Zur Langzeittherapie der Multiplen Sklerose werden zur Basistherapie schubförmiger
Verläufe der Multiplen Sklerose Interferon-Präparate und Glatirameracetat (Copaxone®)
eingesetzt. Im Vergleich zu Plazebo verringert beispielsweise die tägliche Injektion
von Glatirameracetat die Schubrate etwa um ein Drittel. Bisher wurden rund 90000 Patienten
weltweit mit diesem Präparat behandelt. Wir sprachen jetzt mit Priv.-Doz. Dr. Jürgen
Koehler, dem langjährigen Leiter der MS-Spezialambulanz der Universität Mainz, der
gerade nach Hamburg gewechselt ist, über seine Erfahrungen in der Langzeittherapie.
Viele Patienten in der Langzeittherapie setzen von sich aus, entgegen dem Rat ihrer
Ärzte, ihre Medikation ab. Ist das nicht etwas kurzfristig gedacht?
Koehler: Natürlich sind alle Therapien für eine Langzeittherapie angelegt, das heißt über
Jahre. Das Problem bei der Behandlung der MS ist, dass die Patienten nicht direkt
merken, ob die Therapie für sie optimal greift oder nicht. Das heißt, sie spritzen
sich unter Umständen täglich, wissen aber nicht, ob diese prophylaktische Maßnahme
für sie jetzt erforderlich ist oder ob ihre Erkrankung sonst genauso verlaufen würde.
Dabei werden sie oft spritzenmüde. Dies liegt häufig daran, dass die Patienten über
die Ergebnisse, die mit einer Langzeittherapie erreicht werden können, nicht adäquat
informiert sind. Andererseits laufen kontrollierte Studien zur Behandlung der MS meist
maximal zwei Jahre und was danach kommt, weiß man eigentlich nicht so genau. Die Patienten
schlussfolgern daraus: Sie müssen ihre Präparate nur zwei Jahre nehmen, diese Zeit
ist sicher und anschließend kann man die Medikamente absetzen. Wir haben keine Zehnjahresdaten
der Evidenzklasse I, weil wir doppelblinde plazebokontrollierte Studien nicht so lange
durchführen können.
Für Copaxone können jetzt aber die ersten Zwölfjahresdaten ausgewertet werden, die
prospektiv erhoben worden sind. Die Daten wurden also nicht abgefragt und die Patienten
nachträglich evaluiert, sondern die Patienten von Beginn der Zulassungsstudien an
und danach über die Studienphase hinaus beobachtet und halbjährlich untersucht. Dabei
wurden die Ergebnisse genau dokumentiert, um zu sehen, ob die Behandlung mit Copaxone
über diesen so langen Zeitraum einen Effekt hat.
Und wie waren Ihre Erfahrungen über diesen Zeitraum?
Koehler: Die Erfahrungen mit Copaxone waren sehr gut. Wir haben schon früher gesehen, dass
sich der Effekt von Copaxone nach vier, fünf Jahren noch verstärkt, sich also nicht
abschwächt. Das hat sich jetzt nach unseren Daten auch über die Studiendauer von zwölf
Jahre bestätigt. Der Wirkeffekt über diese Zeit ist gut. So sind auch unsere Erfahrungen,
die wir in der Uniklinik Mainz mit Copaxone gemacht haben. Die Patienten bleiben,
wenn sie das Präparat über mindestens vier bis fünf Jahre nehmen, sehr stabil. Ich
habe zur Zeit eine Patientin, die seit acht Jahren mit Copaxone behandelt wird. In
dieser ganzen Zeit hat sie nur noch einen milden Schub entwickelt. Sie weist nach
dieser Zeit noch immer einen EDSS-Wert von Null auf, ist also nach wie vor behinderungsfrei.
Das sind Ergebnisse, die man gerne an die Patienten vermittelt.
Auch unter dem Aspekt der Nebenwirkungen, die einen wichtigen Einfluss auf die Compliance
haben, hat Copaxone in der Langzeitbeobachtung gut abgeschnitten. Von den ursprünglich
251 Patienten, die in die Zulassungsstudie eingeschlossen wurden, führten nach 12
Jahren noch 108 Patienten die Behandlung mit Copaxone weiter und erschienen regelmäßig
zu den Kontrollen. Dies entspricht im Vergleich zu anderen Studien einer sehr niedrigen
Dropoutrate über diesen langen Zeitraum. Wir haben in dieser Zeit auch keine neuen
schwerwiegenden Nebenwirkungen gesehen, die ein weiterer Grund sind, warum solche
Langzeiterhebungen notwendig sind. Haben die Patienten ihre Spritzenangst erst einmal
überwunden, sind keine weiteren Nebenwirkungen wie z.B. grippeähnliche Symptome mehr
zu erwarten.
Ein Problem der Langzeitbehandlung von MS mit Interferonen ist die Bildung von Antikörpern.
Hat man bei Copaxone, das ja ebenfalls gespritzt wird, ebenfalls Antikörper beobachtet?
Koehler: Auch unter Copaxone hat man Antikörper nachgewiesen. Man muss aber unterscheiden
zwischen den Effekten, die die Antikörper hervorrufen. Bei den Interferonen wurden
so genannte neutralisierende Antikörper gefunden, die die Wirkung eines Präparates
abschwächen. Dann gibt es unspezifische Antikörper, die gegen jeden fremden Stoff
entstehen, der in den Körper eingebracht wird. Unter Copaxone wurden bisher nur solche
unspezifischen Antikörper beobachtet, die aber keinen Einfluss auf die Wirkung des
Präparates haben. Dies ist ein entscheidender Aspekt bei der Behandlung mit Copaxone:
Der neutralisierende Effekt, den wir von den Interferonen kennen, insbesondere den
subkutan verabreichten, tritt hier nicht auf.
Kann man dann Patienten, die unter Interferonen neutralisierende Antikörper entwickelt
haben, auf Copaxone umstellen?
Koehler: Das ist eine klassische Switch-Situation. Wenn Patienten mit Interferonen begonnen
haben, und der Effekt der Interferone greift aus welchem Grund auch immer nicht mehr,
dann ist Copaxone sicherlich das Mittel der Wahl.
Sehr geehrter Herr Priv.-Doz. Dr. Koehler, vielen Dank für das Gespräch!