Entgegnung von Dr. Schilt auf die Mail von Dr. Meuwly, vom 21.3.2005
Sehr geehrter Herr Präsident,
Lieber Urs,
Die Stellungnahme im Mail vom 21.3.2005 von PD Dr. J.-Y. Meuwly, Lausanne, zum Schreiben
vom 9.3.20005 von Dr. Max Giger, Leiter AWF der FMH, an Dich als SGUM-Präsidenten,
ist uns per Mail am 25.3.2005 von PD Dr. K. Biedermann, Präsident der FMH-Kommission
"Hüftsonographie nach Graf", weitergeleitet worden. Hiezu ist eine Entgegnung unumgänglich:
A. Der Brief von Dr. M. Giger hat offensichtlich zu einem Missverständnis Anlass gegeben.
Es geht nicht um die Wiedereinführung des Hüftsonographie-Screenings in den Leistungskatalog
der obligatorischen Krankenversicherung. Als Vorsorgemassnahme war sie in KLV Art.
12, Bst. r enthalten, jedoch befristet bis zum 30.6.2004 und ist seither aufgehoben.
Seit 1.7.2004 ist jedoch die Hüftsonographie nach der Methode von Graf als diagnostische
Massnahme eine Pflichtleistung der Krankenkassen (KLV Anhang 1, Kapitel 4). Dieser
Beschluss des EDI ist unbefristet. Nach wie vor wird behördlicherseits vorgeschrieben,
dass diese Untersuchung durch speziell in dieser Methode ausgebildete Ärzte und Ärztinnen
durchzuführen sei. Das FMH-Fähigkeitsprogramm "Hüftsonographie nach Graf bei Neugeborenen
und Säuglingen" behält somit weiterhin seine Notwendigkeit!
B. Dr. Meuwly zitiert als Beleg der Nutzlosigkeit eines Hüftsonographie-Screenings eine
Arbeit aus Norwegen:
Holen KJ, Tegnander A, et al.: 'Universal or selective screening of the neonatal hip
using ultrasound? A prospective, randomised trial of 15,529 newborn infants'. J Bone
Joint Surg [Br] 2002; 84-B: 886-890.
B 1. Diese Publikation ist uns seit dem Erscheinen im Sommer 2002 bekannt. Es lohnt sich,
sie näher zu betrachten:
Studienanlage: Von 1988-1992 wurden (fast) alle Neugeborenen (15,529) im Universitäts-Spital
Trondheim durch Randomisierung in 2 Gruppen eingeteilt (Ausschluss von 410 Kindern
= 2,6%, deren Eltern im Ausland wohnten oder ihre Zustimmung verweigerten).
Gruppe 1: 7840 Neugeborene wurden klinisch untersucht, wovon 7489 (= 95,5%) auch sonographisch
(drop out 4,5%).
Gruppe 2: 7689 Neugeborene, die nur klinisch untersucht wurden. Zusätzlich Hüftsonographie
bei 872 Neugeborenen (= 11,3%) mit Risikofaktoren oder klinischer Auffälligkeit.
Resultate: Als Spätfälle wurden alle Kinder erfasst, deren Pathologie (Hüftluxation,
Hüftdysplasie) nach dem 1. Lebensmonat entdeckt und behandelt wurden:
Gruppe 1: 0,96% der Neugeborenen wurden behandelt. 1 Spätfall (0,13 auf 1000 Neugeborene)
wurde im Alter von 3 Monaten entdeckt (mit einseitiger Hüftdysplasie).
Gruppe 2: 0,86% der Neugeborenen wurden behandelt. 5 Spätfälle (0,65 auf 1000 Neugeborene)
wurden im Alter von 3-6 Monaten entdeckt (1 mit beidseitiger Hüftluxation, 2 mit einseitiger
Hüftluxation, 2 mit einseitiger Hüftdysplasie).
Schlussfolgerungen: Da der Unterschied der Rate der spät entdeckten Fälle (0,13 zu
0,65‰) statistisch nicht signifikant ist (p = 0,22 im Fisher's exact test), kommen
die Autoren zum Schluss, dass ein generelles Hüftsonographie-Screening nicht notwendig
sei. Sie geben jedoch zu, dass ein generelles Screening Spätfälle ausmerzen könnte,
zumal der einzige Fall in der Gruppe 1 einen Pes adductus aufwies und entgegen dem
Protokoll nicht sonographisch nachkontrolliert wurde.
B 2. Kommentar zu dieser Studie: Die fehlende statistische Signifikanz in der Häufigkeit
der Spätfälle in beiden Gruppen sagt lediglich aus, dass ein Unterschied nicht nachweisbar
war. Das Gegenteil ist aber genauso richtig, nämlich dass nicht nachweisbar ist, dass
kein Unterschied besteht.
Somit ist die Behauptung von Dr. Meuly keineswegs korrekt, dass der Beweis der Nutzlosigkeit
eines Screenings erbracht sei. Dieser logische Fehler findet sich immer wieder in
den Schlussfolgerungen von Publikationen der 'Evidence-based Medicine' (d. h. Nichterkennen
vom sog. Fehler 2. Art)!
Trotz der grossen Anzahl Kinder, die in der Studie eingeschlossen waren, ist ein signifikanter
Unterschied nicht zu erwarten. Bei dieser derart geringen Häufigkeitsrate von 0,65‰
ist eine noch viel grössere Anzahl Fälle zu untersuchen, damit eine statistische Signifikanz
erreicht wird. Es gibt Regeln, mit welcher die notwendigen Fallzahlen vor Studienbeginn
abgeschätzt werden können. Es erstaunt immer wieder, dass diese grundlegenden Regeln
auch EBM-geschulten Personen unbekannt sind!
Dass eine Signifikanz aus dieser Studie nicht zu erwarten ist, geht allein schon aus
den Berechnungen der Autoren selbst hervor, nämlich dass das 95%-Konfidenzintervall
für das relative Risikos einer spät entdeckten Hüftdysplasie in der Gruppe 1 gross
ist, nämlich zwischen 0,03 und 1,45. Auch diese Angabe müsste bei einer Studienbeurteilung
mitbewertet und interpretiert werden!
Die sonographische Untersuchung der Hüftgelenke wurde in dieser Studie nach der Methode
von Terjesen gemacht. Diese beurteilt lediglich die Position des Hüftkopfes in Bezug
auf das Pfannendach (Lateralisation/Dezentrierung). Die Form des knöchernen Pfannendaches
- der eigentliche Schlüssel für eine prognostische Aussage (normal/zur Dysplasie oder
Luxation gefährdet) - wird nicht quantitativ erfasst. Spätfälle, d. h. sich nachträglich
entwickelnde Dysplasien und Luxationen, können mit dieser Methode nur unzuverlässig
vermieden werden.
Die korrekte Aussage auf Grund der Studie müsste somit lauten:
Es konnten mit dem generellen Hüftsonographie-Screening nach der Methode von Terjesen
nicht alle Spätfälle eliminiert werden. Der Unterschied zu einem selektiven, sonographischen
Screening ist zu gering, um eine statistisch gesicherte Aussage zu machen.
In der Schweiz ist die Hüftsonographie (ausdrücklich) nach der Methode von Graf eine
Pflichtleistung der Krankenkassen. Durch die quantitative Beurteilung des Pfannendaches
berücksichtigt sie genau das pathophysiologische Krankheitsgeschehen, und ist in prognostischer
Hinsicht sehr zuverlässig. Es scheint, dass Dr. Meuwly bei seiner Beurteilung vorwiegend
die Methodologie dieser Studie (Randomisierung) bewertet und auf den Inhalt (Qualität
der primären Daten) nicht achtet. Dies mag ein zusätzlicher Hinweis sein, dass zur
wirklichen Kenntnis der Graf'schen Methode eine spezielle Ausbildung notwenig ist,
wie es die behördliche Verordnung seit 1.1.1997 vorschreibt!
C. Dr. Meuwly zitiert eine Publikation der Canadian Task Force on Preventive Health
Care.
(Sie war etwas schwierig aufzufinden, da in Medline diese Zeitschrift in englisch
mit CMAJ abgekürzt wird, während Dr. Meuwly die französische Schreibweise JAMC benutzt.
In Medline gilt mit dieser Abkürzung eine Zeitschrift in Pakistan!).
Patel H.: 'Preventive heath care, 2001 update: Screening and management of developmental
dysplasia of the hip in newborns'. CMAJ 2001; 164: 1669-1677
C 1. Diese Publikation basiert ausschliesslich auf einer Durchsicht von Publikationen
in englischer Sprache. Von Prof. Graf wird einzig eine Arbeit von 1984 zitiert, als
hätte er seither nie mehr über seine Methode geschrieben! Die berücksichtigten Publikationen
werden ausschliesslich nach EBM-Kriterien bewertet (Grad I-III der Evidenz) und daraus
Empfehlungen formuliert (Grad A- E). In Bezug auf die Hüftsonographie basiert diese
Zusammenstellung v. a. auf einer Studie ebenfalls aus Norwegen:
Rosendahl K, Markestad T, et al. 'Ultrasound Screening for Developmental Dyspalsia
of the Hip in the Neonate: The Effect on Treatment Rate and Prevalence of Late Cases'.
Pediatrics 1994; 94: 47-52.
Diese Studie ist mir ebenfalls bestens bekannt. Es lohnt sich auch, sie näher anzusehen:
Studienanlage: Von 1988-1990 wurde alle Neugeborenen (11925) im Universitäts-Spital
Bergen nach einem Zufallsprinzip (stationärer Aufenthalt in einer der drei Pflegeabteilungen)
in 3 Gruppen aufgeteilt:
Gruppe 1: generelles Screening: 3613 Neugeborene, wovon 456 (= 12,6%) mit Risiken
(Familienanamnese, Geburtslage, incl. auffällige Klinik). Alle wurden sonographisch
untersucht (Methode nach Graf für die Morphologie, Methode nach Terjesen für die Instabilität).
Gruppe 2: selektives Screening: 4388 Neugeborene, wovon 518 (= 11,8%) mit Risiken.
Nur diese Kindern mit Risiken (inkl. auffälliger Klinik) wurden sonographisch untersucht.
Gruppe 3: kein Ultraschall, ausschliesslich klinische Untersuchung: 3924 Neugeborene,
ohne Unterteilung in anamnestische Risiken. Hievon zeigten klinisch 71 Kinder eine
instabile Hüfte. Auch diese wurden nicht sonographisch weiter abgeklärt.
Resultate: (Siehe Tab. [1])
Schlussfolgerungen: Beim Screening werden mehr Fälle behandelt oder kontrolliert als
nur mit Teilscreening oder ohne sonogr. Screening. Die Unterschiede (fett gedruckte
Zahlen) sind signifikant.
Spätfälle (Subluxationen/Luxationen) treten trotz fehlender Sonographie oder beim
selektiven Screening nicht vermehrt auf, d. h. kein signifikanter Unterschied (fett
gedruckte Zahlen). Somit lohnt sich ein generelles Screening nicht!
C 2. Kommentar zur Studie Rosendahl: Anzahl Kontrollen: Ausschliesslich sonographisch
untersuchte Neugeborene werden später sonographisch kontrolliert. Dies geht aus der
Methode von Graf hervor. Sie vermag jene Fälle zu unterscheiden, deren Verlauf ungewiss
ist, d. h., sie können ein normales spontanes Weiterwachstum zeigen, sich jedoch auch
verschlechtern bis zur Luxation. Deswegen sind Kontrollen unabdingbar. Dass nun in
der Gruppe 1 (generelles Screening aller Neugeborenen) am meisten Kontrollen anfallen,
ist somit zwangsläufig eine Folge der Studienanlage.
Das Resultat überrascht in keiner Weise!
Anzahl Behandlungen: Die Indikation wurde entweder auf Grund des klinischen oder des
sonographischen Befundes gestellt. Dass in jenen Gruppen (2 und 3), wo viel weniger
oder gar keine Neugeborenen sonographisch untersucht worden sind, auch weniger Kinder
behandelt wurden, ist somit auch eine Folge der Studienanlage und überrascht ebenfalls
nicht. Interessant ist der Vergleich innerhalb der Gruppe 1: Die Anzahl der behandelten
Kinder in der Untergruppe mit Risiken (inkl. klinischer Auffälligkeit) und in jener
ohne Risiken (und ohne Symptome) ist genau gleich gross. Dies bestätigt die längst
bekannte Tatsache, dass etwa die Hälfte der behandlungsbedürftigen Kinder in der Gruppe
ohne Risiken und ohne klinischer Auffälligkeit zu finden ist. Deswegen ist ja das
generelle Screening sinnvoll!
Anzahl Spätfälle: Alle Kinder, die älter als ein Monat waren, als sie zur Behandlung
in die Klinik eingewiesen wurden, werden zu den Spätfällen gerechnet. Es wird in der
Studie angenommen, dass anderweitig keine Kinder mit Hüftdysplasien oder Luxationen
therapiert werden. Es wird nicht angegeben, wie das ursprüngliche Sonogramm ausgesehen
hat, sofern eine Ultraschalluntersuchung bei Geburt gemacht worden war. Interessieren
würde v. a. jener einzige Fall (von 3'613) aus der Gruppe 1, wo nachträglich eine
Subluxation diagnostiziert wurde. Wie hatte das Bild bei Geburt ausgesehen? War das
Kind ev. durch die Maschen geschlüpft und bei Geburt nicht sonographiert worden?
Die Anzahl der Spätfälle ist erstaunlich klein, am höchsten mit 2,6 Fälle auf 1000
Neugeborene in der Gruppe 3 (nur klinische Untersuchung). Die Unterschiede zu den
anderen Gruppen gelten als nicht signifikant, auch wenn in Gruppe 1 nur halb so viele
Fälle zu verzeichnen waren, und 5-mal weniger mit verspäteter Diagnose einer Dezentrierung
des Hüftkopfes. Die gleiche Kritik wie bei der Publikation von Holen et al. (s. unter
B.2.) muss auch hier angebracht werden. Die fehlende Signifikanz bedeutet keineswegs,
dass sicher kein Unterschied besteht. Bei einer derart geringen Häufigkeit von 0,13%
(dezentrierte Spätfälle) sind mehr als 4000 Neugeborene zu untersuchen, damit eine
Signifikanz überhaupt erwartet werden kann.
C 3. Kommentar zur Studie der Canadian Task Force (Patel H.): In Bezug auf die Hüftsonographie
bezieht sie sich hauptsächlich auf die obige Studie von Rosendahl et al. Daraus wird
die Empfehlung formuliert, dass ein generelles und auch ein selektives sonographisches
Screening in den routinemässigen Gesundheitskontrollen der Kinder mit gutem Evidenzgrad
auszuschliessen sei. Immerhin wird in der Studie selbst festgehalten, dass etwa 60%
der Kinder mit Hüftdysplasie keine erkennbaren Risiken aufweisen. Wo ist da die Logik
zum Ausschliessen eines songr. Screenings aus der Säuglingsbetreuung? In der Schweiz
sind Fälle mit bedauernswertem Verlauf (mehrfache stationäre, zunächst konservative
Behandlung und später Operationen) infolge fehlender sonogr. Untersuchung bei Geburt
bestens bekannt!
Wenn man bedenkt, wie diese Aussagen zustande gekommen sind, so erstaunen auch die
weiteren Empfehlungen in dieser Publikation nicht, nämlich:
-
mit derselben Evidenz sei auch eine routinemassige Röntgenuntersuchung auszuschliessen!
-
mit guter Evidenz sei ein Zuwarten bei klinisch festgestellter Hüftdysplasie zu empfehlen,
jedoch gebe es nur eine ungenügende Evidenz über die Zeitspanne, wie lange man zuwarten
soll!
Man wird beim Lesen dieser Empfehlungen den Eindruck nicht los, als beruhen sie auf
den Erkenntnissen von vor 30-50 Jahren! Soll daraus jetzt eine gültige Aussage für
die Schweiz abgeleitet werden.
D. Nutzen der Hüftsonographie nach Graf: Der Spontanverlauf war schon Hippokrates bekannt: lebenslange Behinderung, Beschwerden
der frühzeitigen Arthrose, Ausgrenzung schon in der Kindheit.
Aus dem 19. Jahrh. ist die Geschichte bekannt, dass ein Bauer für seine Tochter mit
doppelseitiger Hüftluxation einem Heiratsvermittler viel Geld bezahlt hatte, damit
sie in die nahe gelegene Grosstadt kommt. Mit ihrer Behinderung war sie auf einem
Bauernhof nicht begehrt!
Behandlungen hat auch Hippokrates mit Geräten zur gewaltsamen Einrenkung versucht. Diese Art der
Therapie, welche regelrechten Folterungen während Monaten gleichkam, wurde bis in
die Neuzeit immer wieder angewandt, mit schlechtem Erfolg. Auch heute noch ist die
humane Overhead-Extension ein Schrecken der Eltern.
Im 19. Jahrh. kamen die ersten Operationsmethoden, die immer wieder abgewandelt und
neue ausprobiert wurden, offensichtlich nach der Suche nach Verbesserungen der unbefriedigenden
Resultate.
Dass der Erfolg wesentlich vom Alter bei Behandlungsbeginn abhängt, wurde sehr früh
erkannt. Erstmals im 16. Jahrh. kam die Empfehlung zur Behandlung schon der Neugeborenen,
eine Forderung die in groben Zeitintervallen in vielen europäischen Ländern immer
wieder auftauchte. Jedoch erst mit der Hüftsonographie nach der Methode von Graf (Erstpublikation
1980) ist die zuverlässige Diagnose frühzeitig (d. h. ab Geburt) Tatsache geworden.
Es lag nun auf der Hand, diese Möglichkeit der frühzeitigen Diagnose und folglich
auch des frühzeitigen Behandlungsbeginns voll auszunutzen. Die dabei erzielbaren Resultate
sind erstaunlich:
Bei einem Behandlungsbeginn in der 1. Lebenswoche wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit
bis zum Alter von 3-4 Monaten ein funktionell und anatomisch normales Hüftgelenk erreicht.
Die Behandlung kann (mit sehr seltenen Ausnahmen) ambulant durchgeführt werden.
Beide Aussagen gelten unabhängig vom Schweregrad des Ausgangsbefundes.
Diese sehr erfreulichen Therapieresultate stellen sich überall ein, wenn folgende
Voraussetzungen strikt eingehalten werden:
1. Die Diagnose muss frühzeitig, d. h. in der 1. Lebenswoche, erfolgen.
2. Die Diagnose ist mit der bildgebenden Methode nach Graf zu stellen.
Klinisch entgehen bei Geburt etwa 30% der luxierten Hüftgelenke und ca. 50% der Pfannendachpathologien,
die später zu einer Luxation oder Hüftdysplasie führen können.
Andere sonographische Methoden bewerten vorwiegend die Stabilität und die Zentrierung
des Hüftkopfes. Die anatomische Form des Pfannendaches wird nicht quantitativ erfasst,
sodass die Prognose über die weitere Hüftentwicklung unzuverlässig ist.
3. Zur sicheren Handhabung der sonographischen Methode von Graf ist eine spezielle
Ausbildung notwendig, da sie ein kohärentes System von der Bildaufnahme, Schnittebene,
Bildbeurteilung, Diagnose bis zur therapeutischen Konsequenz darstellt, wobei alle
relevanten Punkte standardisiert sind.
4. Die Therapie ist (sofern indiziert) ohne Verzug einzuleiten und richtet sich nach
dem pathophysiologischen Stadium, in welchem sich das Hüftgelenk befindet. Dieses
ist aus der Sonographie nach Graf erkennbar.
Die Prinzipien einer adäquaten Behandlung sind einfach zu formulieren:
-
Reposition dezentrierter Hüften
-
Retention instabiler Hüften
-
Maturation des nicht normalem, knöchernen Pfannendach
Wenn eine einzige dieser Voraussetzungen nicht erfüllt wird, so stellen sich unweigerlich
die früheren Probleme wieder ein (stationäre Behandlungen, operative Repositionen,
Reluxationen) mit den bekannten, unbefriedigenden Resultaten (definitive Deformationen
des Pfannendaches oder des Hüftkopfes, Frühcoxarthrose etc.).
Da etwa die Hälfte der Neugeborenen, die einer Behandlung bedürfen, nicht zur Risikogruppe
gehören und klinisch (zunächst) unauffällig sind, stellen sich auch dann langwierige
Behandlungen und unerfreuliche Resultate ein, wenn die sonographische Untersuchung
auf Risikofälle beschränkt oder verspätet (nach der 1. oder 2. Lebenswoche) durchgeführt
wird.
Es ist mir unverständlich, warum es der 'Evidence-based Medicine' bisher nicht möglich
war, diese eklatanten Unterschiede in ihr Wissensgebäude einzubauen. Exemplarisch
dafür ist die 'systematic review', welche im Jahr 2002 im Auftrag des BSV vom Centre
of Reviews and Dissemination der Universität York (GB) erstellt wurde. Diese Literaturrecherche
bewertet (ohne Beizug von Experten der Orthopädie und der Sonographie!) die Publikationen
ausschliesslich nach der angewandten Methodologie und anerkennt nur randomisierte,
kontrollierte prospektive klinische Studien als beweiskräftig. Sie kam daher zum Schluss,
dass solche Studien fehlen und daher der Nutzen eines Screenings nicht erbracht sei.
Der Inhalt der geprüften Studien (Qualität der primären Daten) sowie grundlegende
Arbeiten zum Verständnis des Krankheitsgeschehens wurden überhaupt nicht beachtet.
Dieselben Mängel finden sich auch in einer zusätzlichen Studie des Horten-Zentrums
der Universität Zürich, ebenfalls im Auftrag des BSV. Ich hatte damals das Cochrane-Zentrum
der Universität Freiburg im Br. (zuständig für das deutschsprachige Europa und die
Oststaaten) sowie das Institut für klinische Epidemiologie der Universität Basel und
zahlreiche andere Institute, die sich mit EBM befassen, angeschrieben. Entweder habe
ich gar keine Antwort erhalten oder die lapidare Absage, dass keine Kapazitäten für
das Studium dieser Frage zur Verfügung stünden.
Auf Grund der völlig wirklichkeitsfremden Schlussfolgerungen der 'systematic review'
des CRD in York hatten die Behörden eine entsprechende Studie imperativ gefordert,
deren Planung von Dr. Beat Dubs, Zürich, an die Hand genommen wurde und ihm viel Zeit
und Geld gekostet hatte (Ausarbeiten der Studienpapiere, Erstellen der Datenbank mit
Online-Eingabe der Daten etc.). Schliesslich hatte die Nationale Ethikkommission (NEK)
offiziell festgestellt, dass solche randomisierte Studien ethisch nicht zulässig sind
(zumal eine Gruppe zwangsläufig erst verspätet zur Behandlung kommt) und sachlich
auch gar nicht notwendig ist (augenfälliger Unterschied von früher zu jetzt).
Wenn die EBM keine den klinischen Gegebenheiten adäquate Prüfungsmethode kennt oder
sich völlig vom Problem verabschiedet, so ist es bemühend, wenn nicht unerträglich,
wenn immer wieder erneut und in Unkenntnis der Materie diese längst entkräfteten Behauptungen
kolportiert werden!
E. Der Nutzen eines sonographischen Screenings kann auch in finanzieller Hinsicht untersucht
werden. Mehrere ausländische Publikationen gehen dieser Frage nach. Die Resultate
sind jedoch kaum auf die Schweiz übertragbar, da wir ein anderes Kostenniveau haben.
Aus der 20-jährigen Erfahrung meiner Praxis geht Folgendes hervor, berechnet mit hiesigen
Tarifen:
-
die Notwendigkeit der Behandlung einer luxierten Hüfte (Typ III nach Graf) ist weltweit
unbestritten.
-
ein Neugeborenes, bei dem ich in der 1. Lebenswoche eine Hüfte vom Typ IIIa entdeckt
habe, konnte immer ambulant behandelt werden (Ausnahme: teratologische Luxation oder
Typ IV nach Graf, beide extrem selten!).
-
eine Luxation vom Typ IIIa, die später entdeckt wird, kann nicht mehr ambulant behandelt
werden. Die Chance zur ambulanten Behandlung sinkt erheblich mit jeder Lebenswoche.
-
die Differenz der Kosten zwischen ambulanter und stationärer Behandlung sind erheblich
(IV-Tarif).
-
mit dieser Differenz (Einsparung) können mindestens so viele Neugeborene sonographisch
untersucht werden, als zum Auffinden eines Falles mit Typ IIIa notwendig ist.
Diese Berechnung betrifft lediglich einen wichtigen Teilaspekt der Kosten. Bei Betrachtung
sämtlicher Aspekte und unter Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten zeigt sich,
dass ein generelles Screening nicht nur den optimalen Nutzen für die Neugeborenen
bringt, sondern auch kostengünstig ist.
Umso weniger ist mir verständlich, wenn immer wieder behauptet wird, der Beweis der
Nutzlosigkeit eines sonographischen Screenings sei erbracht!
F. Dr. Meuwly bemängelt, dass die Chance einer Beweisführung für den Nutzen eines Screenings
vertan worden sei, obschon auch die SGUM hiefür einen finanziellen Beitrag geleistet
habe. Dieser Beitrag wurde vollumfänglich für eine Studie verwendet, welche dem Institut
für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Zürich (Direktor Prof. Gutzwiller)
in Auftrag gegeben wurde. Die daraus entstandene Diplomarbeit zum Master of Public
Health wurde von den Behörden als nicht beweisend abgetan!
Das BSV hatte jegliche finanzielle Unterstützung der behördlich geforderten Studie
verweigert. Für die Evaluation des Schwangerschaftsultraschalls hatte sich das BSV
mit namhaften Beträgen beteiligt. Für Studien zur Prüfung von alternativmedizinischen
Methoden ("Programm Evaluation Komplementärmedizin" PEK) sind Millionenbeträge u.
a. auch vom Bund ausgegeben worden. Die cong. Hüftdysplasie und Luxation gilt als
die häufigste angeborene Krankheit des Bewegungsapparates. Zur Evaluation deren Früherfassung
sind keine öffentlichen Ressourcen vorhanden!
Von Seiten der Romandie wird immer wieder behauptet, dass in Bezug auf die cong. Hüftdysplasie
und Hüftluxation die Kinder in ihrem Landesteil, wo ein sonographisches Screening
abgelehnt wird, nicht schlechter behandelt werden als in deutschschweizer Gegenden,
wo ein generelles Screening durchgeführt wird! Die Erfolge bei frühzeitiger Diagnose
und ebenso frühzeitigem Behandlungsbeginn sind bekannt und publiziert. Es sind mir
aber keine entsprechenden Publikationen bekannt (auch nicht aus der Romandie), welche
zeigen, dass auch ohne frühzeitige Sonographie der Neugeborenen dieselben optimalen
Ergebnisse und ebenso kostengünstig (ambulant) erreicht werden!
Wenn zur Beurteilung der Qualität der ärztlichen Versorgung der Neugeborenen dieselben
Kriterien angewandt werden wie in den von Dr. Meuwly zitierten Publikationen (Holen
und Rosendahl), nämlich dass als Spätfall jene Kinder gelten, die älter als einen
Monat sind, wenn sie zur Behandlung kommen, wie viele Fälle (pro Tausend Neugeborene)
gibt es dann in der Romandie?
Wenn ich für die Erfahrungen in meiner eigenen Praxis ebenfalls die Kriterien von
Holen und Rosendahl anwenden darf, indem ich als Spätfall jene Kinder zähle, von denen
mir trotz normaler Sonographie bei Geburt (Typ I nach Graf) eine nachträgliche, verspätete
Behandlung bekannt geworden ist, so kann ich auf insgesamt 6000-7000 Fälle keinen
einzigen nennen!
G. Die jetzige gesetzliche Regelung stellt es jedem Arzt und jeder Ärztin frei, ob er/sie
zur Betreuung von Neugeborenen und Säuglingen die Hüftsonographie nach Graf als notwendig
erachtet (siehe auch Pressemitteilung des BAG vom 16.6.2004). Mündlich hat mir der
Direktor des BAG, Prof. Zeltner, persönlich zugesichert, dass gegenüber der Krankenkasse
(oder dem Vertrauensarzt) keine Begründung abgegeben werden muss.
Diese unbefristete Regelung der Behörden, welche jedem seine Freiheit und seine Überzeugung
lässt, soll nicht angetastet werden!
Zum Schluss möchte ich die SGUM anfragen, ob sie gewillt ist, für eine Empfehlung
Hand zu bieten, wie diese heutigen Möglichkeiten optimal genutzt werden können.
Ich hoffe, mit meinen Ausführungen zur Klärung der Situation beitragen zu können
und grüsse Dich freundlich
PS: Diese meine Ansichten ergeben sich nicht nur aus dem regelmässigen Studium der
Literatur, sondern auch auf Grund meiner eigenen über 20-jährigen Erfahrungen in Diagnose
und Therapie der cong. Hüftdysplasie und Hüftluxation. Sie decken sich genau mit den
Erfahrungen im In- und Ausland, soweit dasselbe Prozedere angewandt wird (frühe Diagnose,
frühe Behandlung). Von vielen Zentren werden diese Erfahrungen gar nicht publiziert
(da nicht mehr neu), und man erfährt sie nur aus Vorträgen an Kongressen oder im persönlichen
Gespräch. Auf jeden Fall kann ich mich für obige Aussagen verbürgen.