Pro
Eszter Maylath, Andreas Krokotsch
Die Finanzierung der Krankenhausfälle in somatischen Abteilungen erfolgt in Deutschland
seit 2004 flächendeckend mit diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRGs). Die Behandlungsfälle
werden aufgrund von Haupt- und Nebendiagnosen, des Alters und so genannter Prozeduren,
die neben diagnostischen und operativen Verfahren auch komplexe Behandlungsprogramme
beschreiben, DRGs zugeordnet. Statt einer verweildauerbezogenen Vergütung resultiert
ein leistungsbezogenes Entgelt. Mit einer Fallpauschale werden Fälle vergütet, die
bezüglich der Kosten möglichst homogene Gruppen darstellen. Die Finanzierung des Einzelfalles
ergibt sich, unabhängig von der tatsächlichen Verweildauer, aus der Bewertung der
Fallgruppe mit einem so genannten Relativgewicht. Erst bei Überschreitung einer oberen
Verweildauergrenze erfolgt eine anteilmäßige tagesgleiche Finanzierung. Psychiatrische
und psychosomatische Abteilungen wurden von der DRG-Einführung ausgenommen. Somit
entstand eine getrennte Finanzierung für psychisch Kranke in somatischen und psychiatrischen
bzw. psychosomatischen Abteilungen.
Die Einführung eines Fallpauschalensystems ist eine gesundheitsökonomische und keine
medizinische Entscheidung. Ein Fallpauschalensystem führt zu mehr Leistungstransparenz,
Wettbewerb und bietet den Krankenhäusern wirtschaftliche Anreize zu Kosteneinsparungen
[1]. Obwohl die DRGs in somatischen Fächern mittlerweile etabliert sind, wurden sie
Anfang der 90er-Jahre für Deutschland noch als grundsätzlich unrealisierbar und nicht
empfehlenswert angesehen [1]. Eine ähnliche Entwicklung könnte sich in Bezug auf die Finanzierung der Psychiatrie
und der Psychosomatik abzeichnen. Auch in diesen Fachgebieten ist mittelfristig mit
alternativen politischen Entscheidungen hin zu einer leistungsorientierten Vergütung
zu rechnen. Für das bereits etablierte DRG-System besteht andernfalls das Risiko,
dass aufgrund von Verlegungspraktiken mit den pflegesatzfinanzierten Bereichen die
angestrebten Einsparpotenziale zunichte gemacht werden. Die Psychiatrie und die Psychosomatik
sind in Gefahr als „Verschiebebahnhöfe” missbraucht zu werden. Hinzu kommt, dass die
vier Stichtagserhebungen der Psych-PV pro Jahr als Grundlage für die Pflegesatzbildung
in der Psychiatrie wegen ihrer fehlenden statistischen Relevanz [2] gegenüber den statistisch berechneten Fallpauschalen in der Somatik mittelfristig
kaum wettbewerbsfähig sind, sodass die Psychiater ihren krankenhausinternen Budgetanteil
gegenüber den somatischen Fächern zukünftig nur schwer werden verteidigen können.
Die Sonderstellung der Psychiatrie und Psychosomatik bei der Vergütung kann außerdem
zu einer „Aschenputtel”-Rolle [3] innerhalb der Medizin führen und die über Jahrzehnte erkämpfte Zugehörigkeit zum
Kernbereich der Medizin gefährden.
Das häufigste Argument gegen psychiatrische Fallpauschalen ist, dass bei psychiatrischen
Krankenhausfällen die Diagnose und das Alter, im Gegensatz zu Fällen in somatischen,
insbesondere operativen Fächern, nur einen geringen Anteil der Verweildauervarianz
und somit des Ressourcenverbrauches, erklären [2]
[4]
[5]
[6]
[7].
Zur Lösung dieser Problematik haben verschiedene Autoren erweiterte Modelle für psychiatrische
Fallpauschalen entwickelt, bei denen die erklärte Varianz aufgrund zusätzlicher krankheitsbezogener
Faktoren wie dem bisherigen Krankheitsverlauf, dem Schweregrad der Erkrankung und
somatischer Diagnosen bzw. durch die Einbeziehung soziodemografischer und den Therapieverlauf
beschreibender Faktoren wesentlich erhöht werden konnte [2]. Weitere Variablen, die zu besserer Kostenabbildung durch psychiatrische Fallpauschalen
führen, sind neben diesen patientenbezogenen Variablen solche, die den Krankenhaustyp
und das Therapieprogramm einschließlich der „Therapiedosis” beschreiben [7]. Hinsichtlich der Erweiterung der patientenbezogenen Variablen sollte allerdings
darauf geachtet werden, dass diese kontrollierbar bleiben. Daher sollten z. B. für
die Beschreibung des Schweregrades der Symptomatik evaluierte Skalen verwendet werden.
In Bezug auf die krankenhausbezogenen Unterschiede erscheint es wichtig, dass die
Einführung von psychiatrischen Fallpauschalen mit Qualitätssicherungsmaßnahmen im
Sinne von Minimalstandards verbunden ist. Dadurch können Streuungen, die durch regionale,
krankenhausbezogene Unterschiede bestimmt sind, erheblich reduziert werden. Hinsichtlich
der therapiebezogenen Variablen könnten psychiatrische Prozeduren als Komplexleistungen
nach dem Muster der geriatrischen (OPS 8-550) oder der neurologischen Frührehabilitation
(OPS 8-552) beschrieben werden. Durch eine zeitliche Staffelung der Prozeduren (z.
B. 1 - 15, 15 - 30, 30 - 60 Tage usw.) könnten dann auch chronische Verläufe mit längeren
Verweildauern abgebildet werden. Als erstes Beispiel für die Beschreibung einer psychiatrischen
Prozedur kann der qualifizierte Entzug (OPS 8-985) genannt werden, der ab 2006 in
somatischen Abteilungen abrechenbar wird. Die Bildung von Prozeduren in einem psychiatrischen
Fallpauschalensystem könnte auch die angestrebte Standardisierung der psychiatrischen
Therapieverfahren erheblich beschleunigen und wäre somit ein Meilenstein auf dem Weg
zu einer zeitgemäßen Krankenhauspsychiatrie in Deutschland. Die Psych-PV-Kategorien
erscheinen als geeignete Grundlage für die Bildung von diagnosebezogenen psychiatrischen
Prozeduren, auch wenn sie bis jetzt empirisch nicht überprüft wurden [2].
Neben der Erweiterung der einbezogenen Variablen einschließlich der Bildung von Therapieprozeduren
ergibt sich noch ein anderer Weg zur besseren Abbildung der verschiedenen Behandlungsverläufe
durch psychiatrische Fallpauschalen, den das ungarische DRG-System eingeschlagen hat
[8]. Unter der Annahme, dass die erhebliche Verweildauer- und Kostenstreuung psychiatrischer
Krankenhausfälle weniger in der akuten Behandlungsphase, sondern viel mehr in der
Behandlungsphase der Stabilisierung mit zunehmenden rehabilitativen, psycho- und soziotherapeutischen
Behandlungselementen charakteristisch ist, kombiniert man in Ungarn die diagnosebezogenen
Fallpauschalen in der Akutphase mit tagesgleichen Pflegesätzen bei chronischen Behandlungsverläufen.
Letztere können erst nach Überschreitung einer bestimmten Verweildauergrenze abgerechnet
werden und sind unterschiedlich je nach Therapieschwerpunkt (z. B. Intensivrehabilitation,
Rehabilitation, Langzeitbehandlung etc.), wobei in den verschiedenen Therapieschwerpunkten
genau definierte personelle und therapeutische Standards eingehalten werden müssen.
Wir hoffen, dass unsere Ausführungen sowohl zum Thema Notwendigkeit als auch zum Thema
Realisierbarkeit psychiatrischer DRGs in Deutschland beitragen können. Wir haben versucht,
verschiedene Lösungsmöglichkeiten einschließlich der Implementierung von Qualitätsstandards
aufzuzeichnen. Hierzu bildet das Psych-PV-System einen hervorragenden Ausgangspunkt,
da durch die personellen Aufstockungen der letzten Jahre die Unterfinanzierung der
psychiatrischen Abteilungen bereits behoben wurde.
Priv.-Doz. Dr. Eszter Maylath
MDK Hamburg
Hammerbrookstraße 5, 20097 Hamburg
E-mail: Dr.Eszter.Maylath@mdkhh.de
Kontra
Heinrich Kunze
Die Ablehnung diagnosebezogener Fallpauschalen als Finanzierungsgrundlage bedeutet nicht, dass die Psychiatrie-Personalverordnung
(Psych-PV) auf Dauer unverändert bleiben soll. Eine Weiterentwicklung wird notwendig
wegen des Systemwechsels in der Krankenhausfinanzierung, der Leistungsverdichtung
in psychiatrischen Kliniken seit 1991 und den Fortschritten in der Organisation von
Krankenhausbehandlung. Die Krankenhäuser sind seit Jahren in einem Prozess weg von
paternalistischer Planwirtschaft hin zu neuen Finanzierungs- und Steuerungskonzepten,
die mehr Eigenverantwortung aller Beteiligten voraussetzen. Aber es gibt wichtige
Besonderheiten bei Menschen mit psychischen Erkrankungen zu beachten [9]:
-
Je schwerer die psychische Krankheit, desto geringer ist oft der Wunsch des Kranken
nach psychiatrischer Behandlung: Deshalb hat die Gesellschaft Verantwortung für diese Menschen.
-
Besondere Belastung der Angehörigen psychisch Kranker: Pflegenden Angehörigen von Körperbehinderten bleibt auch bei physischer Überlastung
das Gefühl der persönlichen Beziehung erhalten. Angehörige psychisch Kranker leiden
unter der Zerstörung dieser Beziehung, die zu tief greifenden Schäden im sozialen
Netz der Betroffenen führt.
-
Die Stigmatisierung von psychisch kranken Menschen, die erschwert, dass öffentliche
Repräsentanten, Leistungsträger und Politiker sich für diesen Personenkreis einsetzen.
Bei aller Vergleichbarkeit von psychischen und körperlichen Erkrankungen sind diese
drei Besonderheiten zu berücksichtigen, wenn das Gesundheitswesen bei Patienten mehr
Eigenverantwortung, soziale Kompetenz und Durchsetzungsfähigkeit gegenüber Leistungserbringern
voraussetzt. Der Bundestag hat die Gesetzesnorm beschlossen: „Bei der Krankenbehandlung ist den besonderen Bedürfnissen psychisch Kranker Rechnung
zu tragen …” (§ 27 Abs. 1 Satz 3 SGB V, § 10 SGB IX).
Die Psych-PV war 1991 konzeptionell der übrigen Krankenhausmedizin weit voraus [10]. Dass die nach Psych-PV sich ergebenden Personalstellen in tagesgleiche Pflegesätze
umgerechnet werden, resultiert (ebenso wie die zunehmende Unterfinanzierung) aus der
Bundespflegesatzverordnung und nicht aus der Psych-PV. Die Psych-PV definiert für
Gruppen von Patienten mit vergleichbarem Hilfebedarf typische Behandlungsziele, dafür
notwendige Behandlungsleistungen sowie Qualitätsanforderungen und leitet daraus den
Bedarf an Personalstellen ab. Die wichtigsten Qualitätsanforderungen für die Kliniken
[11]
[12] sind dabei die regionale Versorgungsverpflichtung und die Festlegung von Therapiezielen
nicht nur im Sinne einer Symptombesserung, sondern auch als Befähigung zu möglichst
eigenständigem Leben außerhalb von Institutionen, zur Inanspruchnahme ambulanter Behandlung,
Rehabilitation und anderer Hilfen. Von einem vergleichbaren Gesamtkonzept sind die
somatischen Fächer weit entfernt.
Die Umsetzung der Psych-PV in der Zeit von 1991 - 1995 wurde von der Aktion Psychisch
Kranke mit den Kliniken, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und den Kassen untersucht
[13]. Die Psych-PV hatte demnach die Personalausstattung grundlegend verbessert, Qualitätsanforderungen
und Prüfprozeduren verankert und einen maßgeblichen Beitrag geleistet zu Entstigmatisierung,
Verweildauerrückgang, Bettenabbau, Enthospitalisierung, Strukturklarheit in der stationären
Versorgung (Trennung der Behandlungsfälle von Nichtbehandlungsfällen) sowie zur Konvergenz
von psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachkrankenhäusern und Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern.
Diese Entwicklung hat sich bis heute fortgesetzt. Die Krankenhauspsychiatrie hat Hausaufgaben
schon erledigt, mit denen die Somatik sich jetzt bei der DRG-Einführung befasst.
Die Psych-PV definiert Behandlungsleistungen funktional. Deshalb kann psychiatrische
Krankenhausbehandlung personenzentriert organisiert werden: weniger stationär, mehr
teilstationär und ambulant, flexibel und intermittierend, als Case Management in der
Klinik und zur Vernetzung mit den Behandlern vor und nach der Klinikphase. So erreicht
man Kontinuität und Zielorientierung trotz „Drehtür” sowie eine ausreichende Behandlungsdauer
bei geringeren Kosten [14].
Der Gesetzgeber hat sich gut beraten lassen und 2000 die Krankenhauspsychiatrie aus
der DRG-Finanzierung herausgenommen ([10], Anhang [9]
[10]
[11]). Psychiatrische Diagnosen erklären einen viel zu geringen Anteil der Varianz des
Ressourcenverbrauchs. In den USA führte die Veterans Administration 1984 in psychiatrischen
Kliniken die DRGs ein und gab diese 1988 wieder auf wegen riesigen Fallzahlsteigerungen
und unverantwortlichen Qualitätsmängeln [15].
Die DRGs der somatischen Krankenhausmedizin in Deutschland sind nur ein Finanzierungssystem.
In anderen Ländern wurden die DRGs im Dreiklang von Kosten, Leistungen und Qualität
entwickelt. Wer vertritt die Interessen der schwer psychisch Kranken, wenn auch in
der Krankenhauspsychiatrie nur ein Finanzierungssystem „regieren” würde, dessen Handlungsanreiz
der Gewinn durch Vermeidung von Leistungen ist, die die Patienten - krankheitsbedingt
- nicht selber wollen? Deshalb wurde anfangs auf die Besonderheiten bei Menschen mit
psychischen Erkrankungen hingewiesen.
Die Einbeziehung der Krankenhaus-Psychiatrie und -Psychotherapie in das allgemeine
Krankenhausentgeltsystem muss gut vorbereitet werden. Sie muss nicht notwendigerweise
über einen Diagnosebezug erfolgen wie bei der Somatik, sondern die Pauschalierung
kann auch auf Leistungskomplexe mit indirektem Diagnosebezug bezogen werden: A1-G6
der Psych-PV sind solche erprobten Leistungskomplexe. Insbesondere geht es darum,
das Konzept der zielorientierten Leistungsbeschreibung zu erhalten und fortzuentwickeln
im Kontext der Qualitätsanforderungen der Psych-PV. Der Erhalt des Dreiklangs von
Leistungen, Qualität und Kosten ist von besonderer Bedeutung bei der durch Vernachlässigung
gefährdeten Zielgruppe.
Wir sollten die nächsten Jahre gut nutzen:
-
für die Erprobung von Krankenhausbehandlung als ambulante Komplexleistung in Verbindung
mit teil- oder vollstationärem therapeutischem Setting. Dann kann z. B. ambulante
Komplexbehandlung ohne Setting dem „Home Treatment” entsprechen.
-
für notwendige Weiterentwicklungen der Psych-PV, die die erhebliche Leistungsverdichtung
berücksichtigen.
-
für die Erprobung von pauschalierender Finanzierung von Behandlungen eines Patienten
pro Jahr, denn die Fallzahl lässt sich fast beliebig steigern.
-
für die Erprobung von Anreizsystemen mit definierten Steuerungszielen für Patienten,
Leistungserbringer und -träger.
-
für die Berücksichtigung der Grundidee der integrierten Versorgung.
Das neue Finanzierungssystem sollte so gestaltet werden, dass es Leistungsträger und
Leistungserbringer bei systemgemäßem Handeln nicht in Widerspruch zu ihren fachlichen
und humanitären Zielen bringt.
Prof. Dr. med. habil. Heinrich Kunze
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Merxhausen
34306 Bad Emstal/Kassel
E-mail: heinrich.kunze@zsp-kurhessen.de