Die Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler bei der Ärztekammer Nordrhein
in Düsseldorf wurde 1975 auf Initiative der Ärztekammer eingerichtet, um auf Antrag
zu prüfen, ob ein vorwerfbarer ärztlicher Behandlungsfehler vorliegt, der einen Gesundheitsschaden
verursacht hat. Eine Stellungnahme (Bescheid), z. T. auf ein Gutachten gestützt, an
den Patienten und den Arzt stellt die Grundlage für einen außergerichtlichen Vergleich
mit den Versicherungsgesellschaften dar. Seit der Wiedervereinigung bestehen in allen
Ländern der Bundesrepublik entsprechende Gutachterkommissionen/Schlichtungsstellen,
die in der von der Bundesärztekammer eingerichteten Ständigen Konferenz ihre Ergebnisse
austauschen. Danach kommen nach einer Zusammenstellung der Jahre bis Ende 2003 etwa
60 % der Anträge wegen eines vermeintlichen Behandlungsfehlers aus den operativen
Fächern, davon 13 % aus der Gynäkologie und Geburtshilfe; aus den Gebieten der Inneren
Medizin 9 % (Tab. [1]). Die Behandlungsfehlerquote beträgt mit geringen Unterschieden in den letzten Jahren
etwa 33 % (Tab. [1]).
Tab. 1
Zeitraum 01. 12. 1975 - 31. 12. 2003
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Zahl der beschuldigten Ärzte*
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Anteil an Gesamtzahl der besch. Ärzte (v. Sp. 2)
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Zahl der festge-stellten Behandlungsfehler (BF)
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„BF-Quote“ der jeweiligen Fachgebiete (v. Sp. 2)
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Gesamtzahl
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21 365
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100 %
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6 714
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31 %
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Verteilung auf die jeweiligen Fachgebiete
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1. Chirurgie incl. Schwerpunkte
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7 844
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37 %
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2 702
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34 %
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2. Gynäkologie mit Geburtshilfe
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2 742
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13 %
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881
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32 %
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3. Orthopädie
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2 538
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12 %
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804
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32 %
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4. Innere Medizin
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1 926
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9 %
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575
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30 %
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5. Prakt. u. Allgemeinmediziner
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945
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4 %
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382
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40 %
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6. Hals-Nasen-Ohrenheilkunde
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920
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4 %
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187
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20 %
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7. Urologie
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719
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3 %
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202
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28 %
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8. Anästhesie
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719
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3 %
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156
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22 %
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9. Diag. und interv. Radiologie
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566
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3 %
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271
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48 %
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* Mehrfachnennung pro Verfahren: nur 1 Arzt pro in Anspruch genommener Einrichtung
(Klinikabteilung/Praxis)
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In den vergangenen Jahren führten bis zu 90 % der gutachtlichen Bescheide zu einer
außergerichtlichen Streitschlichtung; gut 10 % der betroffenen Ärzte und Patienten
waren mit dem gutachtlichen Bescheid nicht zufrieden und gingen vor Gericht, wobei
etwa 1 % von der Beurteilung der Gutachterkommission abweichende Gerichtsentscheidungen
ergangen sind.
Danach dienen die Gutachterkommissionen/Schlichtungsstellen in Deutschland in erster
Linie einem verbesserten Arzt-/Patientenverhältnis im Sinne einer befriedenden Wirkung.
Die Dauer der für die Beteiligten kostenfreien Verfahren ist im Vergleich zu Gerichtsverfahren
mit durchschnittlich 12 - 15 Monaten deutlich kürzer. Aufgrund der hohen Akzeptanz
der Bescheide bei den Versicherungsgesellschaften führen die außergerichtlichen Schlichtungsverfahren
im Falle der Bejahung von Behandlungsfehlern mit kausalem Gesundheitsschaden in der
Regel zum Erfolg im Sinne einer Regulierung der Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche.
Sie dienen gleichfalls der Abwehr unbegründeter Ansprüche für den in Anspruch genommenen
Arzt und bewirken eine Klärung der beide Seiten belastenden Vorwürfe.
Aus den Ergebnissen der Gutachterkommissionen/Schlichtungsstellen ist aber aufgrund
der fehlenden Kenntnisse über die Gesamtzahl der ärztlichen Behandlungen in einer
vorgegebenen Zeit keine sichere Aussage über die Schadens- und Fehlerrate möglich
(die Schadensrate gibt den Prozentsatz der ärztlichen verursachten Schäden im Vergleich
zur Gesamtheit der Behandlungsfälle pro Fachgebiet wider, während die Fehlerrate den
Prozentsatz der durch ärztliche Sorgfaltsmängel verursachten Schäden angibt).
Die Ergebnisse der Gutachterkommissionen/Schlichtungsstellen lassen sich auch zur
Lösung von Qualitätsproblemen durch Auswertung der Gutachten und Bescheide heranziehen:
-
Bei fehlerhafter Indikation und Durchführung einer Operation (Risiko- und Eingriffsaufklärung).
-
Im Falle eines fehlerhaften Befundes oder einer Diagnose (Befund- und Diagnoseaufklärung).
-
Durch Fehler einer therapeutisch gebotenen Aufklärung zur Gefahrenabwehr, um den Patienten
durch eine entsprechende Information zur Dringlichkeit einer gebotenen Behandlung
oder Untersuchung zu veranlassen (Risiko- und Eingriffsaufklärung). Dabei bedeutet
das Fehlen einer Sicherungsaufklärung ein ärztlicher Behandlungsfehler.
Entwicklung der Behandlungsfehlervorwürfe in der Gynäkologie und Geburtshilfe im letzten
Jahrzehnt in der Gutachterkommission bei der Ärztekammer Nordrhein
Anträge aus den chirurgischen Fachgebieten Allgemeine und Unfallchirurgie, Orthopädie
und Gynäkologie mit Geburtshilfe machen über die Jahre konstant zwei Drittel aller
Verfahren bei der Gutachterkommission aus, wobei die Gynäkologie mit einem Anteil
von 13 % vor der Orthopädie (12 %) das am zweithäufigsten betroffene Fachgebiet darstellt.
Insgesamt entfallen etwa ⅔ der Behandlungsfehlervorwürfe auf im Krankenhaus tätige
Ärzte. Von 741 gutachtlichen Bescheiden im Fachgebiet Gynäkologie und Geburtshilfe
der letzten 5 Jahre entfielen wie bisher ⅓ auf Vorwürfe in der Geburtshilfe. Den im
Krankenhaus tätigen Gynäkologen wurden in 85 % Fehler bei operativen Maßnahmen sowie
bei der Nachbehandlung vorgeworfen. Mit jeweils einem Viertel standen hier die Mammachirurgie
und die laparoskopischen Eingriffe, gefolgt von den abdominalen (12 %) und den vaginalen
(11 %) Hysterektomien im Vordergrund der Vorwürfe. Fast 60 % der anerkannten Behandlungsfehler
in der Gynäkologie ereignen sich im Rahmen der operativen Therapie mit in etwa gleich
hohen Behandlungsfehlerquoten (36 - 38 %). Allein bei der radikalen Hysterektomie
(5 %) und den kosmetischen Eingriffen (3 %), die nicht Teil der Mammachirurgie waren,
war die Anerkennungsquote mit 47 % bzw. 50 % höher. Bezogen auf alle festgestellten
Fehler standen im Vordergrund intraoperative (43 %) und Fehler in der Nachbetreuung
(31 %), gefolgt von der fehlenden Indikation (14 %) und der Verfahrenswahl (9 %);
präoperative Mängel wurden selten festgestellt (3 %). Häufige Fehler waren bei den
Hysterektomien und den laparoskopischen Eingriffen die Verkennung von Ureterläsionen
sowie von Läsionen des Magen-Darm-Traktes im Rahmen der laparoskopischen Adhäsiolyse,
in der Mammachirurgie die unzureichende PE.
Niedergelassenen Gynäkologen wurden in der Hälfte der Bescheide diagnostische Versäumnisse
vorgeworfen, wie die Verkennung bösartiger Tumoren, besonders des Mammakarzinoms (⅔
der Vorwürfe). Die Anerkennungsquoten lagen deutlich über dem Durchschnitt, insbesondere
beim Mammakarzinom (59 %) und Cervixkarzinom (46 %). Der Vorwurf der Verkennung einer
Extrauteringravidität war in der Hälfte der diesbezüglich geführten Verfahren berechtigt.
Der bezogen auf die Gesamtheit der Begutachtungsverfahren selten erhobene Vorwurf
(4 ‰) des Eintritts einer Paravasation bei der Verabreichung von Chemotherapeutika
betraf ganz überwiegend die onkologisch tätigen Gynäkologen (insbesondere durch Epirubicin).
Dieser für die Patienten oftmals schwerwiegenden Komplikation kommt auch im Hinblick
auf die erhöhte Quote dabei festgestellter Behandlungsfehler (45 %) eine nicht zu
vernachlässigende Bedeutung für die Qualitätssicherung zu.
Der Anteil der in den letzten 5 Jahren gegen Krankenhausbehandlungen erhobenen Vorwürfe
in der Geburtshilfe hat gegenüber einer früheren Auswertung von 70 % auf 79 % zugenommen.
Gestiegen ist auch, von 25 % auf 30 %, der Anteil der hier festgestellten vorwerfbaren
Behandlungsfehler. In der Mehrzahl waren es Vorwürfe zur Geburtsleitung, in ⅔ der
Fälle strittige vaginal-operative bzw. Schnittentbindungen. Zunehmend wird auch die
präpartale Betreuung gerügt. Die seltene Komplikation der Schulterdystokie beinhaltet
immerhin 18 % der Vorwürfe einer fehlerhaften Geburtsleitung; der Anteil der dabei
als unzureichend betrachteten Maßnahmen sank von vormals 33 auf 20 %. Dem niedergelassenen
geburtshilflich tätigen Frauenarzt galten jetzt ⅔ statt früher Ÿ der Vorwürfe zur
Schwangerschaftsbetreuung, wobei im Vordergrund standen: Fehlbildungsdiagnostik, Wachstumsretardierung,
Erkennen drohender Frühgeburtlichkeit bei Gestosesymptomatik, Plazentainsuffizienz
sowie aufsteigender Genitalinfektionen. Die durchschnittliche Behandlungsfehlerquote
der niedergelassenen Frauenärzte erhöhte sich im Berichtszeitraum auf 38 %.
Für die Qualitätssicherung lassen die Zahlen erkennen, dass in der Gynäkologie Fehler
im Bereich der Onkologie, der operativen Diagnostik und Therapie und in der Geburtshilfe
Fehler in der Geburtsleitung einschließlich der Behandlung der Schulterdystokie im
Vordergrund stehen. Im niedergelassenen Bereich waren es Vorwürfe wegen fehlerhafter
Schwangerschaftsbetreuung im Rahmen der pränatalen Diagnostik, Störungen der Kindsentwicklung
und der sonographischen Missbildungsdiagnostik.
Fehler in der Eingriffsaufklärung wurden in 29 % der Fälle als haftungsbegründende
Aufklärungsversäumnisse anerkannt, wobei häufig durch widersprechende Aussagen die
Frage der Risikoaufklärung nicht abschließend beurteilt werden konnte. Ein lehrreicher
Fall zur Risikoaufklärung:
Eine Frau wurde œ Stunde vor dem Eingriff nach Prä-Medikation mit Dormicum über eine
Änderung und Erweiterung der geplanten Operation aufgeklärt. Die ursprünglich vaginal
angesetzte Operation sollte nun abdominal erfolgen und eine Suspensionsplastik wegen
Harninkontinenz durchgeführt werden. Bei großem Uterus myomatosus und Zeichen der
Stressinkontinenz war die Indikation und Durchführung der so geänderten Operation
richtig, die Operation war aber wegen unwirksamer Einwilligung rechtswidrig. Dies
hat zur Folge, dass der behandelnde Arzt für alle im Zusammenhang mit dem Eingriff
eingetretenen, d. h. auch für die nicht vermeidbaren gesundheitlichen Beeinträchtigungen
haftungsrechtlich einstehen muss.