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DOI: 10.1055/s-2006-954403
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Die Para-Schulter: Läsion des Anterior-superioren-Komplexes (Labrum, SGHL, SSC) und dessen arthroskopische Behandlung
Dr. J. Krzycki
Orthopädische Abteilung, Schweizer Paraplegiker Zentrum Nottwil
Guido-Zäch-Strasse 1 CH-6207 Nottwil
Email: jacek.krzycki@paranet.ch
Dr. T. Tischer
Prof. Dr. AB. Imhoff
Abteilung und Poliklinik für Sportorthopädie, TU München
Connollystr. 32, 80809 München
Publication History
Publication Date:
05 October 2006 (online)
- Meist chronifizierte Schmerzen
- Läsion des Anterior-superioren- Komplexes
- Vorläufige Studienergebnisse
- Schlussfolgerungen für die Praxis
Schulterschmerzen paraplegischer Personen sind weit verbreitet, durchschnittlich jede zweite querschnittsgelähmte Person erleidet Schmerzen im Bereich der Schulter. Da Rollstuhlfahrer zur selbstständigen Bewältigung der alltäglichen Aktivitäten auf ihre Arme angewiesen sind, wird das Schultergelenk in sehr starker und teilweise unphysiologischer Art und Weise belastet.
Schaut man sich den Alltag eines Rollstuhlfahrers an, liegt die Vermutung nahe, dass die Schultermuskulatur aufgrund der Überbelastung v.a. beim Transfer und Rollstuhlfahren ermüdet (siehe Abb. [1] und [2]) und dadurch die dynamische Zentrierung des Oberarmkopfes während der Bewegung nicht mehr gewährleistet ist. In der Entstehung des Schadens im Frühstadium der - wie wir es nennen - "Para-Schulter" halten wir die Fortbewegung im Rollstuhl als viel bedeutsamer als den Transfer. Unphysiologische Gelenksbelastungen beim Rollstuhlfahren mit vermehrter, ruckartiger anterorsuperiorer Translation des Humeruskopfes führen dabei zu einer mikrotraumatischen Schädigung des Anterior-superioren-Komplexes (Labrum glenoidale, superiores glenohumerales Ligament, M. subscapularis).
#Meist chronifizierte Schmerzen
Eine weitere Besonderheit querschnittsgelähmter Personen, ist ihre Gewöhnung an den Schmerz aufgrund ihrer hochgradigen neuropathischen Beschwerden und spastischer, schmerzhafter Muskelkontraktionen. Ihr Leidensweg ist durch lange Spitalaufenthalte und viele spezifische Komplikationen, vor allem kardiopulmonal, Dekubitalulzera und chronische Harnwegsinfekte gekennzeichnet. Dementsprechend spät stellt sich ein Rollstuhlfahrer in einer Schultersprechstunde vor. Zum Zeitpunkt der Vorstellung sind die Schmerzen dann oft schon chronifiziert und auch nach intrartikulären oder subakromialen Kortisoninjektionen nicht mehr beherrschbar, oder es ist bereits ein wesentlicher Funktionsverlust eingetreten. Meistens bedeutet das eine Behinderung beim Körpertransfer, dem Vorgang, der eine Unabhängigkeit eines Gelähmten von Hilfspersonen bestimmt. Diese Tatsache hat die allgemeine Meinung zufolge, dass gerade der Transfer für den Hauptfaktor bei der Entstehung des Schulterschadens gelähmter Personen gehalten wird. Dies ist in den frustranen Ergebnissen operativer Versorgung bei fortgeschrittenen Läsionen zu beobachten.
Die Gründe für die späte Vorstellung liegen also bei der veränderten Einstellung der Patienten zum Schmerz, bei der Angst vor einem langen stationären Aufenthalt und vor der Hilflosigkeit in der postoperativen Phase. Diese Tatsachen haben auch eine zurückhaltende Einstellung der Schulterchirurgen zur operativen Versorgung kleinerer Schäden geprägt. Hier setzten sich mehrere Faktoren zusammen: Auf der einen Seite bedeutet ein relativ kleiner rekonstruktiver Eingriff einen langen stationären Aufenthalt mit hohem pflegerischen Aufwand, der vor dem Kostenträger gerechtfertigt werden muss, anderseits ist man sich nicht sicher, wie lange das Operationsergebnis halten wird und wann es zu einem erneuten Schaden der dermaßen belasteten Schulter kommt.
Im Gegensatz dazu postulieren wir eine frühzeitige arthroskopische Rekonstruktion des Schadens, bevor es zu irreversiblen Spätschäden kommt, was wir im Folgenden genauer erläutern möchten.
#Läsion des Anterior-superioren- Komplexes
Eine klinische Evaluation aus unserer Sprechstunde "Obere Extremitäten" ergibt bei den gelähmten Rollstuhlfahrern mit kurzer Schulterschmerzanamnese einen für Läsionen des Anterior-superioren-Komplexes typischen Befund: positive Bizepssehnentest, schmerzhafte und abgeschwächte Innenrotation bei ansonsten unauffälliger Kraftentwicklung. Die Rotation in der Abduktion ist deutlich eingeschränkt, sowohl das Einwärts- als auch das Auswärtsdrehen. Es besteht dabei keine begleitende Makro-Instabilität der Schulter.
Aufgrund des anterioren Labrumschadens zeigt sich in der bildgebenden Diagnostik wiederholt ein Befund, der leicht als eine anatomische Anomalie des anterioren superioren Labrums in Form eines Buford-Komplexes oder eines sublabralen Foramens fehlinterpretiert werden kann. Eine für SLAP-Läsionen (=Ablösungen des superioren Labrums von anterior nach posterior) typische durchgehende Ablösung des posterioren superioren Labrums liegt dabei nicht vor oder kommt nur in einem geringen Umfang zur Darstellung. Vergesellschaftet sind die Veränderungen oft mit einem Schaden oder einer Subluxation der langen Bizepssehne und mit einer Läsion des M. subscapularis. Auch diese werden oft nicht als ein pathologischer Befund erfasst, da sie nicht selten nur in einer Schnittebene erkannt werden können. Das ist auch der Grund, warum sie als Anomalien und anatomische Varianten interpretiert werden können. Unabhängig von der Ausprägung des Schadens ist meistens zusätzlich eine symptomatische oder asymptomatische ACG-Artrose vorhanden.
Bei der arthroskopischen Behandlung erkennt man dann die Läsion des Anterior-superioren-Komplexes. Immer findet sich hierbei eine Läsion des anterior-superioren Labrums, die je nach Ausmaß von Veränderungen im Bereich des superioren glenohumeralen Ligamentes, Auffaserungen am Ansatz des M. subscapularis, Läsionen der Pulley-Schlinge mit teilweiser Sub/ Luxation der langen Bizepssehne und relativ selten korrespondierend dazu Knorpelschäden am anterior-superioren Humeruskopf begleitet sein kann (Abb. [3a] und [b]).
#Vorläufige Studienergebnisse
Seit Januar 2005 haben wir in unserer Klinik 37 Schultergelenke von Paraplegikern operiert. Dabei handelte es sich um 10 Frakturen, 4 Massenrupturen der Rotatorenmanschette mit kompletter Retraktion der Sehne, 6 isolierte M. supraspinatus/M. subscapularis-Rupturen (I-II n. Patte). Häufig fand sich dabei zusätzlich eine aktivierte ACG-Arthrose, wegen einer isolierten ACG-Arthrose wurde nur in einem Fall operiert. Drei anteriore glenohumerale Instabilitäten und 2 SLAP-Läsionen. In unserem Krankengut fanden sich 12 Läsionen im Anterior-superioren-Komplexbereich: Obligat war dabei eine anterior-superiore Labrumläsion. Zusätzlich kamen vor: Zwei Tendinitis/beg. Teilruptur der langen Bizepssehne, 6 mit Pulley-Läsion/ Ruptur des kranialen Ansatzes der Subscapularissehne, eine Intervalläsion.
In der vorliegenden Studie haben wir Patienten mit einer Läsion des Anterior-superioren-Komplexes berücksichtigt. Patienten mit Rotatorenmanschettenläsionen im Bereich des M. supraspinatus oder infraspinatus wurden nicht berücksichtigt. Alle Patienten werden derzeit mittels Arthro-MRT, Constant und ASES-Score (modifiziert durch WUSPI; Curtis et. al 1995) erfasst. Zusätzlich wurden Slow-Motion-Analysen der Fortbewegung im Rollstuhl im Videolabor durchgeführt.
Operativ erfolgten bei Anterior-superiorer-Komplexläsion die arthroskopische Refixation des Labrums und Reinsertion der Sehne des M. subscapularis mit Rekonstruktion des Pulley-Apparates. Zusätzlich erfolgte eine Glättung und Denervation der aufgefransten Strukturen. Die Refixation des Labrums erfolgte bei allen Patienten mittels 2 Bio-FASTak-Ankern ventral, bei den Labrumablösungen, die den Bizepsanker nach dorsal überschritten haben. Eine begleitende symptomatische ACG-Arthrose wurde mittels arthroskopischer ACG-Resektion versorgt. Bei ausgedehnte Schäden sowie Luxation der langen Bizepssehne wurde diese mit einer Tenodese versorgt. Meist lagen dann auch fortgeschrittene Befunde an der Rotatorenmanschette vor. Diese ausgedehnten Läsionen waren aber nicht Teil der Studienpatienten.
Die Auswertung unseres kurzen Nachuntersuchungszeitraumes ergibt bei allen Patienten eine Besserung der Beschwerden. Dies betrifft vor allem Belastungen auf langem Hebel (Rollstuhlverladen), nächtliche Schmerzen und eine Erweiterung der sportlichen Aktivität. Der durchschnittliche Rückgang der Beschwerden beträgt 3 auf 10-Punkte-Skala.
Nach der Analyse der Fortbewegung im Slow-Motion-Modus sind wir der Auffassung, dass im Frühstadium nicht der selbstständige Körpertransfer für den Initialschaden verantwortlich ist. Dieser wird in den meisten Fällen ergonomisch ausgearbeitet, erlernt und ausgeführt. Der Transfer passiert nie zufällig und daher kann die Muskulatur bei intakten passiven artikulären Stabilisatoren in der Ba-lance wirken. Dabei müssen Belastungen am langen Hebel ausgeschlossen werden.
Im Unterschied zum anterioren Impingement nach Gerber, wo es zum pathologischen Kontakt des M. subscapularis kommt, finden sich hier bei Anterior-superiorer-Komplexläsion eher mikrotraumatisch verursachte Läsionen - aufgrund der typischen Fortbewegung im Rollstuhl mit Armhaltung in Elevation/Innenrotation/Adduktion des Armes. Eine ähnliche Pathogenese - jedoch an anderer Lokalisation - besteht bei dem Posterior-superioren-Impingement (PSI). Dabei findet sich bei Wurf-/Überkopfleistungssportlern häufig eine ebenfalls unphysiologische Belastung, die zu Läsionen des postero-superioren Labrums, teils mit begleitenden SSP- Läsionen sowie kleineren humeralseitigen Knorpelschäden führt.
#Schlussfolgerungen für die Praxis
Zum besseren Verständnis der Entstehung des Schulterschadens haben wir die Alltagsbelastungen nochmals zusammengestellt. Es sind die Transfers: Höhentransfer, Autotransfer, Rollstuhlverladen; Rollstuhlhandling: Fortbewegung, Überwinden von Rampen, Bordsteinen, Treppen, kontrollierter Sturz rückwärts.
Sämtliche Patienten mit einem rekonstruierten Frühschaden des Labrums und der Subskapularissehne zeigen eine signifikante Besserung der Beschwerden. Eine stabile, schmerzfreie Schulter gibt die beste Voraussetzung für eine differenzierte ergo- und physiotherapeutische Korrektur der Bewegungsabläufe und gezielten Aufbau der Muskulatur. Dies gilt vor allem bei der Fortbewegung im Rollstuhl.
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Die Rekonstruktion der passiven Stabilisatoren als Voraussetzung einer Zentrierung des Humeruskopfes auf dem Glenoid
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Neues Verständnis der Anatomie und Funktion des Schultergelenkes für die betroffenen Patienten
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Sensibilisierung des medizinischen Personals auf die Schulterproblematik bei Paraplegikern
Literatur beim Verfasser
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Dr. J. Krzycki
Orthopädische Abteilung, Schweizer Paraplegiker Zentrum Nottwil
Guido-Zäch-Strasse 1 CH-6207 Nottwil
Email: jacek.krzycki@paranet.ch
Dr. T. Tischer
Prof. Dr. AB. Imhoff
Abteilung und Poliklinik für Sportorthopädie, TU München
Connollystr. 32, 80809 München
Dr. J. Krzycki
Orthopädische Abteilung, Schweizer Paraplegiker Zentrum Nottwil
Guido-Zäch-Strasse 1 CH-6207 Nottwil
Email: jacek.krzycki@paranet.ch
Dr. T. Tischer
Prof. Dr. AB. Imhoff
Abteilung und Poliklinik für Sportorthopädie, TU München
Connollystr. 32, 80809 München