Ein grundlegendes therapeutisches, psycho-soziales und sozialmedizinisches Problem
von Borreliose-Kranken besteht im laborchemischen oder radiologischen Nachweis ihres
Leidens, zumal bei unspezifischen, changierenden und unterschiedlich ausgeprägten
Symptomen, in deren "Licht" die Laborbefunde gedeutet werden sollen. Mediziner, die
für ihr Fach den Anspruch einer exakten (Natur-)Wissenschaft erheben, sehen sich hier
vor das Problem gestellt, "einen Pudding an die Wand zu nageln" bzw. einem Pudding
(Laborbefund) durch einen anderen (Symptomatik) Halt geben zu sollen. Im günstigen
Fall kann dies für den Patienten auf eine Ausschlussdiagnose hinaus laufen (vergleichbar
dem CFS). In der Regel tendieren Ärzte, deren infektiologische Ausbildung infolge
des Antibiotika- und Impfoptimismus jahrzehntelang vernachlässigt wurde, eher zur
Psychosomatisierung oder Psychiatrisierung der Infizierten.
Borreliosen zeigen sich häufig phänotypisch als psychische Erkrankung - Depression,
Angststörung, Psychose, Wesensveränderung, Aggressivität ([1]). Das lädt zu ihrem Missverständnis als psychogenes Leiden geradezu ein. Die Beispiele
für "psychiatrische Karrieren", die sich erst nach Jahren als infektionsbedingt herausstellten
und dann mit zumindest partiellem Erfolg antibiotisch behandelt wurden, sind zahlreich.
Bezeichnenderweise deckte eine tschechische Studie ([3]) vor wenigen Jahren auf, dass die Durchseuchungsrate mit Borrelia unter Patienten
psychiatrischer Kliniken mit rund 33% fast doppelt so hoch war wie in der Gesamtbevölkerung
(19%) - und dies wohl kaum, weil psychisch Kranke doppelt so oft von infizierten Zecken
gebissen werden, sondern umgekehrt: weil Borrelieninfektionen häufig - und unerkannt
- psychisch krank machen.
Springen keine motorischen, morphologischen oder gravierenden kognitiven Defizite
ins Auge, gilt das Nervensystem in der Regel als biologisch gesund und allenfalls
durch psychische Einflüsse beeinträchtigt. Schulpsychologin Monika Huesmann (Olpe)
karikiert die Versuchung ihrer Zunft mit dem "Motto: Wer einen Hammer hat, für den
ist bald jedes Problem ein Nagel".
Dass die Medizin bei der Erforschung des Nervensystems oder auch des Stoffwechsels
noch weit hinter den eindrucksvollen Fortschritten anderer Fachrichtungen wie Chirurgie
und Transplantationsmedizin zurückbleibt, scheint bei Praktikern an der Basis oft
nicht bewusst zu sein. Funktionsweise und Störungsanfälligkeit des menschlichen Gehirns
sowie seine Interdependenzen mit Immunsystem, Hormonen und Organfunktionen, geben
- trotz der in letzter Zeit häufiger vermeldeten Entdeckungen - noch immer mehr Rätsel
auf als gesicherte Erkenntnisse bestehen.
Erreger im Aufbruch
Erreger im Aufbruch
Leider wird dies in der neurologischen und sozialmedizinischen Praxis offenbar noch
weitgehend ignoriert. Fände und nähme man sich die Zeit, würde man schnell erkennen,
dass "Erreger im Aufbruch" ([7]) die hiesige, früher nur von Aids erschütterte, infektionsmedizinische "Alles im
Griff"-Illusion längst überrollt haben. Die Rückkehr von Syphilis und TBC, die Ausbrüche
von Ebola, SARS und Vogelgrippe, die Entdeckung eines besonders aggressiven HIV-Virus
sowie von insgesamt zunehmenden Erreger-Resistenzen sollte berufsethisch betrachtet
eigentlich bescheiden und vorsichtig im Behaupten von Sicherheiten und im konkreten
Urteil machen.
Betroffene einer Borrelien-Infektion merken davon jedoch erstaunlich wenig. Obwohl
aufgrund chronifizierter Borreliosen in ganz Deutschland und Europa Selbsthilfegruppen
entstehen und wachsen - immer ein Zeichen unzureichender bzw. gescheiterter medizinischer
Hilfe -, berichtete beispielsweise der ZDF-Teledoktor noch 2004, dass Borreliosen
in jedem Stadium leicht antibiotisch heilbar seien.
Ein Todesfall
Ein Todesfall
Monate später stellte der gleiche Sender ("Frontal") aber den Fall eines 32-jährigen
Leistungssportlers vor, der nach einer Borrelieninfektion und angeblich "ausreichender"
antibiotischer Therapie innerhalb von zwei Jahren dahinsiechte und schließlich nach
einem Gewichtsverlust von 20 kg an "Herz-Lungen-Versagen" starb. Eine andere Ursache
als die vermeintliche "Modekrankheit" Borreliose fand man nicht. Obwohl auch in Schwerpunktpraxen
und Selbsthilfegruppen von Todesfällen berichtet wird, behauptet die herrschende Lehre
weiterhin, dass Borreliosen nicht töten - und dass Infizierte mit drei bis vier Wochen
Ceftriaxon- oder Cefotaxim-Infusionen "ausreichend therapiert" seien. Wer danach über
eine Rückkehr oder Persistenz der Beschwerden klagt, dem wird günstigstenfalls ein
"Post-Lyme-Syndrom" zuerkannt. Meistens landet er in der Simulanten- oder Psychoecke
(Hypochondrie, anankastische Neurose etc.). Dass mehrmals selbst nach monatelangen
Langzeitantibiosen noch die Anzüchtung von Borrelien aus Biopsiematerial gelang, wird
nicht zur Kenntnis genommen oder durch die pure Behauptung verdrängt, da könne es
sich nur um eine Neuinfektion handeln. Motto: "Wenn unsere Ideen nicht mit der Wirklichkeit
übereinstimmen - Pech für die Wirklichkeit!"
Angesichts der Bagatellisierung ihrer Krankheitssymptome und der (zunächst) meist
unauffälligen Routinelaborwerte klammern sich seropositive LB-Kranke (es gibt auch
Non-Responder und verzögerte humorale Abwehrreaktionen!) an immer neue, kostspielige
Serologien und versuchen, aus Antikörpertitern und Westernblots Belege für die vermutete
Persistenz der Infektion oder Aufschluss über ihren Verlauf zu gewinnen. Diese "Beweise"
werden ihnen, zumal wenn der IgM-Titer negativ ist (im Stadium II/III aber die Regel),
von Gutachtern regelmäßig als "Serumnarben" oder "Durchseuchungstiter" aus der Hand
geschlagen, wobei die Symptomatik dann doch wieder nicht - wie es der Laborkommentar
meist fordert - zur Deutung des Befundes herangezogen wird.
Der beliebte sprachliche Kunstgriff einer "durchgemachten" Borrelieninfektion insinuiert,
was sich wissenschaftlich nicht belegen lässt: dass das Infektionsgeschehen abgeschlossen
sei (sein müsse) und allenfalls "Restbeschwerden" weiter bestünden. Laborgläubige
Messbarkeitsoptimisten behaupten zwar, mit der Polymerasen-Kettenreaktion (PCR) über
ein Ausschlusskriterium für die Erregerpersistenz zu verfügen. Doch dies wird selbst
von dem für seine extrem restriktiven Diagnosekriterien bekannten Münchener Max von
Pettenkofer-Institut (Nationales Referenzzentrum Borrelien) - jedenfalls für Blut
und Urin - zurückgewiesen; für Haut- und Liquorproben sei die PCR etwa so (un-)zuverlässig
wie die Kultur und nur bei Gelenkpunktat überlegen. Nach den offiziellen Qualitätsrichtlinien
MIQ 12/2000 beträgt die Sensitivität aus Liquor nur 10-30%. Falsch negative Ergebnisse
sind schon aufgrund einer vergleichsweise geringen Erregerdichte (erst recht nach
initialer Antibiose) und wegen der Zusammenlagerung von Borrelien an wenigen Körperstellen
zu erwarten, von den Anforderungen an Transport(zeiten) und labortechnische Expertise
ganz zu schweigen.
Aktivitätstest LTT
Aktivitätstest LTT
Gleiches gilt für den Lymphozytentransformationstest (LTT), mit dem etwa das Berliner
Institut für Medizinische Diagnostik (IMD) die Stimulation von T-Zellen durch gereinigte
Borrelienantigene und damit indirekt die Erregeraktivität misst. Allgemein akzeptiert
ist die Methode allerdings nicht. Eine Mehrheit der Experten ging bisher davon aus,
dass der LTT auch unspezifische Immunprozesse anzeigen könne. Professor Rüdiger von
Baehr verweist dagegen auf methodische Verfeinerungen in den letzten Jahren und auf
eine interne Studie des IMD, die eine hohe Übereinstimmung (76%) von LTT-Befund und
Serologie ergab; Abweichungen ließen sich durch die Zusammenschau mit Anamnese und
Symptomatik leicht erklären (negativer LTT/positive Serologie nach erfolgreicher Therapie
mit "Serumnarbe" - negative Serologie/positiver LTT in der Frühphase der Infektion,
meist mit EM, sowie bei rund 5% Non-Respondern). An der "Basis" herumgesprochen haben
sich diese Erkenntnisse aber offenkundig noch nicht: In einem Artikel der "Medical
Tribune" vom 24.3.2005, der auf Vorträgen einer Ärztefortbildung zur Borreliose beruht,
wurde der LTT gar nicht erwähnt.
Wie man es auch dreht und wendet: Letztlich kann man durch die verfügbaren Bluttests
nur beweisen, dass eine Borrelien-Infektion stattgefunden hat. Auch Liquoruntersuchungen
liefern kein sicheres Kriterium für eine floride Infektion, da bei klarer Anamnese
(Zeckenbiss, Erythema Migrans), stark positiver Serologie (Elisa mit hochspezifischen
Banden im Westernblot) und ausgeprägt neurologischer Symptomatik oft unauffällige
Liquorbefunde (30-40%) beobachtet werden, ohne dass eine diagnostische Alternative
erkennbar wäre, die über das "Post-Lyme-Syndrom" als Verlegenheitsdiagnose hinaus
ginge. Der amerikanische LB-Pionier Burrascano berichtete 2002 sogar: "Selbst im Falle
einer Lyme-Meningitis sind Antikörper im Zentralnervensystem in weniger als 20% der
Patienten mit einer Spätborreliose nachweisbar". In einer Schweizer Studie ([5]) waren nur bei einem Viertel der Neuroborreliose-Patienten mit einer Facialisparese
im Liquor Abnormalitäten zu finden. Über allgemein akzeptierte, zuverlässige laborchemische
Aktivitätsparameter von Borrelieninfektionen verfügt man also nicht. Und die schwierige
Anzucht aus Biopsiematerial ist in den vielen neurologischen Fällen ohne Haut- und
Gelenkmanifestation kaum möglich oder zumutbar.
Nun wäre es aber wissenschaftstheoretisch verfehlt, eine vom Patienten geklagte Krankheit
(zumal eine Infektion) nur im Falle ihrer Verifikation durch zuverlässige laborchemische
oder bildgebende Verfahren als real anzunehmen, solange solche Verfahren gar nicht
zur Verfügung stehen. Ebenso gut ließe sich dagegen nämlich vertreten, dass bei klarer
Anamnese, Symptomatik und Serologie die Diagnose nur durch Falsifikation verneint
werden könnte. Letztlich wird die Medizin wie die Juristerei den Täter eben nicht
immer "in flagranti" erwischen bzw. durch Beweisfotos, DNA-Spuren oder Fingerabdrücke
überführen können und sich daher auf einen Indizienprozess verlegen müssen. Solche
Indizien könnten bei einer systematischen Sammlung und Auswertung von Patientendaten
viel mehr als bisher pathologische Befunde sein, die nicht auf einen Erregernachweis
abzielen, sondern auf das, was der Erreger im Organismus durcheinander bringt.
Andere Laborindizien
Andere Laborindizien
Einige Beispiele: Der deutsch-amerikanische Arzt Dietrich Klinghardt, ein Meinungsführer
der Naturheilkunde und "Ganzheitsmedizin", der chronische Borreliosen für "die Seuche
des 21. Jahrhunderts" hält, erwähnt als häufige LB-Begleiterscheinung eine mäßige
Leukopenie, hohe Elisa-Werte der Herpesviren, erniedrigte Serum-Aminosäuren, Mineralienverarmung,
eine niedrige alkalische Phosphatase und eine verminderte Konzentration des Urins
(niedriges spezifisches Gewicht), erniedrigtes DHEA und Testosteron sowie hohes Kortisol,
eine pathologische Veränderung der HDL/LDL-Relation bei Erhöhung des Gesamtcholesterins
und erhöhte Triglyzeride, also die "typische Kombination der Risikofaktoren für eine
koronare Herzerkrankung" ([4]). Auch erhöhte Leber- oder Pankreaswerte (ohne andere erkennbare Ursache) treten
vermehrt auf - was jedoch auch Folge längerer oder häufiger Antibiosen sein kann.
Aufschluss über eine chronische Grunderkrankung bietet ein Immunstatus, wobei die
T4/T8-Ratio bei LB eher erhöht und die Komplemente (C3, C4) erniedrigt sind. Die Nähe
dieser Befundkonstellation zur Lupus-Kriteriologie korrespondiert mit der Ähnlichkeit
in der Symptomatik und könnte darauf hinweisen, dass nicht nur Chlamydien MS auslösen,
sondern auch Borrelien wie Trepomena in bestimmten Organismen autoaggressive Prozesse
provozieren. Schon mancher ursprünglich LB-Kranke ist nach jahrelangem Leiden trotz
wiederholter Antibiosen schließlich in die Rubrik "Autoimmun" überwiesen und mit Immunsuppressiva
weiter behandelt worden - mit unterschiedlichem Erfolg. Andererseits sind Fälle bekannt,
in denen erst die vierte oder fünfte Antibiose Symptomfreiheit brachte.
Aufschluss durch Hirn-SPECT
Aufschluss durch Hirn-SPECT
Viel "Musik" scheint darüber hinaus in der Neuroendokrinologie zu spielen. In den
Netzwerken der Selbsthilfe stießen LB-Kranke jedenfalls auf übereinstimmende Befunde
wie erhöhte Prolaktinwerte und Schilddrüsen-Funktionsstörungen, veränderte Kortisol-Tagesprofile
oder eine Hypophysenunterfunktion. Nuklearmedizinisch zeigt eine Hirn-SPECT (Single-Photon-Emission-Computer-Tomografie)
bei mindestens der Hälfte der Patienten mit chronischer Borreliose Anomalien: "Die
spezifische Erscheinung ist ein heterogenes Muster verminderter Perfusion. Das bedeutet,
dass es quer durch das Gehirn fleckige Gebiete gibt, die wie verminderter Blutfluss
aussehen. Wir wissen nicht, ob es ein vaskuläres oder ein Stoffwechselproblem ist.
Aber was klar ist: Es ist ein weitreichendes Problem", betont Brian Fallon ([2]). Bezeichnenderweise verbesserte sich der Blutfluss in den betroffenen Hirnarealen
unter intravenöser antibiotischer Therapie. Die Gehirn-Anomalien, die auch bei Patienten
mit HIV-Enzephalopathie, Lupus, CFS oder chronischem Kokainmissbrauch zu beobachten
sind, scheinen also zumindest teilweise umkehrbar zu sein. Auffällig ist, dass die
Depressionen bei Patienten mit Borreliose dreimal häufiger sind als etwa bei vergleichbar
schweren Krankheiten. "Das war überraschend für uns, und es legt nahe, dass etwas
im Gehirn von Lyme-Patienten vorgeht, dass die Depression direkt verursacht" (2).
So kann zwar nach den rigiden Maßstäben der Verwalter der "reinen Lehre" immer noch
keine floride Borreliose nachgewiesen werden. Wohl aber ließe sich durch den breiteren
diagnostischen Blickwinkel ein ernstzunehmendes Krankheitsbild mit überprüfbaren Messwerten
belegen, deren gehäuftes Auftreten nach LB-Infektionen zur Verdichtung des Verdachts
auf eine persistierende Infektion, jedenfalls aber auf eine chronische Krankheit,
herangezogen werden kann. Für die Patienten wäre damit zwar noch keine Heilung erreicht,
doch wenigstens die psycho-sozial entlastende Legitimation, wirklich krank zu sein
- sowie der eine oder andere Ansatzpunkt für eine pragmatische, symptomatisch orientierte
Therapie.
Fazit
Fazit
Mehr diagnostische Phantasie, Erfahrungsaustausch, Kooperation sowie statistische
Erfassung und Auswertung von Patientendaten sind also gefragt bei Beschreibung und
Nachweis der Lyme-Borreliose. Dabei mag es zwar nicht gelingen, "den Pudding an die
Wand zu nageln", doch vielleicht, ihn in einem Geflecht von Befunden so zu fassen,
dass er schließlich - um im Bild zu bleiben - wie in einem Netz an die Wand gehängt
werden kann. Spürbar grundkrank, aber ohne Diagnose "in der Luft zu hängen", weil
die wahrscheinlichste Ursache des Leidens dogmatisch bestritten wird, ohne eine alternative
Erklärung zu bieten, die über Psycho-Spekulation hinausginge - diese Patientensituation
mag zwar sparwütigen Kranken- und Rentenversicherungsbürokraten zunächst gelegen kommen.
Doch für schwer und chronisch kranke Menschen mit bereits radikal reduzierter Lebensqualität
ist sie auf Dauer unzumutbar.
Der Autor ist promovierter Politikwissenschaftler, Referent der Konrad-Adenauer-Stiftung
(z.Zt. i.R.), Publizist und Mitglied der 2004 gegründeten Borreliose-Gesellschaft.