Fortschr Neurol Psychiatr 2006; 74(4): 194-202
DOI: 10.1055/s-2005-915592
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Zum Verhältnis von Willensfreiheit und Neurobiologie

Eine methodenkritische UntersuchungFree Will and NeurobiologyA Methodological AnalysisK.  Brücher1 , U.  Gonther1
  • 1AMEOS Klinik Dr. Heines, Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (Ärztlicher Direktor: Dr. K. Brücher)
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
02. November 2005 (online)

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Zusammenfassung

Ob die neurobiologische Fundierung mentaler Prozesse prinzipiell mit dem Freiheitspostulat zu vereinbaren ist und welcher Stellenwert einzelnen Untersuchungsergebnissen hier zukommt, darüber wird zurzeit engagiert diskutiert. Zwei für unser Selbstverständnis zentrale Überzeugungen, die sich historisch parallel entwickelt haben - dass wir autonome Subjekte sind und mit den Wissenschaften über Verfahren verfügen, diese Autonomie als Macht über die Verhältnisse wirksam werden zu lassen -, scheinen inkompatibel miteinander zu werden: Die Neurobiologie setzt dazu an, die Willensfreiheit als Illusion zu entlarven. In dieser prekären Situation empfiehlt sich der Rückgang auf den Kern von Wissenschaftlichkeit, d. i. die Reflexion auf den Zusammenhang von Wahrheit und Methode. Beide Relata der infrage stehenden Beziehung: die Neurobiologie in Gestalt der Libetschen Experimente zur Willensfreiheit [1] und das philosophische Konzept der Willensfreiheit werden hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und Geltungsbedingungen einer kritischen Analyse unterzogen. Dabei zeigt sich: Libets [1] Untersuchungen sind auf methodischer, methodologischer und epistemischer Ebene kritisierbar. „Willensfreiheit” ist ein komplexes Konstrukt und nicht ein bloßer Sachverhalt. Sollen neurobiologische Erkenntnisse und das Konzept „Willensfreiheit” aufeinander bezogen werden, ist diese doppelte Komplikation zu beachten. Dann lassen sich erstens Bedingungen angeben, unter denen das naturwissenschaftliche Paradigma überhaupt mit „Willensfreiheit” kompatibel ist; zweitens können Modelle von Willensfreiheit entwickelt werden, die, die Klippen von Determination und Zufall gleichermaßen vermeidend, weiterhin einen sinnvollen Gebrauch dieses Begriffs erlauben.

Abstract

Whether or not the neurobiological basis of mental processes is compatible with the philosophical postulate of free will is a matter of committed debating in our days. What is the meaning of those frequently-quoted experiments concerning voluntary action (Libet [1])? Both convictions, being autonomous subjects and exercising a strong influence on the world by applying sciences, have become most important for modern human self-conception. Now these two views are growing apart and appear contradictory because neurobiology tries to reveal the illusionary character of free will. In order to cope with this ostensible dichotomy it is recommended to return to the core of scientific thinking, i. e. to the reflection about truth and methods. The neurobiological standpoint referring to Libet as well as the philosophical approaches to free will must be analysed, considering preconceptions and context-conditions. Hence Libet's experiments can be criticised on different levels: methods, methodology and epistemology. Free will is a highly complex system, not a simple fact. Taking these very complicated details into account it is possible to define conditions of compatibility and to use the term free will still in a meaningful way, negotiating the obstacles called pure chance and determinism.

Literatur

Dr. Klaus Brücher

Ärztlicher Direktor der AMEOS Klinik Dr. Heines

Rockwinkeler Landstr. 110

28325 Bremen

eMail: bremen@ameos.de