1. Qualitätssicherung und Berufsordnung
1. Qualitätssicherung und Berufsordnung
Die zentrale Norm zur Qualitätssicherung im ärztlichen Berufsrecht ist § 5 der Musterberufsordnung.
Danach ist der Arzt verpflichtet, an den von der Ärztekammer eingeführten Maßnahmen
zur Sicherung der Qualität der ärztlichen Tätigkeit teilzunehmen und der Ärztekammer
die hierzu erforderlichen Auskünfte zu erteilen. Die Diskussion der Qualitätssicherung
ärztlicher Berufsausübung ist viel älter als die Norm selbst. Sie wurde erst 1988
vom 91. Deutschen Ärztetag in die Berufsordnung aufgenommen, ohne dass dies zum damaligen
Zeitpunkt größere Veränderungen bewirkt hätte. Bereits bestehende Qualitätssicherungsmodelle
wie etwa die flächendeckenden Perinatalstudien (als Beispiel für die Ergebnisqualität)
oder auch die Richtlinien der Bundesärztekammer zur Qualitätssicherung in medizinischen
Laboratorien bestanden bereits zuvor. Gelegentlich wird von einer Qualitätssicherungskonkurrenz
zwischen Kammer und KV gesprochen. Diese Konkurrenz besteht in der Tat im Bereich
der nicht qualifikationsbezogenen Qualitätssicherung (also z. B. Prozessqualität).
Die Qualifikation aufgrund der Facharztanerkennung gehört allerdings ausschließlich
in den Bereich des Berufsrechts. Dies wird durch die Neufassung des § 135 Abs. 2 SGB
V klargestellt. Für die Qualitätssicherungsrichtlinien im Rahmen der vertragsärztlichen
Versorgung ist der Bundesausschuss Ärzte/Krankenkassen zuständig (§ 136 a SGB V).
2. Die Teilnahmepflicht des Arztes
2. Die Teilnahmepflicht des Arztes
Nimmt der Arzt nicht an den von der Ärztekammer eingeführten Maßnahmen zur Qualitätssicherung
teil, kann dies auf verschiedene Weise geahndet werden. Bei festgestellten Mängeln
kann er z. B. zu einem Kolloquium geladen werden. Im Falle des Nichtbestehens können
ihm bestimmte ärztliche Tätigkeiten untersagt werden. Bei Zuwiderhandlungen sind sämtliche
Maßnahmen der Berufsgerichtsbarkeit möglich. Im vertragsärztlichen Bereich ist der
Entzug der Abrechnungserlaubnis für bestimmte Leistungspositionen ein probates Mittel,
den Arzt zur Teilnahme an Qualitätssicherungsmaßnahmen anzuregen. Im ambulant-operativen
Bereich können entsprechende Einrichtungen bei Nichtbeachtung der Qualitätssicherungsmaßnahmen
durch die nach Landesrecht zuständige Behörde geschlossen werden. Für die Vertragsärzte
enthält § 285 Abs. 1 Nr. 6 i. V. m. § 285 Abs. 2 SGB V insofern eine Einschränkung
der ärztlichen Schweigepflicht, als personenbezogene Angaben über Ärzte und Versicherte
zur Durchführung von Qualitätsprüfungen erhoben und verwendet werden dürfen.
3. Qualitätssicherung und ‐management
3. Qualitätssicherung und ‐management
Gemäß § 135 a Abs. 1 SGB V sind Leistungserbringer zur Sicherung und Weiterentwicklung
der Qualität der von ihnen erbrachten Leistungen verpflichtet. Die Leistungen müssen
dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen und in der fachlich
gebotenen Qualität erbracht werden. Durch § 135 a Abs. 2 SGB V werden zugelassene
Krankenhäuser, stationäre Vorsorgeeinrichtungen und stationäre Rehabilitationseinrichtungen
erstmals verpflichtet, ein internes Qualitätsmanagement einzuführen und weiterzuentwickeln.
Nach der Gesetzesbegründung wird unter Qualitätsmanagement eine Managementmethode
verstanden, die auf die Mitwirkung aller Mitarbeiter gestützt die Qualität in den
Mittelpunkt ihrer Bemühungen stellt und kontinuierlich bestrebt ist, die Bedürfnisse
der Patienten, Mitarbeiter, Angehörigen oder beispielsweise auch der zuweisenden Ärzte
zu berücksichtigen. Besondere Bedeutung wird der Zusammenarbeit zwischen allen beteiligten
Berufsgruppen ohne Rücksicht auf hierarchische Unterschiede beigemessen, das ganze
natürlich ordentlich dokumentiert. Welches Qualitätsmanagement anzuwenden ist, ist
nicht verbindlich vorgegeben. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass das
so genannte „KTQ-Konzept“ [[1]] zunächst einen Vorsprung gegenüber anderen Methoden haben könnte, weil an dem Projekt
nicht nur der VdAK/AEV und die BÄK, sondern auch die DKG mitarbeiten. Allerdings gibt
es auch kritische Stimmen, die insbesondere die Rechtssicherheit dieses Konzepts hinterfragen
[[2]]. Darüber hinaus soll die Anwendung anerkannter Leitlinien gefördert werden.
4. Die Leitliniendebatte
4. Die Leitliniendebatte
Ausgelöst durch die zu Recht geführte Qualitätssicherungsdiskussion Anfang der 90er-Jahre
wird die Ärzteschaft von einer Flut von „Leitlinien“, „Richtlinien“ und „Empfehlungen“
überrollt [[3]], so dass man sich inzwischen schon genötigt sah, „Leitlinien für Leitlinien“ [[4]] zu verabschieden. Ob damit letztlich mehr Rechtssicherheit für Patient und Arzt
geschaffen wird, ist derzeit noch offen. Sich zum Teil deutlich widersprechende „Leitlinien“
von Fachgruppen mit gemeinsamen Schnittmengen sind nicht unbedingt geeignet, das Vertrauen
in „Leitlinien“ zu stärken. Neben sprachlichen Ungenauigkeiten [[5]] gibt es tiefgreifende Unterschiede über die Zieldefinition von Leitlinien. Während
es auf der Homepage der AWMF [[6]] heißt:
taucht bei den Kriterien für die Qualität von Leitlinien auch das Kosten-Nutzen-Verhältnis
auf. Dieser Gesichtspunkt wird auch mit Rücksicht auf die Rechtsprechung des BSG [[7]] größere Bedeutung gewinnen. Danach sollen
Dies ist ein weiteres Indiz dafür, wie Kostengesichtspunkte zunehmend Eingang in die
Qualitätssicherungs- und Standarddiskussion finden [[8]]. Neuen Auftrieb bekommt die „Leitlinien-Diskussion“ durch das GKV-Gesundheitsreformgesetz
2000, das Prinzip der evidence based medicine (EBM) im Bereich der Qualitätssicherung
ambulanter und stationärer Leistungen zu implementieren [[9]]. Parallel gewinnen die Entscheidungen des Bundesausschusses Ärzte/Krankenkassen
dadurch an Bedeutung, dass das BSG den Anspruch des Versicherten unter den Vorbehalt
der Leistungspflicht des Leistungserbringers stellt [[10]]. Aus haftungsrechtlicher Sicht stellt sich letztlich die Frage, ob denn „Leitlinien,
Richtlinien und Empfehlungen“ wirklich etwas Neues darstellen oder ob es sich nicht
vielmehr um altbekannte methodische Ansätze handelt, die im Verkehr erforderliche
Sorgfalt (§ 276 BGB) zu umreißen bzw. der „neuen Terminologie“ anzupassen [[11]].
5. Leitlinien, Richtlinien, Empfehlungen, Versuch einer Definition
5. Leitlinien, Richtlinien, Empfehlungen, Versuch einer Definition
Nach der gemeinsamen Definition von KBV und Bundesärztekammer [[12]] sind
„Leitlinien … systematisch entwickelte Entscheidungshilfen über die angemessene ärztliche
Vorgehensweise bei speziellen gesundheitlichen Problemen. … Leitlinien sind wissenschaftlich
begründete und praxisorientierte Handlungsempfehlungen.
… Leitlinien sind Orientierungshilfen im Sinne von Handlungs- und Entscheidungskorridoren,
von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann oder sogar muss. …
Der Begriff Richtlinien sollte hingegen Regelungen des Handelns oder Unterlassens
vorbehalten bleiben, die von einer rechtlich legitimierten Institution konsentiert,
schriftlich fixiert und veröffentlicht wurden, für den Rechtsraum dieser Institution
verbindlich sind und deren Nichtbeachtung definierte Sanktionen nach sich zieht. Die
Inhalte der vorliegenden Empfehlungen beziehen sich ausdrücklich nicht auf Richtlinien
der ärztlichen Selbstverwaltungskörperschaften.“
Richtlinien unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Verbindlichkeit also jedenfalls
dann schon formal von Leitlinien, wenn sie über das Satzungsrecht einer Kammer zu
verbindlichem Berufsrecht werden bzw. als untergesetzliche Norm im Rahmen des SGB
V beachtet werden müssen [[13]]. Inwieweit dies, insbesondere bei einer dynamischen Verweisung, rechtlich zulässig
ist, ist Gegenstand tiefgreifender Diskussionen [[14]]. Soweit Fachgesellschaften und Berufsverbände eigene Verlautbarungen als „Richtlinien“
bezeichnen, ist dies rechtlich unerheblich. Es handelt sich i. d. R. um generalisierende
sachverständige Meinungsäußerungen.
Die Frage der Verbindlichkeit von Leitlinien ist in der Literatur umstritten. Während
Laufs [[15]] nur eine mittelbare Bindungswirkung über § 276 BGB sieht, hält Hart [[16]] Leitlinien unter Bezug auf die Definition der Zentralstelle der deutschen Ärzteschaft
zur Qualitätssicherung in der Medizin für verbindlich. Leitlinien sind nach Hart mehr
als „Empfehlungen“. Er setzt Leitlinien mit Standards gleich. Damit befindet er sich
in Einklang mit der internationalen Diskussion um Guidelines, da die im deutschen
Sprachraum getroffene Unterscheidung zwischen „Leitlinie“ und „Richtlinie“ im anglo-amerikanischen
Raum unbekannt ist und eine Differenzierung hinsichtlich ihrer Verbindlichkeit nicht
vorgenommen wird. Ob dieser Verzicht auf Differenzierung - entgegen dem Willen der
„Schöpfer von Leitlinien“ - trägt, muss an dieser Stelle nicht entschieden werden.
Maßgeblich ist, welchen Einfluss Empfehlungen, Leitlinien und Richtlinien auf die
im Verkehr erforderliche Sorgfalt gemäß § 276 BGB nehmen. Für diese Abgrenzung stehen
bewährte juristische Werkzeuge zur Verfügung (dazu unten).
6. Leitlinien und Berufsrecht
6. Leitlinien und Berufsrecht
Gemäß § 11 Abs. 1 Musterberufsordnung (MBO) verpflichtet sich der Arzt mit Übernahme
der Behandlung dem Patienten gegenüber zur gewissenhaften Versorgung mit geeigneten
Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Diese Norm ist die berufsrechtliche Ausformung
des zivilrechtlichen Grundsatzes in § 276 BGB, wonach der Arzt bei der Behandlung
seiner Patienten die im Verkehr erforderliche Sorgfalt zu beachten hat. Unter dieser
beruflich gebotenen Sorgfalt ist nicht nur die übliche Sorgfalt zu verstehen [[17]], sondern die berufsspezifischen Sorgfaltspflichten. Diese orientieren sich an dem
jeweiligen, dem behandelnden Arzt bei zumutbarer Anstrengung zugänglichen und verfügbaren
Stand der medizinischen Wissenschaft [[18]]. Dadurch dass von geeigneten Verfahren die Rede ist, wird deutlich, dass die Berufsordnung
keine Verpflichtung auf die so genannte „Schulmedizin“ beinhaltet, sondern von dem
von der Rechtsprechung gebilligten „Grundsatz der Methodenfreiheit“ [[19]] ausgeht. Der Grundsatz der Methodenfreiheit findet jedoch berufs- und haftungsrechtlich
dann seine Grenze, wenn die von dem Arzt vorgeschlagene Methode mittlerweile von einer
neueren risikoärmeren und/oder weniger belastenden Methode abgelöst worden ist, worüber
in der medizinischen Wissenschaft im Wesentlichen Einigkeit bestehen sollte [[20]] oder von den anerkannten Regeln medizinischer Behandlung diametral abgewichen wird
[[21]]. Als Ausprägung der letztgenannten Alternative bestimmt § 11 Abs. 2 MBO, dass es
der ärztliche Berufsauftrag verbietet, diagnostische oder therapeutische Methoden
unter missbräuchlicher Ausnutzung des Vertrauens, der Unwissenheit, der Leichtgläubigkeit
oder der Hilflosigkeit von Patienten anzuwenden. Die Vorschrift wendet sich u. a.
gegen Scharlatane, die die Not kranker Menschen zur Mehrung des eigenen Vorteils,
sei er finanzieller oder persönlicher Natur (Eitelkeit), ausnutzen. Die Zielrichtung
ähnelt § 3 HWG, wonach eine irreführende Werbung für Methoden und Arzneimittel insbesondere
dann vorliegt, wenn ihnen eine therapeutische Wirksamkeit oder Wirkung beigelegt wird,
die sie nicht haben oder fälschlich der Eindruck erweckt wird, dass ein Erfolg mit
Sicherheit erwartet werden könne. Insgesamt gesehen, lässt sich aus der MBO keine
Förderung der „Leitlinien-Euphorie“ herleiten.
7. Qualitätssicherung, Leit- und Richtlinien in der stationären Versorgung
7. Qualitätssicherung, Leit- und Richtlinien in der stationären Versorgung
Das SGB V kannte den Begriff der „Leitlinie“ bislang nicht. Nach dem GKV-Gesundheitsreformgesetz
2000 hat sich dies geändert (s. o.). Die in § 135a Abs. 2 SGB V enthaltene Verpflichtung
an die zugelassenen Krankenhäuser sowie stationären Rehabilitationseinrichtungen,
sich an einrichtungsübergreifenden Maßnahmen der Qualitätssicherung zu beteiligen
und einrichtungsintern ein Qualitätsmanagement einzuführen, knüpft u. a. an das Leitlinien-System
und Grundsätze der evidence based medicine (EBM) an. Zentrale Norm der Qualitätssicherung
im Krankenhaus ist jetzt § 137 SBG V. Danach vereinbaren die Spitzenverbände der Krankenkassen
und der Verband der privaten Krankenversicherung mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft
unter Beteiligung der Bundesärztekammer sowie der Berufsorganisationen der Krankenpflegeberufe
Maßnahmen der Qualitätssicherung für zugelassene Krankenhäuser. Die KBV erhält ein
Recht zur Stellungnahme. Dieses Beschlussgremium ist dem Bundesausschuss Ärzte/Krankenkassen
nachempfunden. Seine Kompetenzen sind klar geregelt. Es sind dies insbesondere (also
ohne Anspruch auf Vollständigkeit)
-
die verpflichtenden Maßnahmen der Qualitätssicherung nach § 135a Abs. 2 sowie die
grundsätzlichen Anforderungen an ein einrichtungsinternes Qualitätsmanagement,
-
Kriterien für die indikationsbezogene Notwendigkeit und Qualität der im Rahmen der
Krankenhausbehandlung durchgeführten diagnostischen und therapeutischen Leistungen,
insbesondere aufwendiger medizinischer Leistungen,
-
Grundsätze zur Einholung von Zweitmeinungen vor Eingriffen und
-
Vergütungsabschläge für zugelassene Krankenhäuser, die ihre Verpflichtungen zur Qualitätssicherung
nicht einhalten (§ 137 Abs. 1 SGB V).
Die finanziellen Sanktionen erhalten dadurch besonderes Gewicht, dass Vereinbarungen
des Gremiums unmittelbar gelten, also nicht mehr einer weiteren Umsetzung durch Dritte
bedürfen. Die bisher geschlossenen Verträge zur Qualitätssicherung nach § 112 Abs.
1 SGB V gelten bis zum Abschluss entsprechender Vereinbarungen dieses Gremiums fort.
Vereinbarungen dieses Gremiums werden mit Mehrheitsentscheidung getroffen. Die DKG
hat 10 Stimmen, die GKV acht Stimmen, die Bundesknappschaft und der PKV-Verband je
eine Stimme. Damit ist zunächst Parität hergestellt. Deshalb sieht § 137 Abs. 3 Satz
3 SGB V vor, dass im Falle einer gegenseitigen Blockade auf Antrag von mindestens
drei Beteiligten ein weiterer stimmberechtigter unparteiischer Beteiligter hinzugezogen
werden kann, wobei sowohl der Kassenseite als auch der Krankenhausseite ein Vorschlagsrecht
zusteht. Können sich die Beteiligten nicht einigen, ist ein Losentscheid vorgesehen.
Neben diesem in § 137 SGB V vorgesehen Beschlussgremium für die interne und externe
Qualitätssicherung ist gemäß § 137 b SGB V ein weiteres Gremium zu bilden, nämlich
die Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der Qualitätssicherung in der Medizin. Ihr gehören
neben den in § 137 genannten Organisationen noch die Bundesärztekammer und die Berufsorganisationen
der Krankenpflegeberufe an. Aufgabe der Arbeitsgemeinschaft ist es, den Stand der
Qualitätssicherung im Gesundheitswesen festzustellen und den sich daraus ergebenden
Weiterentwicklungsbedarf zu benennen, eingeführte Qualitätssicherungsmaßnahmen auf
ihre Wirksamkeit hin zu bewerten und Empfehlungen für einen an einheitlichen Grundsätzen
ausgerichtete sowie sektoren- und berufsgruppenübergreifende Qualitätssicherung im
Gesundheitswesen einschließlich ihrer Umsetzung zu erarbeiten. Den Empfehlungen dieser
Arbeitsgemeinschaft kommt keine direkte Verbindlichkeit zu.
§ 137 c SGB V führt im stationären Bereich einen Ausschuss ein, der wie der Ausschuss
zur Bewertung ärztlicher Untersuchungs- und Behandlungsmethoden nach § 135 Abs. 1
SGB V im ambulanten Bereich Untersuchungs- und Behandlungsmethoden darauf hin überprüft,
ob sie für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten
unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standards der medizinischen Erkenntnisse
erforderlich sind. Ergibt eine Überprüfung, dass die Methode nicht diesen Kriterien
entspricht, darf sie im Rahmen einer Krankenhausbehandlung nicht zu Lasten der Krankenkassen
erbracht werden. Eine enge Abstimmung mit den für den ambulanten Bereich zuständigen
Bundesausschüssen ist vorgesehen.
Anders als in dem Gremium gemäß § 137 hat die Kassenseite in diesem „Ausschuss Krankenhaus“
das Übergewicht. Sie entsendet nämlich neun Vertreter, das Krankenhaus fünf, die Bundesärztekammer
vier Vertreter. Hinzu kommt der unparteiische Vorsitzende des Bundesausschusses Ärzte/Krankenkassen.
Da ein derartiges Gremium im stationären Bereich neu ist, bietet es sich an, bezüglich
seiner Befugnisse und seines Einflusses die bislang zu Maßnahmen des Bundesausschusses
Ärzte/Krankenkassen ergangene Rechtsprechung zu reflektieren. Gerade diesen kommt
im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Medizin im Rahmen der GKV immer größere
Bedeutung zu.
Gemäß § 135 I SGB V dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen
Versorgung nur dann zu Lasten der Krankenkassen abgerechnet werden, wenn die Bundesausschüsse
der Ärzte und Krankenkassen auf Antrag der KBV, einer KV oder eines Spitzenverbandes
der Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 I 2 Nr. 5 entsprechende Empfehlungen über
die Anerkennung des diagnostischen und/oder therapeutischen Nutzens der neuen Methode
abgegeben hat. Die Anerkennung der Untersuchungs- und Behandlungsmethode ist Voraussetzung
für ihre Berechnungsfähigkeit in der vertragsärztlichen Versorgung und damit auch
eine entsprechende Beschlussfassung durch den Bewertungsausschuss gemäß § 87 SGB V.
Die Krankenkassen wiederum dürfen ihrerseits grundsätzlich nur solche Leistungen vergüten,
die Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung sind (ausgenommen sind z. B. Modellvorhaben).
Diese eher restriktive Auslegung des Gesetzes begegnet zum Teil Bedenken. So hat z.
B. das Landessozialgericht Niedersachsen in seiner Entscheidung vom 30. 08. 1995 [[22]] sehr deutlich zwischen dem Recht der Leistungserbringer und dem Leistungsanspruch
des Versicherten gegenüber seiner Krankenkasse unterschieden. Habe ein Versicherter
im Rahmen einer alternativen Behandlungsmethode einen Leistungsanspruch innerhalb
seines Versicherungsverhältnisses gegenüber seiner Krankenkasse, werde dieser Leistungsanspruch
nicht dadurch eingeschränkt, dass die Methode als solche in den NUB-Richtlinien nicht
anerkannt werde. Eine derartige normative Gewichtung komme dem Bundesausschuss nicht
zu, da sie den Anspruch der überwiegend sozialversicherten Bevölkerung ohne ausreichende
gesetzliche Ermächtigungsgrundlage unzulässig einschränke. Das Urteil ist allerdings
(dazu unten) mittlerweile vom BSG aufgehoben worden.
Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu der Richtlinienproblematik ist in den
letzten Jahren einem gewissen Wandel unterzogen. In seiner „Remadecen“-Entscheidung
hat das BSG [[23]] betont, dass nur solche Behandlungsmethoden die Voraussetzung von § 2 Abs. 1 Satz
3 SGB V [[24]] entsprechen, deren Erprobung abgeschlossen ist und über Qualität und Wirksamkeit
zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen vorliegen. Dies könne im Prinzip
auch bei solchen Verfahren vorliegen, die noch nicht den „Segen des NUB-Ausschusses“
empfangen haben. In der „Lithotriper“-Entscheidung des BSG [[25]] zeichnet sich bereits ein leichtes Abweichen von dieser Öffnung ab, obwohl die
Entscheidung das Abrechnungsverhältnis des Arztes und nicht das Leistungsverhältnis
des Versicherten betrifft. In der „Methadon“-Entscheidung vom 20. 3. 1996 hat das
BSG [[26]] allerdings sehr deutlich gemacht, dass die Richtlinienkompetenz des Bundesausschusses
auch solche Maßnahmen umfasst, die über eine Leistungsausgrenzung in das konkrete
Versicherungsverhältnis des Patienten eingreift. Das Leistungsverhältnis der Versicherten
gegenüber ihren Kostenträgern folge im Hinblick auf die Grundsätze des § 12 SGB V
(ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich) keinen anderen Regeln als die Leistungsrechte
der Leistungserbringer [[27]]. Mit dieser Entscheidung scheint die Entwicklung abgeschlossen zu sein. Dies bestätigen
zwei Entscheidungen des BSG vom 16. 09. 1997 [[28]], durch die im übrigen das eingangs erwähnte Urteil des LSG Niedersachsen aufgehoben
wurde. Was ein Leistungserbringer mangels fehlender Berücksichtigung in den Richtlinien
des Bundesausschusses nicht erbringen könne, könne auch nicht Gegenstand eines Leistungsanspruchs
des Versicherten sein. Verfassungsrechtliche Bedenken sieht das BSG - entgegen gewichtiger
Argumente im Schrifttum [[29]] - nicht. In letzter Konsequenz geht das BSG davon aus, dass - jedenfalls bis heute
- die Einhaltung des zivilrechtlichen Sorgfaltsgebots innerhalb des Systems der gesetzlichen
Krankenversicherung trotz der Richtlinienreglementierung möglich und gewährleistet
ist. Ob diese Aussage heute noch für alle Spezialbereiche der Medizin zutrifft, mag
man bezweifeln. Halten die Ressourcensteuerungsüberlegungen auf Ebene der Vertragspartner
und des BMG an, werden sich diese Zweifel verdichten. Es ist dann nicht mehr auszuschließen,
dass Wirtschaftlichkeitsgebot im Rahmen der GKV und Stand der medizinischen Erkenntnis
auseinanderdriften [[30]].
Wer so viele neue Entscheidungsgremien schafft, bedarf der Koordinierung. Dies soll
§ 137e SGB V mit dem so genannten Koordinierungsausschuss gewährleisten. Dieser Koordinierungsausschuss
soll insbesondere auf der Grundlage evidence basierter Leitlinien die Kriterien für
eine im Hinblick auf das diagnostische und therapeutische Ziel ausgerichtete zweckmäßige
und wirtschaftliche Leistungserbringung für mindestens zehn Krankheiten je Jahr beschließen,
bei denen Hinweise auf unzureichende, fehlerhafte oder übermäßige Versorgung bestehen
und deren Beseitigung die Morbidität und Mortalität der Bevölkerung nachhaltig beeinflussen
kann. Ferner gibt er Empfehlungen zu den zur Umsetzung und Evaluierung der Kriterien
dieser Verfahren, insbesondere bezüglich der Dokumentation der Leistungserbringer.
Die Beschlüsse des Koordinierungsausschusses (nicht die Empfehlungen) sind wiederum
unmittelbar verbindlich.
8. Leitlinien, Standard und „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“
8. Leitlinien, Standard und „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“
Die Diskussion um den medizinischen Standard bzw. den „Stand der medizinischen Erkenntnis
zur Zeit der Behandlung“ ist keineswegs neu und auf das Gebiet des medizinischen Standards
beschränkt [[31]]. Im Baurecht kennt man den Begriff der „allgemein anerkannten Regeln der Baukunst“.
Sie sollen die Summen der im Bauwesen anerkannten wissenschaftlichen, technischen
und handwerklichen Erfahrungen darstellen, die durchweg bekannt und als richtig und
notwendig anerkannt sind [[32]]. Dem Juristen, insbesondere dem Anwalt bei der Beratung seines Mandanten, ist diese
Problematik unter dem Stichwort „herrschende Meinung“ vertraut. Den Mandanten wird
es kaum befriedigen, dass ihn sein Rechtsberater mit den wissenschaftlich überlegenen
und schlagkräftigen Argumenten eines oder mehrerer Hochschulprofessoren vertreten
hat, wenn diese Argumente nicht von den Gerichten geteilt werden. Die Pflicht zur
Beachtung derartigen Erfahrungswissens ist aber prinzipiell unabhängig davon, in welches
„äußere Gewand“ diese Erkenntnisse gekleidet sind. Dies ist durch die besondere Dynamik
[[33]] des „Standardbegriffs“ bedingt, der eben gerade nicht statisch ist, sondern sich
laufend verändert. Dies ist ein wichtiges Argument, Leitlinien nicht undifferenziert
mit Standard gleichzusetzen. Dies muss jedenfalls so lange beachtet werden, als Leitlinien
für einen längeren Zeitraum nicht überarbeitet werden, für Richtlinien kann nichts
anderes gelten, wenn sich in der Wissenschaft längst ein anderer Standard etabliert
hat, wie dies bei einer Vielzahl der im Internet verfügbaren Leitlinien der Fall ist.
Dem kann zwar durch eine zukünftig verstärkte Implementierung der „Leitlinien für
Leitlinien“ entgegengewirkt werden. Die dort aufgestellten Grundsätze bürgen jedoch
nur für eine formale Qualitätssicherung, nicht für ihre inhaltliche „Richtigkeit“.
Ähnliche Zweifel dürften für die normative Kraft von Entscheidungen des Koordinierungsausschusses
auf den zivilrechtlichen Standard angebracht sein. Abgesehen davon, dass für die Deckungsgleichheit
von Standard und Richtlinie allenfalls eine Vermutung im Zeitpunkt der Normsetzung
besteht, diese aber wegen der Dynamik des Standardbegriffs nicht unbefristet fortgilt,
wird man den Koordinierungsausschuss nicht so weit aufwerten können, dass ihm die
Funktion einer „Wahrheitskommission“ zuwächst. Dies ist aufgrund der personellen Zusammensetzung
und des gesteckten Aufgabenziels (10 Krankheiten pro Jahr) eine Illusion. Im übrigen
muss man sich davor hüten, bei aller „Leitliniengläubigkeit“ den konkreten personellen
und sachlichen Rahmen eines ärztlichen Entscheidungsprozesses zu vernachlässigen.
Die Rechtsprechung [[34]] hat stets hervorgehoben, der Standard dürfe sich nicht nur an Universitätskliniken
und Spezialkrankenhäusern orientieren, sondern müsse die dem Patienten örtlich zur
Verfügung stehenden Möglichkeiten mitberücksichtigen. Dies schließt ein, dass nicht
jede apparative und methodische Neuerung umgehend nachvollzogen werden muss [[35]].
9. Leitlinien und Methodenfreiheit
9. Leitlinien und Methodenfreiheit
Der Begriff der „Leitlinie“ taucht in der höchstrichterlichen Rechtsprechung der letzten
Jahre nicht auf. Dem gegenüber beherrscht der Grundsatz der Methodenfreiheit seit
der Rechtsprechung des Reichsgerichts [[36]] die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs [[37]]. Wörtlich heißt es u. a. in einem Urteil aus dem Jahre 1991 [[38]]:
„Die Anwendung nicht allgemein anerkannter Therapieformen und sogar ausgesprochen
paraärztlicher Behandlungsformen ist rechtlich grundsätzlich erlaubt. Es kann dahingestellt
bleiben, ob dies schon deswegen der Fall sein muss, weil sich eine Beschränkung der
Methodenfreiheit aus Rechtsgründen als Hemmnis des medizinischen Fortschritts bzw.
als Stillstand der Medizin darstellen würde. Jedenfalls aber folgt dies aus dem Selbstbestimmungsrecht
eines um die Tragweite seiner Entscheidung wissenden Patienten. Denn da dieser das
Recht hat, jede nicht gegen die guten Sitten verstoßende Behandlungsmethode zu wählen,
kann aus dem Umstand, dass der Heilbehandler den Bereich der Schulmedizin verlassen
hat, nicht von vornherein auf einen Behandlungsfehler geschlossen werden.“
Wie Ulsenheimer [[39]] zu Recht feststellt, bedeutet die Methodenfreiheit zwar keinen Freibrief für Gewissenlosigkeit
[[40]]; die Wahlfreiheit des Arztes sei durch das Interesse des Patienten an sorgfältiger
Behandlung begrenzt. Im Prinzip ist dies aber nur ein äußerer juristischer Rahmen,
innerhalb dessen die Besonderheiten des einzelnen Falles einer ebenso individuellen
Betrachtungsweise des Arztes unterliegen. Qualitätsstandard bedeutet nach der Rechtsprechung
[[41]] demnach
„nicht Standardbehandlung. Im Gegenteil können Besonderheiten des Falles oder ernsthafte
Kritik an der hergebrachten Methode ein Abweichen von der Standardmethode fordern.
Der Arzt ist auch nicht stets auf den jeweils sichersten therapeutischen Weg festgelegt.
Allerdings muss ein höheres Risiko in den besonderen Sachzwängen des konkreten Falles
oder in einer günstigeren Heilungsprognose eine sachliche Rechtfertigung finden.“
Dieses Konzept der Methodenfreiheit ist jedenfalls dann zu rechtfertigen, wenn es
durch eine entsprechende Aufklärung flankiert wird. Eine Verpflichtung zur „Leitlinienbehandlung“
gegen den Willen des Patienten ist undenkbar.
10. Die normative Kraft des Faktischen, Leitlinien als „soft law“
10. Die normative Kraft des Faktischen, Leitlinien als „soft law“
Aufgrund der vorstehenden Ausführungen den Schluss zu ziehen, Leitlinien seien rechtlich
irrelevant, wäre allerdings völlig verfehlt. Über Leitlinien werden Erfahrungswissen
und Strukturvorgaben transportiert. Leitlinien stellen daher ebenso wie Sachverständigengutachten,
Empfehlungen oder Lehrbuchinhalte sachverständige Äußerungen dar, die ein Indiz dafür
abgeben können, was unter der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verstanden werden
kann. Diese Indizwirkung wird desto stärker, als es sich um typisierte Fallvarianten
handelt. Sie wird um so schwächer, als die Besonderheiten des einzelnen Falles überwiegen.
Dementsprechend werden Leitlinien zuallererst in denjenigen Bereichen Wirkung entfalten,
in denen es weniger um die individuelle ärztliche Entscheidung als vielmehr um Strukturvorgaben
geht. Dies betrifft z. B. interkollegiale Vereinbarungen über die Zusammenarbeit einzelner
Berufsgruppen wie z. B. die Vereinbarung zwischen Chirurgen und Anästhesisten über
die Verantwortung für die prä-, intra- und postoperative Lagerung [[42]], die Vereinbarung über die Zusammenarbeit bei der Bluttransfusion [[43]] oder die Vereinbarung zwischen Anästhesisten und Frauenärzten über die Zusammenarbeit
in der operativen Gynäkologie und Geburtshilfe [[44]]. Derartige Vereinbarungen werden von der Rechtsprechung [[45]] als Konkretisierung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, d. h. als Verkehrsanschauung
der betroffenen Fachkreise anerkannt. Dies ist nachvollziehbar, handelt es sich doch
um die Absicherung allgemeingültiger Verfahrensabläufe, wie sie vorhersehbar in einer
Vielzahl von Fällen - unabhängig von den Besonderheiten des einzelnen Krankheitsfalles
- planbar sind. Im übrigen werden Leitlinien ihre normative Kraft in der Regel über
Sachverständigengutachten entfalten. Denn der Sachverständige muss die einschlägigen
Leitlinien kennen, die für die Bewertung der ihm gestellten Sachfrage von Bedeutung
sein können. Er ist allerdings nicht verpflichtet, sie seiner Bewertung zugrunde zu
legen. Vielmehr hat er stets zu überprüfen, ob der Inhalt der Leitlinie sich mit seinem
Erfahrungswissen deckt bzw. den Besonderheiten des konkreten Falles gerecht wird.
Er darf sich weder durch eine schlichte Bezugnahme auf die Leitlinie einer eigenen
Bewertung entziehen, noch darf er seine eigene Bewertung apodiktisch in den Raum stellen,
ohne sich mit den Aussagen der Leitlinie kritisch auseinandergesetzt zu haben.
11. Leitlinien und Beweislastverteilung
11. Leitlinien und Beweislastverteilung
Arzthaftung ist Verschuldenshaftung. Der Eintritt eines Schadens begründet grundsätzlich
keinen Anschein sorgfaltswidrigen Verhaltens [[46]]. Dies gilt mit Hinblick auf den Grundsatz der Methodenfreiheit normalerweise auch
bei Abweichen von einer Leitlinie zur Diagnostik und Therapie bestimmter Krankheitsbilder
[[47]]. Die Frage der Beweislastumkehr stellt sich schon begrifflich dann nicht, so lange
sich der Arzt noch in dem von der Leitlinie selbst vorgegebenen „Entscheidungskorridor“
befindet. Verlässt er diesen Bereich, kommt es darauf an, welchem Regelungsbereich
die Leitlinie zuzuordnen ist. Handelt es sich um Leitlinien mit Strukturkomponenten,
wie dies bei den interprofessionellen Vereinbarungen unterschiedlicher Fachgebiete
der Fall ist, kann die Nichtbeachtung einer Aufgabenzuweisung zur Beweislastumkehr
zu Lasten des Arztes führen [[48]]. Die Situation ist mit der Frage der Beweislast bei der Vermeidung beherrschbarer
Risiken zu vergleichen [[49]]. Betrifft die Leitlinie hingegen den Bereich der Diagnose- und Therapiewahl, begründet
ein Abweichen - isoliert betrachtet - noch keine Beweislastumkehr. Vielmehr kommen
dann die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Frage der Beweislastumkehr
und ‐erleichterung für den Fall des groben Behandlungsfehlers bzw. der Nichterhebung
von Befunden zum Tragen [[50]].