Pro
Arno Deister
Brauchen wir wirklich eine Debatte zu diesem Thema - und brauchen wir sie ausgerechnet
jetzt? Auf beide Fragen eine klare Antwort: Ja, wir brauchen diese Diskussion jetzt.
Um es aber gleich vorweg ganz deutlich zu machen: Bei dieser Diskussion kann es nicht
darum gehen, die jeweilige fachliche Kompetenz zu ersetzen oder aufzuweichen. Einheitliche
Leitung meint hier die einheitliche ökonomische und organisatorische Verantwortung
für den therapeutischen Bereich und den Bereich der psychiatrisch-psychotherapeutischen
Pflege - so wie sie heute noch definiert sind.
Die sog. „Integrierte Versorgung” ist in den letzten Jahren zu einer regelrechten
Zauberformel der Gesundheitspolitik geworden - und dieses Thema wird uns sicherlich
die nächsten Jahren begleiten. Man mag das begrüßen oder nicht - diese Diskussion
hat auch direkte Auswirkungen auf die organisatorischen Strukturen in der Psychiatrie
und Psychotherapie. Es wird in der aktuellen gesundheitspolitischen Diskussion regelmäßig
übersehen, dass in der Psychiatrie und Psychotherapie schon seit vielen Jahren sehr
umfassende Ansätze einer Integrativen Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen
umgesetzt werden. „Integrativ” bedeutet dabei sehr viel mehr als „integriert”. Integrative
Therapie hat nämlich den jeweiligen Menschen mit seinen Bedürfnissen, seinem Unterstützungsbedarf
und seinen gesunden Ressourcen im Blickfeld - und nicht nur die Überwindung der bestehenden
zersplitterten Versorgungsstrukturen.
Integrative Versorgung hat zu den teilweise dramatischen Veränderungen der letzten
20 Jahre in der Psychiatrie und Psychotherapie maßgeblich mit beigetragen. Die durchschnittlichen
Verweildauern in der stationären Behandlung haben sich massiv reduziert, das Indikationsspektrum
hat sich verschoben von Menschen mit psychotischen Erkrankungen hin zu immer mehr
Menschen mit schweren Formen der Persönlichkeitsstörung und affektiven Erkrankungen.
Insgesamt sind gerade in den psychiatrischen Krankenhäusern rehabilitative Ansätze
heute sehr viel stärker ausgeprägt als noch vor 10 Jahren. Natürlich brauchen auch
heute noch viele Menschen mit psychischen Erkrankungen eine längerfristige stationäre
Behandlung, aber diese wird verstärkt begleitet von teilstationären und ambulanten
Therapiemöglichkeiten.
Viele Kliniken haben sich diesen Veränderungen aktiv angepasst. Sie haben die organisatorischen
Strukturen verändert und Teamstrukturen geschaffen, die den integrativen Versorgungsbedarf
besser abbilden können. Ärztliche und psychologische Kompetenzen sind in ihrer klinischen
Tätigkeit stärker verzahnt als es früher denkbar erschien. Gleiches gilt für die Tätigkeit
von Sozialpädagogen, Ergotherapeuten, Musik- und Tanztherapeuten und für weitere therapeutisch
tätige Berufsgruppen. Diese Entwicklung geschieht ungeachtet der oft unterschiedlichen
Sichtweise auf Menschen mit psychischen Erkrankungen - oder vielleicht auch gerade
deshalb. Gemeinsame Leitungsstrukturen für den therapeutischen Bereich im engeren
Sinne sind längst etabliert.
Es wird Zeit, gemeinsame Leitungsstrukturen auch für den therapeutischen und den pflegerischen
Bereich zu diskutieren. Dabei geht es nicht um eine „Entmachtung” der Pflege und es
geht auch nicht um eine Reduzierung der Bedeutung von Ärzten im therapeutischen Prozess.
Ganz im Gegenteil - es geht um eine verbesserte Nutzung der Kompetenzen aus beiden
Bereichen. Eine solche verbesserte Nutzung kommt aber bei geteilten Leitungsstrukturen
schnell an ihre Grenzen.
Im klinischen Alltag haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Pflege längst
eine zentrale Stellung im multiprofessionellen Behandlungsteam. In der Sicht der Patienten
sowieso - aber nicht nur dort. Der Therapiebegriff ist im Übrigen längst nicht mehr
so eindeutig. Die Grenzen zwischen Therapie im engeren Sinne und Pflege sind fließender
denn je. Mehr als die Hälfte der personellen Ressourcen werden in der Regel im pflegerischen
Bereich eingesetzt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Pflege bedingen in ihrer
Tätigkeit einen großen Anteil an Ressourceneinsatz auch bei den sog. medizinischen
Sachmitteln. Die ökonomische Verantwortung bekommt heute ein immer stärkeres Gewicht
in der Steuerung und Organisation von therapeutischen Prozessen. Es kann also nur
im Sinne unserer Patientinnen und Patienten sein, wenn ökonomische Verantwortung wieder
in die Hände derjenigen kommt, die die therapeutische Verantwortung tragen und die
in direktem Kontakt zu den Patienten stehen. Ökonomische Verantwortung heißt dabei
nicht primär die Übernahme von administrativer Verantwortung im Sinne von „Verwaltungstätigkeit”.
Ökonomische Verantwortung heißt verantwortlich zu sein für Ressourceneinsatz und für
Ressourcensteuerung im therapeutischen Bereich. So - und nur so - können die nicht
erst seit heute knappen personellen Ressourcen im Sinne einer integrativen Versorgung
sinnvoll eingesetzt werden.
Geht das mit getrennten Leitungs- und Verantwortungsstrukturen? Vielleicht ja. Viele
Kliniken beweisen es ja. Meines Erachtens ginge es mit einer einheitlichen Leitungsstruktur
aber deutlich besser. Es funktioniert heute, wenn es in allen Berufsgruppen eine allgemein
akzeptierte und gelebte therapeutische Atmosphäre gibt. Es funktioniert heute, wenn
alle in die gleiche Richtung wollen. Aber es wird auch heute schon schwierig, wenn
einschneidende und manchmal auch schmerzhafte Entscheidungen zu treffen sind. Solche
Entscheidungen betreffen nämlich in erster Linie alle Bereiche einer Klinik, unabhängig
von der jeweiligen Berufsgruppe. Gemeinsame Leitungsstrukturen lösen dabei nicht unsere
zahlreichen Probleme. Aber eine gemeinsame Leitungsstruktur kann ein hilfreiches Instrument
bei der Steuerung und Organisation sein.
Eine einheitliche Leitungsstruktur ist auch Voraussetzung für ein gemeinsames internes
Budget, das alle Kosten einer Klinik - also Personalkosten sowohl im therapeutischen
als auch im pflegerischen Bereich sowie alle Sachkosten - umfasst. Nur so können Einsparungen,
die in einem Bereich zu verwirklichen sind, auch in den anderen Bereichen genutzt
werden. Nur so kann verhindert werden, dass nicht genutzte Budgetmittel aus der Psychiatrie
abgezogen werden.
Es ist mir durchaus bewusst: Die Etablierung gemeinsamer Leitungsstrukturen kann auch
Sorgen hervorrufen, vielleicht sogar Angst machen. Davon sind in erster Linie sicherlich
die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Pflegebereich betroffen. Deshalb muss eine
gemeinsame Leitungsstruktur gekoppelt werden an kompetente inhaltliche Führungsverantwortung.
Diese muss selbstverständlich in den jeweiligen Bereichen weiterhin eigenständig bleiben,
um die hohe professionelle Kompetenz nicht zu gefährden.
Gemeinsame Leitungsstrukturen könnten ein Signal sein, das von der Psychiatrie und
Psychotherapie ausgeht: Wir meinen es ernst mit einer integrativen Versorgung und
wir wollen unsere organisatorischen Strukturen anpassen an die veränderten Bedürfnisse
von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie
könnte es funktionieren - wenn nicht hier, wo sonst?
Prof. Dr. med. Arno Deister
Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin des Klinikums
Itzehoe
Robert-Koch-Straße 2
25524 Itzehoe
E-mail: a.deister@kh-itzehoe.de
Kontra
Hilde Schädle-Deininger
Die Diskussion um eine einheitliche Leitung von ärztlichem und pflegerischem Dienst
scheint zunächst erst einmal neutral zu sein. Die Argumente leuchten ein, Integrierte
Versorgung, die veränderte Klientel und ein gut ausgebautes Versorgungsnetz brauchen
andere Strukturen, auch in der Leitung, zumal Synergieeffekte, fachliches Know-how
und Einsparungen noch mehr gekoppelt und genutzt werden sollen. Dass insgesamt auch
die Verwaltungskosten reduziert werden sollen, ist seit langem in der Diskussion.
Deshalb ist es verwunderlich, dass Wirtschaftlichkeit und Ökonomie nur in Euro und
Cent gesehen und weniger in den Diskussionen um volkswirtschaftliche Dimensionen erweitert
wird. Der Verwaltungsapparat wird in den Einrichtungen des Gesundheitswesens immer
umfangreicher und auch im Treffen von Entscheidungen mächtiger, fachlich-inhaltliche
Aspekte spielen zunehmend eine zweitrangige Rolle in der Versorgung von kranken Menschen
und von Randgruppen.
Dass eine integrierte und kontinuierliche Versorgung zu gewährleisten ist, bestreitet
hoffentlich keiner mehr. Ob allerdings der Dreh- und Angelpunkt das psychiatrische
Krankenhaus dabei sein sollte, muss kritisch diskutiert und hinterfragt werden. Dass
sich das Angebot der Kliniken in den komplementären und ambulanten Bereich immer mehr
ausweitet, hat sicher nicht nur am psychisch kranken Menschen orientierte Motive,
sondern auch finanzielle und absichernde. Die Gewährleistung von Kontinuität in der
Betreuung von psychisch kranken Menschen erfordert eine Abstimmung der Versorgungsleistung
und Handlungsziele im Sinne von ambulant vor stationär.
Eine kooperative Versorgungsgestaltung scheitert vielerorts nicht selten an der Hierarchie
und dem Statusgefälle der Professionen. Wenn eine einheitliche Leitung und integrierte
kooperative Versorgung gestaltet werden soll, müssen hierarchische Muster der Zusammenarbeit
zugunsten aufgabenförmiger Modelle der Verantwortungs- und Arbeitsteilung aufgegeben
werden. Das bedeutet bisherige Machtstrukturen und eingefahrene Wege müssen im Versorgungsgeflecht
verlassen werden sowie herkömmliche Professionsgrenzen verschoben und abgebaut werden.
In diesem Zusammenhang wäre auch der Frage nachzugehen, inwieweit sich in den alltäglichen
Absprachen, in der Teamarbeit vor Ort zeigt, dass in der Praxis die Berufsgruppen
oft keinesfalls gleichberechtigt zusammenarbeiten, z. B. um exakte Behandlungspläne
zu erstellen, ernst zu nehmen und effizient umzusetzen. Es bestehen berechtigte Zweifel,
dass sich dies auch durch eine gemeinsame Leitung nicht erledigt. Die in letzter Zeit
häufiger dargestellte und diskutierte Forderung nach einer zentralen Therapiesteuerung
heißt aus meiner Sicht in erster Linie veränderte Arbeitsweisen wie beispielsweise
die Erfassung der unterschiedlichen Leistungen in Zeitrastern, mehr stations- und
institutionsübergreifende (Therapie-)Angebote und keinesfalls zuvorderst eine zentrale
einheitliche - angedacht wohl in der Regel - ärztliche Leitung.
Bei aller Beteuerung, wie wichtig pflegerische Fachlichkeit sei und dass es nicht
um Entmachtung gehen könne, stellt sich die Frage, warum diese Diskussion gerade jetzt
so dringlich und vehement geführt wird, wo es um Verteilungskämpfe von Personalstellen
in den einzelnen Berufsgruppen geht, wenn auf allen Ebenen gespart werden muss. Kann
ein Grund dafür sein, dass durch die Akademisierung der Pflege sowie durch die Etablierung
von Pflegewissenschaft und -forschung die Pflegenden bildungspolitisch gesehen zu
mächtig zu werden drohen und dann gleichrangiger in den Bildungsabschlüssen sind?
In der Pflegepraxis sind akademisch ausgebildete Pflegekräfte, die als Pflegeexperten
arbeiten, in der Regel nicht sehr willkommen. Die Tendenz geht eher dahin, dass die
Rahmenbedingungen in der Ausübung des Pflegeberufes schlechter und schwieriger werden
[1].
Ein Blick in internationale Erfahrungen und Pflegeforschung zeigt, dass der Pflege
in der integrierten Versorgung ein zentraler Anteil zukommt und über zahlreiche integrative
Potenziale verfügt, die in der bundesdeutschen Diskussion weniger gesehen werden.
Dazu gehört beispielsweise, dass Pflege chronisch erkrankten Menschen im Auf und Ab
ihrer Krankheit, auf dem Weg durch die Versorgungslandschaft begleiten, Einblick in
den Alltag des Betroffenen, in Veränderungen des Versorgungsbedarfes und des Krankheitsverlaufes
haben. „International gilt sie [die Pflege] daher als die geeignete Instanz unter
den Gesundheitsprofessionen, um versorgungssteuernde Funktionen wahrzunehmen - eine
Erkenntnis, die in vielen Ländern ihren Niederschlag darin gefunden hat, dass der
Pflege (und nicht der Medizin) zentrale Integrations-, Steuerungs- und Koordinationsfunktionen
zugeschrieben wurden - sei es im Rahmen von generellen Integrationsbemühungen, bei
der Entwicklung und Implementierung multidisziplinärer klinischer Pathways, der Umsetzung
von Disease- oder auch Care- und Casemanagementprogrammen” ([2] zitiert nach [3], S. 205).
Ein zweiter Aspekt, der in diesem Zusammenhang dringend beleuchtet werden muss ist,
wie Führungsstrukturen und Entscheidungen dann zu sehen sind. Bei aller kollegialen
Führung wird im Zweifelsfall oder bei Uneinigkeit doch die Entscheidung in „letzter
Instanz” getroffen werden müssen. Derzeit werden Medizin und Pflege von Geschäftsführern
verwaltet und budgetiert. Ob sich daran etwas durch eine einheitliche Leitung ändert,
ist eher zu verneinen.
„[…] die Bedeutung der professionellen Pflege für die Sicherstellung einer integrierten
und kontinuierlichen Versorgung sowie ihre Potenziale zur Übernahme zentraler Steuerungs-
und Versorgungsfunktionen werden in der integrierten Versorgung nach deutschem Muster
unterbewertet. Als ,caring profession‘ ist die Pflege im Interesse der Patienten herausgefordert,
diese Engführung zu überwinden und in der aktuellen Diskussion über integrierte Versorgung
eine aktive Rolle zu übernehmen. […]” ([3], S. 197).
Weitere Aspekte wären:
-
Welche Qualifikationen für eine Leistungsposition werden gebraucht, wie wurden sie
bisher erworben und was muss sich künftig daran verändern?
-
Welche Prioritäten werden gesetzt, beispielsweise was Stellenbesetzung, Fort- und
Weiterbildungsmaßnahmen oder Stellenkürzungen betrifft?
-
Wie werden die Mehrkosten durch die bereits abgeschlossenen oder noch abzuschließenden
Tarifverträge im Ärztestreik eingespart? (Bisher werden nicht Stellenkürzungen im
therapeutischen sondern im pflegerischen Bereich diskutiert.)
Solidarisches Handeln ist angesagt, wenn es in diesen schwierigen Zeiten um kreative
Lösungen gehen soll und nicht nur um Macht und wer das Sagen hat.
Hilde Schädle-Deininger
Aus-, Fort- und Weiterbildung Haus 57
der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Theodor-Stern-Kai 7
60590 Frankfurt am Main
E-mail: Hilde.Schaedle@kgu.de