Zu den Kriterien einer Alkoholabhängigkeit gehören starkes Verlangen, die Substanz
zu konsumieren, Kontrollverlust, Entzugssymptomatik, Toleranzentwicklung, Vernachlässigung
anderer Interessen und anhaltender Gebrauch trotz schädlicher Folgen (ICD-10).
8 % der Bevölkerung in Deutschland sind alkoholabhängig oder betreiben Alkoholmissbrauch.
Jährlich sterben etwa 42000 Menschen an alkoholassoziierten Erkrankungen. Die kumulativen
Kosten der Alkoholkrankheit belaufen sich auf ca. 20 Milliarden Euro/Jahr (DHS 2002).
Alkohol ist in den USA die dritthäufigste Todesursache und führt zu 75 % aller Leberzirrhosen,
4 % aller Krebserkrankungen und ist an 45 % aller Verkehrsunfälle beteiligt [10].
Im Gegensatz zu Mendelschen Erbkrankheiten wie der Sichelzellanämie oder der Phenylketonurie,
die durch einen genetischen Defekt in einem spezifischen Genlokus verursacht werden
(monogene Erbkrankheiten), liegt die Ursache für komplexe Erkrankungen - zu denen
auch die Alkoholabhängigkeit gezählt wird - in der genetischen Konstitution weniger
(oligogene) oder vieler (polygener) chromosomaler Loci begründet. Daraus resultiert
gleichzeitig eine geringe Penetranz der Erkrankung, da ein spezifisches Krankheitsallel
weder notwendig noch genügend ist, um die Erkrankung alleine hervorzurufen. Diese
Eigenschaft, zusammen mit dem Beitrag multipler Umweltfaktoren („Gen X Environment
Interaction”), erschweren das Auffinden der krankheitsassoziierten genomischen Bereiche
und machen für eine Assoziationsanalyse die Genotypisierung einer großen Anzahl klinischer
Proben notwendig, um Allele zu finden, die statistisch mit der Erkrankung assoziiert
sind [14].
Für Alkoholabhängigkeit beim Menschen wurde der große vererbliche Anteil in Familien-,
Zwillings- und Adoptionsstudien nachgewiesen [6]
[8]
[11]
[13]
[16]
[17]. Die Stärke des genetischen Einflusses, der Hereditätskoeffizient, der den Prozentsatz
der ausschließlich durch genetische Faktoren erklärbaren Varianz angibt, liegt bei
etwa 50 % [9]. Aus Segregationsanalysen ist weiterhin bekannt, dass bei der Alkoholabhängigkeit
kein Hauptgeneffekt besteht [4] und, wie für komplexe Erkrankungen typisch, jedes einzelne beteiligte Gen nur geringe
Auswirkungen auf die Ausbildung des Phänotyps hat. Um einen klinisch relevanten genetischen
Beitrag zu identifizieren, müssen bei Alkoholabhängigkeit daher verschiedene Variationen
unterschiedlicher Gene aus unterschiedlichen biologischen Signalsystemen betrachtet
werden.
Analyse der Variation funktioneller biologischer Systeme
Aufgrund von methodischen Einschränkungen wurden bisher nur wenige Polymorphismen
einer kleinen Anzahl potenzieller Kandidatengene untersucht. Diese Untersuchungen
konnten einerseits den Fortschritten in der Grundlagenforschung nur teilweise gerecht
werden und bargen andererseits die Gefahr einer Simplifizierung der medizinisch-klinischen
Theoriebildung bei der Alkoholabhängigkeit.
Tatsächlich jedoch umfassen die wesentlichen, an Suchterkrankungen beteiligten Komponenten
nicht nur die eigentlichen Neurotransmitterrezeptoren, deren Aktivität durch den Alkoholeinfluss
verändert wird, sondern weiterhin alle Moleküle, die am Auf- und Abbau der Transmitter
beteiligt sind oder die zellinterne Signaltransduktion bis zur Effektorstruktur vermitteln
[15]. Dadurch können - je nach der genetischen Konstitution eines Patienten- additive
und subtraktive Effekte der einzelnen Komponenten eines Neurotransmittersystems auf
die Verfügbarkeit eines Neurotransmitters im synaptischen Spalt [2] und die intrazelluläre Weiterleitung seines Signals zustande kommen. Kritisch bei
der Suche nach Dispositionsgenen für komplexe Erkrankungen ist daher die sorgfältige,
aber umfassende Auswahl von zu untersuchenden Kandidatengenen. Dazu stehen prinzipiell
drei Strategien zur Verfügung:
-
Funktionelle Kandidatengene, deren Produkte nach bisherigem Wissen in die Pathophysiologie
der Erkrankung involviert sind
-
Positionelle Kandidatengene, die in solchen Kandidatenregionen liegen, die aufgrund
von vorausgegangenen Kopplungsuntersuchungen eine konsistente Kopplung mit der Erkrankung
aufweisen, wobei Konsistenz durch Metaanalysen oder Übereinstimmung zwischen mehreren
unabhängigen Kopplungsanalysen zu belegen ist
-
Untersuchungen von Kandidatengenen, die in Tiermodellen erkrankungsanaloge Phänotypen
beeinflussen.
Eine vierte Möglichkeit, die Identifikation von positionalen Kandidatengenen in genomweiten
Assoziationsuntersuchungen, ist derzeit noch nicht realisierbar.
Die Alternative 1 hat sich trotz der zahlreichen Untersuchungen bisher nicht als erfolgreich
erwiesen; für die Alternative 2 sind aufgrund der geringen Anzahl bisher vorliegender
Kopplungsanalysen die Voraussetzungen nicht besonders günstig. Dagegen muss die dritte
Alternative aufgrund der großen Anzahl bisher durchgeführter, erfolgreicher tiergenetischer
Untersuchungen als ertragreicher angesehen werden [19].
Genotypisierung an klinisch relevanten Proben ist insbesondere bei der Untersuchung
von oligogen vererbten Erkrankungen unerlässlich: Obwohl Untersuchungen am Tiermodell
ein hohes Maß an funktioneller Relevanz aufweisen und sich daher als Quelle zur Identifikation
von Kandidatengenen eignen [19], ist eine Übertragung dieser Befunde auf den Menschen nicht unproblematisch. Dass
dies nicht nur aufgrund des offensichtlichen Speziesunterschiedes der Fall ist, soll
beispielhaft am „Knock-out”-Modell aufgezeigt werden: Eine Begrenzung der Gültigkeit
des Modells besteht u.a. darin, dass der Verlust eines Genes, welches in einer Eizelle
eliminiert wurde, schwerwiegende qualitative Konsequenzen haben kann. Diese sind weitreichender
als die zumeist leichtgradigen quantitativen Konsequenzen für die Genfunktion aufgrund
genetischer Variationen bei häufigen oligogenen Erkrankungen.
Zudem kann durch kompensatorische Mechanismen bei den untersuchten Tieren der Effekt
des Kandidatengens auf den analysierten Phänotyp maskiert werden. Bei Knock-out-Modellen
von oligogen regulierten Verhaltensweisen wie Alkoholtrinkverhalten können abweichende
Untersuchungsergebnisse zusätzlich durch Gen-Umgebungsinteraktionen zustande kommen.
So ließ sich die beobachtete Alkoholsensitivität und fehlende Toleranzentwicklung
bei gleichartigen Protein Tyrosin Kinase (PTK) fyn-Knock-out-Mäusen nicht in jedem
Labor replizieren [3]
[12].
Diese Einschränkungen stellen die Bedeutung von Knock-out-Modellen für die Identifikation
von Kandidatengenen nicht in Frage, sondern sollen vielmehr auf die Wichtigkeit von
Genotypisierungsergebnissen an klinischen Proben aufmerksam machen.
Im Fall der glutamatergen Signaltransduktion beispielsweise bedeutet das, dass mehrere
Gene, deren Bedeutung bezüglich des Alkohol-Trinkverhaltens tierexperimentell belegt
ist, am Menschen untersucht werden müssen. Dadurch kann dann der relative Anteil der
einzelnen Gene und Mutationen an Alkoholabhängigkeit bzw. relevanten Phänotypen dieser
Erkrankung beim Menschen bestimmt werden.
Eine derartige Berücksichtigung kombinierter Geneffekte könnte eine klinisch relevante
Varianzaufklärung genetischer Ursachen der Alkoholabhängigkeit zur Folge haben und
die Entwicklung individualisierter Therapien weiter vorantreiben.
Die Arbeit „The clock gene Period2influences the glutamatergic system and thereby
modulates alcohol consumption” (22) stellt bereits jetzt exemplarisch die Verknüpfung
einer tierexperimentellen Untersuchung eines Kandidatengenes mit einer Assoziationsuntersuchung
am Menschen dar. Sie ist insofern beispielhaft für die funktionelle Validierung von
Genen der Signaltransduktion, die in Beziehung zum glutamatergen System stehen.
In den letzten Jahren wurden neue Strategien zur phänotypischen Charakterisierung
geschaffen, die auf biologischen Kriterien beruhen, bereits mit der Hinsicht darauf,
die Zahl der an einem Phänotyp beteiligten Kandidatengene so stark wie möglich einzugrenzen.
Diese so genannten „Endophänotypen” oder „intermediäre Phänotypen” könnten eine erfolgreiche
Strategie darstellen, um Risikogene oligogener Erkrankungen einfacher als bisher zu
identifizieren (5).
Der phänotypische Effekt der Sucht wird neben Umwelteinflüssen durch funktionelle
genetische Polymorphismen vermittelt
Gegenstand der Assoziationsuntersuchungen sind derzeit vor allem sog. „single nucleotide
polymorphisms” (SNPs), da sie die häufigste Form genetischer Variation darstellen
[1]. Funktionelle SNPs führen zu „missense”-Mutationen (Änderung der Aminosäuresequenz)
oder zur Veränderung der transkriptionellen Aktivität, und können dadurch die Funktion
oder Menge des gebildeten Proteins beeinflussen. Weiterhin können jedoch auch „stumme”
oder intronische SNPs - bisher oft als effektlos bezeichnet und daher wenig beachtet
- einen Einfluss auf transkriptionelle Aktivität oder auf das Spleißing der pre-m-RNA
haben.
Case-Control-Assoziationsanalysen sind eine sensitive Detektionsmethode für allelischen
Beitrag zu Suchterkrankungen
Häufige, oligogene Erkrankungen mit komplexem Erbgang eignen sich für Assoziationsanalysen
mittels Kandidatengenen. Während Linkageanalysen gut geeignet sind für seltene Einzelgeneffekte,
sind Kandidatengenstudien insbesondere dann geeignet, wenn das Risiko, das mit jedem
Kandidatengen assoziiert ist, relativ gering ist: Assoziationsstudien weisen bei oligogenen
Erkrankungen eine höhere statistische „power” für die Identifikation von Risikogenen
als Kopplungsanalysen auf [14].
Ziel von genetischen Assoziationsstudien ist es, einen oder mehrere Genotypen mit
einem oder mehreren Phänotypen statistisch zu korrelieren: Die typische Abfolge einer
Assoziationsstudie beginnt mit dem Studiendesign, der Kandidatengen- und SNP-Auswahl
(die in vielen Fällen eine „SNP-discovery” in den in Frage kommenden Kandidatengenen
bei einem Umfang von 16-32 Probanden voraussetzt). Diesen Vorarbeiten folgen die laborexperimentelle
Durchführung der Genotypisierung, das Auslesen der allelischen Information für jedes
Individuum und die abschließende statistische Analyse von Genotyp- und Phänotypdaten.
In eigenen Arbeiten, die die Bedeutung glutamaterger Gene für die Alkoholabhängigkeit
untersuchen, wird die Auflösungskraft von Assoziationsstudien deutlich: An klinisch
relevanten Proben konnte eine Assoziation eines Genotyps in der Promoterregion des
Protein-Tyrosin-Kinase (PTK) fyn-Genes mit Alkoholabhängigkeit und mit spezifischen
Phänotypen von Alkoholabhängigkeit nachgewiesen werden [20]. Eine Beteiligung eines weiteren, stummen SNPs im Exon 1 des NMDA-Rezeptor 2B an
Alkoholabhängigkeit konnte dagegen in mehreren Untersuchungen ausgeschlossen werden
[18]
[23]
[24]. Auch nicht-Neurotransmitter-Komponenten spielen bei Alkoholabhängigkeit eine wichtige
Rolle, da sie Neurotransmittersysteme beeinflussen können: Mäuse mit einem mutierten
zirkadianen Rhythmikgen „Period 2” (Per2) weisen eine reduzierte Expression des Gens
für den Glutamat-Transporter (EAAT2) und eine vermehrte Alkoholtrinkmenge auf. Auf
klinisch relevanter Seite konnte in derselben Untersuchung bei alkoholabhängigen Patienten
eine Assoziation von vermehrtem Alkoholkonsum (> 300g/d) mit einem Haplotyp des Per2
Gens gefunden werden [22].
Die Assoziationen von SNPs der PTK fyn und von Per2 können somit im humanen System
die pathophysiologischen Annahmen zur Bedeutung des glutamatergen Systems für die
Alkoholerkrankung bestätigen [21]. Allerdings handelt es sich bei den bisherigen Untersuchungen nicht um Befunde,
die auf einer systematischen Analyse genetischer Variationen von Kandidatengenen beruhen,
was die Aussagekraft sowohl der positiven, als auch der negativen Assoziationsergebnisse
einschränkt [23]. Darüber hinaus besteht Forschungsbedarf noch bei der Untersuchung der funktionellen
Relevanz der untersuchten SNPs.
Linkage Disequilibrium (LD)-Mapping: Systematisches Testen von Kandidatengenen auf
Assoziation
Aktuelle methodische Entwicklungen auf dem Gebiet der Molekulargenetik und der statistischen
Genetik erlauben eine umfassende Analyse genetischer Variationen von potenziellen
Kandidatengenen. Hierbei werden SNPs potenzieller Kandidatengene aus Datenbanken (z.B.
dbSNP) oder durch Sequenzanalyse identifiziert und auf ihre Verteilungsmuster hin
analysiert. Auf diese Weise können Gruppen von SNPs, die ein gleiches Verteilungsmuster
aufweisen, identifiziert und sog. Haplotypblöcke geschätzt werden, innerhalb derer
eine hohe Kopplung von allelischen Zuständen benachbarter SNPs entlang des DNA-Stranges
(Linkage Disequilibrium = LD) vorliegt.
Bei einer LD-Mapping-Analyse werden nur sogenannte „haplotype-tagging SNPs”, die Haplotypblöcke
(DNA-Bereiche mit hohem LD) allelisch definieren und zwischen den häufigsten Haplotypen
diskriminieren, selektiert und genotypisiert. Dabei muss der genotypisierende Forscher
eine Balance zwischen zwei wichtigen Variablen finden: Einerseits will man mengenmäßig
eine ausreichend große Anzahl an haplotype-tagging SNPs genotypisieren, um möglichst
alle Haplotypblöcke zu erfassen und zuverlässig ein mögliches Linkage Disequilibrium
mit einem kausativen Allel feststellen zu können, andererseits müssen die finanziellen
Ressourcen erschwinglich bleiben. Hauptsächlich bestimmt die lokale LD-Architektur
über den Genotypisierungsaufwand, denn je mehr LD vorhanden ist, desto weniger Marker
zur systematischen Assoziationsanalyse müssen zur Abdeckung des gesamten Gens analysiert
werden.
Die aus solchen LD-basierenden Genotypisierungen resultierenden Assoziationsuntersuchungen
erlauben dann über indirekte allelische Assoziation eine Aussage über alle identifizierten
SNPs des Gens und mithin über das gesamte Gen [7]. Aufgrund dieser methodischen Fortschritte kann die bisherige Begrenzung von Assoziationsstudien
auf einige wenige genetische Variationen überwunden werden. Allerdings erfordert die
vereinfachte Analyse genetischer Variationen angesichts der Fülle möglicher Kandidatengene
eine stringente Auswahl.
Weitere Phänotypen der Substanzabhängigkeit
Humangenetische Untersuchungen (Zwillingsstudien) weisen aus, dass die genetisch definierte
Risikomasse für Alkoholismus zu einem substanziellen Teil (50 %) mit der genetischen
Risikomasse für andere substanzgebundene Abhängigkeiten identisch ist. Erklärung findet
diese Beobachtung darin, dass verschiedene Substanzen in die gleichen Neurotransmitter-
und Signaltransduktionswege eingreifen. Umfassende funktionelle Untersuchungen zur
Bedeutung der genetischen Variabilität von Neurotransmitter/Signaltransduktionssystemen
für die Alkoholabhängigkeit sind daher auch als entscheidende Etappe für die Entwicklung
neuartiger Therapien anderer Suchterkrankungen anzusehen.
Die genetischen Untersuchungen von häufigen Erkrankungen mit komplexem Erbgang, wie
der Alkoholabhängigkeit, befinden sich derzeit in einem raschen Wandel. Der Übergang
zu einer systematischen Analyse von Kandidatengenen und die damit verbundene Abkehr
von der Untersuchung einzelner, isolierter genetischer Variationen mit letztendlich
geringer Aussagekraft wird es der genetischen Alkoholforschung ermöglichen, die Ergebnisse
der Grundlagenforschung in klinisch relevante Ergebnisse umzusetzen.