Suchttherapie 2006; 7(1): 33-34
DOI: 10.1055/s-2006-926531
Versorgung aktuell

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ärztliche Handlungsfreiheit und evidenzbasierte Medizin

Medical Freedom of Action and Evidence Based MedicineW. Dresch
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Dr. med. Walter Dresch

Steinstraße 12

50676 Köln

Email: Walter.Dresch@dr-dresch.de

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Publication Date:
15 March 2006 (online)

Table of Contents #

Einleitung

Für die interessierte Öffentlichkeit wurden über verschiedene Presseagenturen aus der Charité-Klinik für Nephrologie Untersuchungsergebnisse über den positiven Effekt moderaten Alkoholgenusses verbreitet. So z. B. die AP-Meldung vom 29.7.2005:

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Gesundheit und Service

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Alkohol wirkt positiv auf Nierenfunktion

Berlin (AP) Moderater Alkoholgenuss wirkt sich positiv auf die Nierenfunktion aus. Männer, die mindestens sieben Drinks pro Woche zu sich nehmen, haben laut einer Berliner Untersuchung deutlich günstigere Kreatininwerte als Männer, die einen oder weniger Drinks pro Woche konsumieren. Der Blutwert Kreatinin beschreibt die Funktionsfähigkeit der Nieren. Mediziner der Berliner Charité werteten die Daten und Blutproben von 11 000 amerikanischen Ärzten aus. Diejenigen, die zwei bis vier alkoholische Getränke pro Woche zu sich nahmen, hatten ungefähr das gleiche relative Risiko für Nierenfunktionsschäden wie Abstinenzler. Wer dagegen fünf bis sechs Drinks einnahm, hatte ein leicht niedrigeres Risiko. Diejenigen Männer, die mindestens sieben solche Getränke konsumierten, hatten dagegen ein um 30 % geringeres Risiko als Abstinenzler. Ende AP/ww/fh/

Bei dieser Untersuchung handelt es sich um einen kleinen Ausschnitt der „Physician Health Study” (PHS), in der seit über 14 Jahren Daten der Lebensgewohnheiten 11 000 amerikanischer Ärzte mit jährlich gewonnenen Labordaten gesammelt und ausgewertet werden.

Aus mit diesen Informationen hergestellten Zeitungsartikeln, wie z. B. vom 30.7.2005 im „Kölner Stadtanzeiger” oder vom 27.7.2005 in der „Ärztezeitung”, muss der Leser den Eindruck gewinnen, dass regelmäßiger moderater Alkoholgenuss einen wissenschaftlich nachgewiesenen, bedeutenden gesundheitsfördernden Faktor darstellt.

Neben den zahlreichen Arbeiten, die gesundheitsfördernde Wirkungen von moderatem Alkoholgenuss wissenschaftlich nachgewiesen haben wollen, wäre diese gezielte Auswertung aus den Daten der PHS-Studie ein weiterer Hinweis in diese Richtung; und bei diesem Thema ist durch die beeindruckende Zahl von 30 %, was fast einem Drittel entsprechen würde, auch das allgemeine mediale Interesse nicht verwunderlich.

Gleichzeitig wird aber immer wieder von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor den gesundheitsschädlichen Folgen regelmäßigen Alkoholkonsums gewarnt und wir Hausärzte müssen uns fragen, welchen Ergebnissen wir zustimmen können und welche Informationen wir wie an unsere Patienten weitergeben.

So stehen zwei unterschiedliche Aussagen zum moderaten Alkoholkonsum zur Debatte:

„Jeglicher Alkoholkonsum ist schädlich”, z. B. WHO oder Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS):

So wird in der DHS-Broschüre „Umgang mit Alkohol” vom Oktober 2004 die Faustregel aufgestellt, dass für Frauen nicht mehr als 2 kleine Gläser und für Männer nicht mehr als 3 kleine Gläser pro Tag ohne gesundheitliche Schäden möglich sind, weiterhin wird in dieser Broschüre wörtlich ausgeführt:

„Neueste Studien belegen, dass das Risiko von bestimmten Erkrankungen bei noch geringeren Mengen beginnt. Demnach werden für Frauen 10 Gramm und für Männer 20 Gramm Alkohol pro Tag als Grenze gesehen. Wenn Sie also auf der sicheren Seite sein wollen, trinken Sie als Frau nicht mehr als ein alkoholisches Getränk und als Mann nicht mehr als zwei kleine Getränke pro Tag.”

„Moderater Alkoholgenuss hat positive gesundheitsfördernde Effekte.”

Zahlreiche Studien zu den gesundheitsfördernden Wirkungen regelmäßigen Alkoholgenusses liegen vor, und wir Ärzte sollten in der Lage sein, zu entscheiden, bei welchen Ergebnissen wir zu welchen Rückschlüssen gelangen müssen.

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Was sind die einzelnen Evidenzstufen:

  1. randomisierte Studie(n)

  2. nichtkontrollierte Studie(n), z. B. Kohortenstudien

  3. z. B. Fallkontroll- oder Querschnittsstudien

  4. Fallbeobachtungen

  5. Expertenmeinungen.

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Was sind Regeln der evidenzbasierten Medizin (EbM)?

(kurze Darstellung an einzelnen Fragen)

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Welche Belege werden für bestimmte Aussagen angeführt?

Die Beweislast liegt immer bei dem, der eine bestimmte These vorbringt (die wörtliche Übersetzung von „evidence” lautet Beweis).

Da z. B. für die in der DHS-Broschüre „Umgang mit Alkohol” aufgestellten Behauptungen kein Beleg angeführt wird, bleiben nach den Regeln der EbM die Aussagen dieser Broschüre weiterhin nur eine unbewiesene Expertenmeinung.

Die unterste Evidenzstufe V: Die Expertenmeinung lässt sich nach den Regeln der EbM nicht durch größere Prominenz des Meinungsgebers oder der herausgebenden Institution steigern.

Bei der erwähnten PHS-Studie werden hingegen Belege angeführt und sollten deshalb weiterhin beachtet werden. Es soll an einzelnen Fragen geklärt werden, wie diese Belege zu bewerten sind.

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Kann eine Studie hausärztliche Fragen beantworten?

Es muss zunächst geklärt werden, ob durch Studienaufbau, Untersuchungsgegenstand und Patientenauswahl hausärztliche Fragen beantwortet werden können, z. B.:

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Sind vom Aufbau der Studie Ergebnisse zu erwarten, die nicht allein durch persönliche Erfahrung ableitbar wären?

Bei der Beobachtung von insgesamt 11 000 Ärzten über insgesamt 14 Jahre mit regelmäßigen Laborkontrollen und jährlich ausgefüllten Fragebögen zu den Trinkgewohnheiten sind Erkenntnisse zu erwarten, die ein einzelner Arzt bei aller Erfahrung nicht bekommen kann, weil er nicht annähernd so viele Fälle so lange beobachten kann.

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Werden Patientengruppen beobachtet, die in der hausärztlichen Praxis vorkommen?

Auch hier fällt die Antwort positiv aus. Es handelt sich um eine in der hausärztlichen Praxis vorkommende Patientengruppe, an der eine für die Beratung relevante Frage untersucht wurde, und wir wollen uns weiter mit den Ergebnissen dieser Studie beschäftigen.

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Welche Ergebnisse sind für das hausärztliche Handeln bedeutend?

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Wurden noch wichtigere Endpunkte veröffentlicht?

Es gibt keine Angaben zu Unterschieden in der Lebenserwartung oder z. B. der Dialysepflicht.

Es ist also zu vermuten, dass sich zu diesen Punkten keine gesundheitsfördernden Effekte nachweisen ließen. Es kann sogar sein, dass insgesamt in der Gruppe der Ärzte mit moderatem Alkoholkonsum im Beobachtungszeitraum von 14 Jahren mehr Todesfälle vorgekommen sind.

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Wie wurde das Risiko der Nierenfunktionseinschränkung definiert?

Es wurde die Anzahl der beobachteten Ärzte ermittelt, die innerhalb von 14 Jahren erhöhte Kreatininwerte von über 1,5 mg/dl entwickelten.

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Wie kommen die 30 % Risikoreduktion zustande?

Da nicht alle Ärzte in 14 Jahren erhöhte Kreatininwerte entwickelt haben, handelt es sich lediglich um eine relative Risikoreduktion ohne Bezug.

Insgesamt waren aber nur 473 der 11 000 betroffen, was einem Anteil von 4 % entspricht. Hiervon hatten die mit moderatem Alkoholkonsum dann zu 30 % weniger erhöhte Kreatininwerte. Dies entspricht einer Risikoreduktion von 1,2 %.

So hat nach 14 Jahren moderaten Alkoholkonsums ca. einer von 80 eine Reduktion seines Risikos einer Nierenfunktionseinschränkung zu erwarten (NNT für 14 Jahre: 100 : 1,2 = 83).

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Müssen nach den Ergebnissen dieser Studie hausärztliche Erfahrungswerte verändert werden?

Ein statistisch nachgewiesene Risikoreduktion von ca.1 %, dargestellt durch die Erhöhung eines Laborwerts ohne Berücksichtigung der Gesamtmorbidität und -mortalität über 14 Jahre Beobachtungsdauer, kann die Frage, ob moderater Alkoholgenuss gesundheitsfördernd oder evtl. auch schädlich sei, für den hausärztlichen Praxisalltag nicht abschließend beantworten.

Die ärztliche Erfahrung, dass es Patienten gibt, deren mäßiger Alkoholgenuss über viele Jahre keine gesundheitlichen Probleme bereitet, bleibt bestehen - aber auch die Erfahrung, dass für viele andere die Abstinenz die bessere Alternative darstellt.

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Schluss

Es hat sich gezeigt, dass weder unbewiesene Behauptungen von Experten oder anerkannten Organisationen wie z. B. der WHO noch statistisch signifikante Unterschiede aus gezielten Aufarbeitungen von Daten bei nicht relevanten Endpunkten individuelle Behandlungsansätze nach ärztlichem Erfahrungswissen als weniger fundiert diskreditieren können. Es bleibt weiterhin eine genuine hausärztliche Aufgabe, Expertenempfehlungen erst dann in therapeutische Planungen einzubeziehen, wenn eine Beweiserbringung nachvollziehbar erfolgte.

Dr. med. Walter Dresch

Steinstraße 12

50676 Köln

Email: Walter.Dresch@dr-dresch.de

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