Tötung ist dagegen kein Strafantrag nötig.

Die Verurteilung zu einer Geldstrafe kann neben arbeitsrechtlichen Konsequenzen auch eine berufsrechtliche und approbationsrechtliche Überprüfung nach sich ziehen. Auch eine Ermächtigung für den ambulanten Bereich kann eine strafrechtliche Verurteilung tangieren.

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Risikomanagement fußt auf engagierter Mitarbeit aller

Bevor es zum Besuch des Staatsanwalts kommt, sollte bereits im Vorfeld versucht werden, organisatorische Missstände zu erkennen und zu beheben. Ein geeignetes Risikomanagement kann hierbei helfen.

Primär ist eine ausreichende personelle Besetzung erforderlich. Mitarbeiter sollten sensibilisiert werden, Organisationsmängel wahrzunehmen und auf diese hinzuweisen. Dies kann zum Beispiel durch die Bildung einer Risikomanagementgruppe geschehen. Aufgabe dieser Gruppe kann es sein, nach Möglichkeiten zu suchen, Organisationsmängeln bereits präventiv zu begegnen oder bestimmte Maßnahmen (z.B. ein "critical incident reporting system" (CIRS)) zu installieren.

Diese spezielle Computersoftware ist an ein ähnliches System der Berufspiloten angelehnt. Jeder Arzt kann anonym über kritische Zwischenfälle berichten und sich gleichzeitig Rat bei Kollegen holen. Die Auswertung dieser Berichte zeigt Missstände auf, die dann zu beseitigen sind. Viele Kliniken setzen diese Option bereits erfolgreich ein.

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Prävention ist "die halbe Miete", wegsehen dagegen verboten

Der beste Ansatz, um sich dem Vorwurf des Organisationsverschuldens gar nicht erst auszusetzen, ist Prävention im eigenen Haus. Organisationsabläufe müssen auf Übereinstimmung mit den juristischen Vorgaben überprüft und gegebenenfalls optimiert werden.

Ein häufiger falscher Ansatz ist, sich "keinen Ärger einhandeln" zu wollen und daher eine Art Vogelstraußpolitik zu betreiben. Kommt ein Patient aufgrund eines organisatorischen Mangels zu Schaden, interessiert es die Staatsanwaltschaft und den Strafrichter wenig, aus welchen Gründen man davon abgesehen hat, auf organisatorische Mängel hinzuweisen oder diese abzuschaffen. Auch auf die Unterstützung seitens des Krankenhausträgers oder der Kollegen kann man sich nicht verlassen. Häufig ist leider genau das Gegenteil der Fall.

Eine gute Organisation ist auch immer im Interesse der Geschäftsführung und des Krankenhausträgers. Auch dort werden die verantwortlichen Personen immer häufiger strafrechtlich zur Verantwortung gezogen - insbesondere, wenn sie von ihren Mitarbeitern bereits auf die Missstände hingewiesen wurden, die dann zu dem Schaden geführt haben.

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Verhältnismäßigkeit muss gewahrt sein

Unerfreulich sind jedoch die Erfahrungen mit den Strafgerichtsverfahren. Denn dort werden häufig (auch von den gerichtlich bestellten Sachverständigen) Maßstäbe für die Organisation vertreten, die mit der Klinikrealität nicht mehr übereinstimmen. Dieses Manko lässt sich letztlich nur beheben, wenn die eingesetzten Sachverständigen aus vergleichbaren Krankenhäusern mit einem ähnlichen Hintergrund im Klinikalltag stammen.

Ein Chefarzt eines Universitätskrankenhauses zum Beispiel legt unter Umständen für ein kleines Landeskrankenhaus unrealistische organisatorische Maßstäbe an. In diesen Fällen besteht jedoch eine nicht unerhebliche Gefahr, dass es tatsächlich zu einer Verurteilung kommt.

Dr. iur. Isabel Häser, Rechtsanwältin, Ehlers, Ehlers & Partner, München