Pro
Gegen Ende der 50er-Jahre brach in der amerikanischen Stadt Seattle eine merkwürdige
Epidemie aus: immer mehr Autofahrer stellten fest, dass ihre Windschutzscheiben von
kleinen pocken- oder kraterähnlichen Kratzern übersäht waren. Hinsichtlich einer Erklärungstheorie
dieses Phänomens, das in der Folge Präsident Eisenhower sogar zum Einsetzen einer
Untersuchungskommission vor Ort veranlasste, zerfielen die Betroffenen in zwei Lager:
die „Fallout”-Fraktion mutmaßte einen Zusammenhang mit kürzlich zurückliegenden russischen
Atomtests, die „Asphalttheoretiker” verdächtigten ursächlich frisch asphaltierte Autobahnen.
Als die Männer des Eichamtes jegliche objektivierbare Zunahme zerkratzter Autoscheiben
schließlich verneinen konnten, erwies sich, dass die Berichte über die Existenz pockennarbiger
Autoscheiben in den Medien dazu geführt hatten, dass immer mehr Autobesitzer, anstatt
wie bisher von innen durch ihre Frontscheiben zu sehen, diese mittels genauer Aufsicht
untersucht hatten, indem sie sich von außen über ihre Scheiben beugten und sie auf
kürzeste Entfernung anstarrten, wobei sich unter diesem Blickwinkel bislang unerkannte
normale Abnützungsspuren erkennen ließen [1].
Die erhebliche Zunahme von als aufmerksamkeitsgestört diagnostizierten Patienten sowie
hiermit einhergehend die Verordnungshäufigkeit von Psychostimulanzien in den vergangenen
Jahren [2], zwingt zu einer distanziert kritischen Betrachtung dieses Phänomens. Unsicherheit
vermag insbesondere der Umstand zu erzeugen, dass die ADS-Diagnose in keiner Weise
auf diskret wahrnehmbaren Phänomenen fußt (wie dies z. B. bei einem Beinbruch der
Fall ist, entweder gebrochen oder eben nicht), sondern auf der synthetischen Betrachtung
einer quantitativ auffälligen Art und Weise, im Leben zu stehen. Hinzu kommt, dass
dieses „pattern” erst dann zum Problem wird, wenn es auf Umgebungs- und Erwartungsbedingungen
trifft, die damit nicht in Übereinstimmung zu bringen sind („not to fit”), was dieses
einer ähnlichen Problematik unterwirft, wie sie auch dem Psychopathiebegriff zugrunde
liegt, weil der Integrationsfähigkeit der Umgebung eine - vielleicht: entscheidende
- Wirkung in Hinsicht auf die Manifestation einer ADS-Problematik zukommt.
Eine um Entpathologisierung bemühte Sicht könnte „ADSler” ganz allgemein gesprochen
auch als Menschen verstehen, deren besondere neuronale Verdrahtung (oder Transmitterbesatz)
zu einer Fähigkeit (und Neigung) zur Parallelverarbeitung von Informationen bei gleichzeitiger
Filterschwäche führt. Bedingt dies einerseits die Gefahr einer Wahrnehmungsüberschwemmung
(„over-inclusement”), können Betroffene durch eine überdurchschnittliche Intelligenz
und Leistungsfähigkeit einer Dekompensation oft erfolgreich entgegenarbeiten. Verglichen
mit einem Computer würden ADSler also dazu neigen, mehrere Programme gleichzeitig
laufen zu lassen, wobei ein rasch taktender Prozessor bei deren Bewältigung hilfreich
ist. Da diese Arbeitsweise jedoch vergleichsweise viel Strom aus dem Akku zieht, muss
dieser über den Dynamo Stimulation zeitnah aufgefüllt werden, was im Ergebnis zur
bekannten Gradwanderung zwischen möglicher Über- bzw. Unterstimulation der Merkmalsträger
führt.
Insbesondere die Unterforderung, verbunden mit Empfindungen von Leere oder Langeweile
(„verdünnter Schmerz”), erklärt die äußerlich erkennbare Neigung zu motorischer (Hibbeln,
Ticks, Überbewegungen) oder pharmakologischer (Koffein, Nikotin, andere Drogen) Selbststimulation
Betroffener sowie das zwanghaft anmutende Aufsuchen aller Arten von Außen- bzw. Fremdstimulation
(„Dopamin-Junkies”, „sensation-seeking-behavior” mit Wahl entsprechender beruflicher
Tätigkeiten, aber auch Konfliktschürer, die provozieren und sich „zum Affen machen”).
Treffen hierbei mögliche Fehlanpassungen wie Stimmungslabilität, Sucht, Dissozialität
auf einen Behandler, der sich in der Pflicht fühlt, eine übergreifende Kategorisierung
in ein griffiges Krankheitskonstrukt vorzunehmen, ist ein neuer ADSler geboren. Für
den Betreffenden beinhaltet diese diagnostische Einordnung neben dem „Segen” nunmehr
spezialisierter professioneller Zuwendung einschließlich möglicher BTM-pflichtiger
pharmakologischer Unterstützung jedoch einen hohen Preis, der im Einschwingen auf
einen immensen identitätsbildenden Attraktor (ein Selbstkonzept mit Sogwirkung) besteht,
dem neben entlastenden („ach deshalb komme ich im Beruf mit Vorgesetzten nicht zurecht”)
auch aufwertende („auch Mozart und Einstein zählen ja angeblich zum Klub”) und durch
äußere Verstärker (Wucht der Randgruppenidentität) gestützte Implikationen innewohnen
und der sich in der Praxis als ausgesprochen schwer aufhebbar, ja geradezu „klebrig”,
erweist.
So kann man sich einen Jetpiloten konstruieren, der gerade aufgrund seiner ADS-Besonderheiten
im Cockpit über Jahre und Jahrzehnte seine überragenden Fähigkeiten ausspielen kann
(dort bekommt er ja auch ausreichend Stimulationsinput!) und der dann, aufgrund eines
Bandscheibenleidens zum Bodenpersonal versetzt anhand der ihn langweilenden Arbeit
„plötzlich mit ADS dekompensiert”.
Ist es akzeptabel, sich einem generalisierenden Krankheitskonzept zu- und unterordnen
zu lassen, das in Hinsicht auf seine „Verwirklichung” von solchen Variablen abhängig
ist? Oder gilt es nicht vielmehr, ADS-Eigenschaften im Einzelfall - ähnlich dem Zielen über Kimme und Korn beim Schießen - einem Abgleich mit den jeweiligen
individuellen Lebens- und Beziehungsanforderungen der Einzelsituation zuzuführen und somit hochindividualisierte Lösungsansätze ohne übergreifendes Konstrukt
vorzunehmen? Dies würde dann beispielhaft zu einer Aussage führen, wie sie mir seitens
eines meiner Klienten vorgetragen wurde: „Im Hinblick auf meine Tätigkeit als Biologielehrer
habe ich nach der zweiten Stunde ein ADS, wenn es mir aber gelingt, meinen Stundenplan
so zu gestalten, dass ich zwischen Biologie- und Sportunterricht hin und her wechseln
kann, habe ich kein ADS”.
Solcher Sichtweise kann mit der derzeitigen diagnostischen und therapeutischen Situation
nur unzureichend Rechnung getragen werden, nach welcher im Wunsch, zu einem objektiven
Ein- oder Ausschluss zu gelangen, eine Zuweisung zur Dichotomie betroffen/nicht betroffen
und damit mittelbar krank/gesund erfolgt, womit aus der Forderung nach einer Hochindividualisierung
in der Praxis eher die Gefahr einer Hochinvalidisierung entsteht.
Weil das so ist und weil nach meiner persönlichen Erfahrung und Überzeugung die Vorteile
dieses Vorgehens begonnen haben, hinter die Nachteile zurückzutreten, schlage ich
vor, die Sicherheit eines als Krankheitsentität festlegbaren ADS aufzugeben, wie dies
in Hinblick auf die Homosexualität in der Vergangenheit getan wurde. Um nochmals abschließend
mit Watzlawick zu sprechen: damit waren auf einen Schlag Millionen von Menschen geheilt!
Kontra
Die Wahrnehmung, Diagnostik und Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
(ADHS) bei Erwachsenen hat sich im vergangenen Jahrzehnt deutlich verändert. ADHS,
gekennzeichnet durch situationsübergreifende Störungen der Aufmerksamkeit, der Impulskontrolle,
motorische Hyperaktivität, Desorganisiertheit und Affektdysregulation wurde lange
Zeit ausschließlich als eine Störung des Kindes- und Jugendalters gesehen. Stand der
Wissenschaft durch Follow-up-Studien an Kindern ist heute, dass ADHS bei einem Teil
der Betroffenen (ca. 50 %) auch bis in das Erwachsenenalter weiter bestehen kann.
ADHS wird zunehmend verstanden als eine lebenslange Störung, die schwerwiegende Konsequenzen
für die Betroffenen haben kann [3].
Bezüglich der Prävalenz im Erwachsenenalter ergab eine kürzlich in den USA durchgeführte
epidemiologische Studie bei 3917 Personen im Alter von 18 - 44 Jahren eine Prävalenz
von 4,4 % für ADHS im Erwachsenenalter [4]. Auch Querschnittsuntersuchungen zeigten an verschiedenen Populationen (Führerscheinbewerber,
Studenten) Prävalenzen von über 4 %. ADHS hat für einen Teil der Erwachsenen schwerwiegende
negative Konsequenzen. Nach bisher vorliegenden Studienergebnissen besteht bei 60
- 80 % der betroffenen Erwachsenen mindestens eine weitere psychische Störung, hauptsächlich
affektive Störungen, Angststörungen und Substanzabhängigkeiten. Weniger gut untersucht
sind Persönlichkeitsstörungen, wobei Studienergebnisse ein erhöhtes Risiko für dissoziale
Persönlichkeitsstörungen bzw. delinquentes Verhalten konsistent belegen. Weitreichende
psychosoziale Folgen, wie Schulabschlüsse, Ausbildungen und berufliche Tätigkeiten
unterhalb des intellektuellen Begabungsniveaus, erhöhte Arbeitslosen- und Scheidungsrate,
Partnerschaftskonflikte, Beeinträchtigung von Erziehungsfunktionen, Selbstwertstörungen
und Beeinträchtigungen der Fahreignung wurden im Vergleich zu nicht betroffenen Kontrollprobanden
in Untersuchungen wiederholt beschrieben [5].
2003 sind Leitlinien zur Diagnostik und Therapie der Erwachsenen-ADHS veröffentlicht
worden, die Diagnosekriterien und - soweit vorhanden - evidenzbasierte Therapieempfehlungen
geben [6]. Ein multimodaler Ansatz, der den vorliegenden Symptomen, Funktionsstörungen und
komorbiden Störungen entspricht und Psychopharmakotherapie und Psychotherapie kombiniert,
wird favorisiert und - vielfach kritisiert.
Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer äußerte 2005, dass die Besorgnis
über die Zunahme der Verordnung von Stimulanzien (hier Methylphenidat) unbegründet
und eher Ausdruck einer Unterversorgung mit Medikamenten gewesen sei.
Kritikpunkte sind, dass 1. die Diagnose ADHS zu häufig gestellt, bzw. die Krankheit
als solche gar nicht vorhanden sei, sondern als Erklärung für ein vielfaches Versagen
der Umwelt oder der Personen selbst herhalten müsse, 2. die Diagnose die Betroffenen
bezüglich ihrer psychosozialen Probleme in Passivität verharren lasse und 3. die Therapie
mit Stimulanzien viel zu häufig erfolge, bzw. falsch sei.
Diagnosestellung
Die Diagnose ADHS ist eine klinische Diagnose, kein Test (biologische Marker, neuropsychologische
Testbatterien oder funktionelle Bildgebung) kann die exakte klinische Untersuchung
ersetzen. Die Diagnostik ist aufwändig und zeitintensiv, die Symptome müssen in ihrer
Zeitstabilität erfasst werden, eine Fremdanamnese erhoben und weitere Erkrankungen,
die die Symptome erklären könnten, ausgeschlossen werden. ADHS ist eine Ausschlussdiagnose.
Nur exaktes Arbeiten von Medizinern kann davor schützen, Fehldiagnosen zu stellen
und den Betroffenen Therapien vorzuenthalten. Erfahrungsberichte von Patienten zeigen,
dass die Diagnosestellung ihnen einen Kontext gab, Emotionen und Handlungen zu verstehen,
aber auch ihre Ressourcen zu nutzen. Patienten berichten, dass sie ihre Kindheit so
in Erinnerung haben, dass, was immer sie auch getan haben, nie gut genug war. Sie
mussten sich immer anstrengen, Dinge anders machen, nur wie, habe ihnen keiner gesagt.
Das National Institute of Mental Health stimmte 1998 in einem Consensus Statement
zu, dass verschiedene klinische Modelle für ADHS existieren und substanzielle Evidenz
für die Validität der Störung bestehe und betont die negativen Langzeitfolgen, die
aus nicht oder fehlender Diagnosestellung und Behandlung resultierten [7].
Psychosoziale Beeinträchtigung
Stellvertretend für diese Thematik soll der bisher wenig untersuchte Bereich der Elternschaft
bei Erwachsenen mit ADHS diskutiert werden. ADHS-Mütter werden als weniger konsistent
und ungeduldiger in ihrem Erziehungsverhalten beschrieben. In einer Studie von McGough,
der Eltern von Kindern, die ADHS hatten (n = 152) und Eltern ohne ADHS (n = 283) untersuchte,
zeigten sich bei den ADHS-Eltern mehr Substanzabhängigkeiten, depressive Störungen
und Angststörungen, auch fand sich ein früherer Beginn der Depression. Diese Komorbidität,
so interpretiert der Autor seine Ergebnisse, zeige nicht nur persönliches Leiden und
Fehlanpassung der Betroffenen, reflektiert durch niedrigen Bildungsstand und geringen
beruflichen Erfolg, sondern zeige auch den Einfluss auf die Familien, die durch die
elterliche Psychopathologie belastet sind. Mc Gough spricht hier von ADHS als „family
affair” [8]. Dies ist ein weiteres Argument für die ADHS-Diagnosestellung, denn Information
und Beratung entlasten und Prävention kann helfen, anders mit den psychosozialen Problemen
umzugehen.
Therapie
Kritisiert wird die Medikalisierung von abweichenden Verhaltensweisen. Die Therapie
mit Stimulanzien begünstige eine spätere Drogenabhängigkeit.
Wie oben dargestellt, ist die exakte Diagnosestellung die Voraussetzung dafür, um
mit dem Patienten im Sinne eines „shared decision making” Therapieoptionen zu besprechen,
u. a., ab wann behandelt werden soll und ob der Patient Stimulanzien einnehmen möchte.
Evidenz für die Wirksamkeit von Methylphenidat bei Erwachsenen mit ADHS liegt vor
[9], Studien konnten auch belegen, dass durch Methylphenidat keine Abhängigkeit induziert
wird, eine frühe Behandlung zeigte eine protektive Wirkung bezüglich Drogenkonsum
bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen [10]. In der Behandlung sollten auch Psychotherapien eine Rolle spielen. Allerdings liegen
bisher nur wenige Studien zur Wirksamkeit von Psychotherapie vor. Die Freiburger ADHS-Arbeitsgruppe
hat ein Manual für eine spezifische Gruppentherapie entwickelt und in einem kontrollierten
klinischen Versuch an 76 Patienten mit guten Ergebnissen in Bezug auf die ADHS-Symptomatik
durchgeführt [11].
Fazit
Die Diagnosestellung bei Erwachsenen mit ADHS ist notwendig und wichtig, weil die
Störung im Erwachsenenalter nach vorliegenden Studien häufig ist und mit vielfältigen
psychosozialen Beeinträchtigungen einhergeht, die in ätiologischem Zusammenhang mit
verschiedenen Vulnerabilitätsfaktoren zu sehen sind. Therapieziele sind Selbstmanagement
und Selbstkontrolle der ADHS-Symptome. Nur durch die Diagnosestellung kann dem Betroffenen
die Möglichkeit zur Auseinandersetzung und Veränderung seiner Erfahrungswelt gegeben
werden. Entscheidend für neue Lernprozesse ist, dass alternative Erfahrungen gemacht
werden, unabhängig davon, wie (durch Medikamente, Psychotherapie oder beides) diese
gemacht werden. Mit der Diagnose kann der Patient sich viele Voraussetzungen schaffen,
positive Erfahrungen zu machen, Ressourcen zu aktivieren. Und wir als Behandler sollten
die Perspektivenvielfalt der ADHS-Störung kennen und die Bereitschaft haben, uns mit
dem eigenen Handeln auseinanderzusetzen.
Eine Krankheit? Keine Krankheit? Die Auseinandersetzung um diese Frage ist in Gang
und polarisiert. Aber was sagen die betroffenen Erwachsenen? Ein kürzlich veröffentlichtes
Editorial im American Journal of Psychiatry plädiert dafür, die Wünsche des Patienten
wieder mehr in den Mittelpunkt zu stellen. Wir messen und messen und vergessen, die
Patienten zu fragen: Wie fühlen Sie sich? Dies als Aufforderung für uns alle [12]. Die gute Nachricht aus den verfügbaren Studien zum Thema ADHS ist die, dass ADHS
behandelbar ist. Die ADHS-Forschung ist sehr aktiv. Wir wissen zunehmend mehr über
die biologische Basis, beteiligte Gehirnstrukturen und bedeutsame Umwelteinflüsse,
Gen-Umwelt-Interaktionen sind wahrscheinlich. Und je mehr wir wissen, umso genauer
wird die Diagnostik und umso wirkungsvoller die Behandlung.