Märchen sind traditionelle Bestandteile aller Kulturkreise mit hoher Bewahrungskraft
verdeckter Aussagen. Dermatologische Aspekte und Bezüge zur Haut sind in der Märchensammlung
der Gebrüder Grimm [1] kaum oder nur spärlich zu finden. In einigen kommen Geschehnisse vor, die deutliche
Bezüge haben zu Wundheilung, Wiedererweckung und der modernen Transplantationsmedizin
[2].
Eine weitere kleine Gruppe von Märchen ist gekennzeichnet durch Menschenkinder, durchwegs
Knaben, mit großflächigen, tierähnlichen Veränderungen der Haut, die in extremen Fällen
bis zur vollen Tiergestalt sich ausweiten. Solche sollen hier zur Sprache kommen.
Sie werden zunächst auszugsweise vorgestellt.
Hans mein Igel (1, Bd. 2, 228 - 235)
Ein lange kinderloses Bauernpaar wünschte sich dringend ein Kind, „und sei es ein
Igel”.
So kam es, die Frau gebar einen Sohn, oben ein Igel mit Stachelkleid, und unten ein
Mensch. „Hans mein Igel” wurde er genannt. Er zog auf einem Hahn fliegend als erfolgreicher
Schweinehirt in den Wald, zeigte zweimal einem verirrten König den Weg nach Hause
und bekam als Lohn das, was dem König zu Hause als erstes begegnete. Es war jeweils
die Königstochter. Als er die Zusage einlösen wollte, wurde er beim ersten König verjagt,
beim zweiten aber mit der Königstochter vermählt.
In der Brautnacht legte er sein „Igelkleid” neben das Lager. Dieses wurde auf sein
Geheiß hin von den Knechten verbrannt und so blieb er frei, jedoch mit schwarzer Haut.
Der Leibarzt behandelte ihn mit Salben und Balsamen, bis er ein weißer und schmucker
Jüngling war und glücklich das Königreich bekam. Von Kindern ist nicht die Rede.
Deutung: Ein spätes Einzelkind wurde mit einem Stachelkleid der beiden oberen Quadranten geboren.
Dies erinnert an einen „hystrix-artigen” Halbkörper-Nävus (Abb. [1]), der im Erwachsenenalter sich auswächst resp. abheilt. In diesem Fall durch Glück
und Ehe und unter der lokalen Bleichbehandlung des Arztes. Von Erblichkeit ist nicht
die Rede.
Das Eselein (1, Bd. 3, 53 - 58)
Ein kinderloses Königspaar bekam endlich einen Sohn, der aber nicht wie ein Menschenkind
aussah, er war ein junges Eselein. Er wurde als fröhliches Königskind aufgezogen,
fand Freude an der Musik und erlernte von einem Spielmann die Laute zu schlagen. Als
er sich im Spiegel eines Brunnens sah, erschrak er und ging auf Wanderschaft. An einem
anderen Könighof wurde er ob seines trefflichen Spiels zugelassen und zu den Knechten
gesetzt. Dem widersprach er und gelangte an die Königstafel, neben die Königstochter.
Sie gefiel ihm gut und beide wurden vermählt.
In der Brautnacht warf er die Eselshaut ab, die Ehe wurde fröhlich vollzogen und am
Morgen trug er wieder die Tierhaut. Diener hinterbrachten die Geschichte dem König,
der in der folgenden Nacht das wieder ausgezogene Eselskleid wegnahm und verbrennen
ließ. Erschrocken aufgewacht, empfing ihn der König, bat ihn zu bleiben, kleidete
ihn mit dem Königmantel und machte ihn zum Thronfolger. Von Kindern ist nicht die
Rede.
Deutung: Ein spätes Einzelkind im Königshaus wurde mit Tierhaut und in Eselsgestalt geboren.
Dennoch hatte er menschliche Fähigkeiten und erlernte das Lautenspiel. Erwachsen konnte
er nachts wiederholt die Tierhaut ablegen und erschien dann in Menschengestalt. Durch
Verbrennen der Tierhaut ist die Menschengestalt bleibend. Mit der äußeren Erscheinung
(Tierhaut) ist der ganze Organismus (Eselein) gekoppelt, obschon Lernfähigkeit und
Verhalten immer menschlich blieben. Hoher Symbolgehalt mit nur bedingtem Bezug zur
Haut.
Die Gänsehirtin am Brunnen (1, Bd. 3, 156 - 167)
Eine verstoßene Königstochter wurde von einem steinalten Mütterchen tief im Wald drei
Jahre wie eine Tochter aufgenommen, musste schwer arbeiten und wirkte alt und verbraucht.
Als die Zeit abgelaufen war, schickte sie die Tochter an den Brunnen, wo sie die Haut
über dem Gesicht wie eine Maske abzog und sich ausgiebig wusch. Als der graue Zopf
fiel, quollen die goldenen Haare wie Sonnenschein hervor, die Augen leuchteten und
sie war wunderschön. Da erschien, geführt durch einen jungen Grafen, der versteckt
am Brunnen die Verwandlung schaute, das ihr Kind suchende Königspaar. Sie erkannten
voller Freude die Tochter wieder. Als Gabe des Mütterlein wandelten sich die Freudentränen
der Königstochter in Perlen. Und sie gingen zurück aufs Schloss und die Geschichte
nahm den erfreulichen Weg.
Deutung: Harte Arbeit auf dem Land und im Wald bewirkt vorzeitige Alterung, die durch Glück
und Fügung rückgängig gemacht werden kann. Perfektes Anti-Aging-Programm!
In Anlehnung an „Hans mein Igel” und an „Das Eselein” ist das Tiroler Märchen „Vom Kalberlkönig” zu sehen.
Ein kinderloses Königspaar bekam noch einen späten Sohn, aber er war ein Kalberl.
Er ging dennoch zur Schule, ja zur Universität; er wurde gar Ritter und zog ins Land.
Die jüngste Königstochter heiratete ihn. In der Nacht zog er jeweils die Tierhaut
aus und war ein wunderschöner Jüngling. Sie wussten das Geheimnis zu hüten, bis die
Gattin, der steten Fragen überdrüssig, die Tierhaut in der Nacht verbrannte. Er wanderte
weg und die junge Königin suchte ihn bis ans Ende der Welt, wo sie ihn aus Haus und
Bann einer Hexe befreien musste. Jetzt erst lebten sie glücklich bis an ihr Ende.
Ähnlich auch das rumänische Märchen von „Mirko, dem Borstenkind”, wo ein Prinz in der Haut eines Schweinchens von Waldleuten aufgezogen wird. Wider
Erwarten löste er drei Aufgaben und gewann die Prinzessin zur Frau. Die Neugier der
Königin, welche das Borstenkleid, das Mirko nachts auszog, verbrannte, bewirkte seine
Verbannung ans Ende der Welt. Die treue Prinzessin zieht aus, sucht und findet ihn
und dem Glück steht nichts mehr im Weg.
Einige Gemeinsamkeiten fallen auf. So sind alle diese Märchenfiguren (Ausnahme: die Gänsehirtin) männliche Einzelkinder,
spät geboren von überalten Eltern und, mit Ausnahme von „Hans dem Igel”, königlichen
Geblüts. Die Märchen gehen gut aus, drücken Hoffnung aus und geben Zuversicht für
die Träger eines schwerwiegenden, einsehbaren Makels mit tierischen Attributen. Nach
einer Bewährungszeit mit nicht standesgemäßer Tätigkeit kann der Makel abgelegt werden
und die ursprünglichen Qualitäten treten unbeschädigt hervor. Dies spricht alles nicht
im Sinne einer erblichen Komponente, sondern eher für frühe somatische Mutationen.
Bei „Hans dem Igel” betrifft die somatische Mutation die beiden oberen Quadranten. Als er aus Dankbarkeit
für geleistete Hilfe der Königstochter anvermählt wurde, vermag er in der Brautnacht
das tierähnliche „Igelkleid” wegzulegen, welches zur Verhinderung der Wiederkehr gleich
verbrannt wurde. Die verbleibende Dunkelpigmentierung konnte vom Arzt durch lokale
Anwendungen gebleicht werden, sodass „Hans der Igel” nicht nur seinen Makel ablegte,
sondern auch als Schwiegersohn des Königs adäquat und glücklich weiter lebte.
Man denkt am ehesten an einen hystrix-artigen oder einen dyskeratotischen (Abb. [1]) Teilkörpernävus [3] oder einen großflächigen Tierfellnävus mit wulstiger Oberfläche und borstigem Haarbesatz
(Abb. [2]). Solche angeborene Nävi können in der Tat in der Jugend teilweise auswachsen und
abblassen. Dieses scheint hier als Ziel vorzuschweben und ebenfalls die Wunschvorstellung,
pigmentierte, ja schwarze Haut durch äußere Behandlung aufzuhellen. Ein Traum ganzer
Völker und Rassen, wie er immer wieder erinnert wird durch Personen öffentlichen Interesses,
z. B. durch Michael Jackson.
Abb. 1 Dyskeratosis Darier.
Abb. 2 Großer Tierfellnävus, fast den halben Körper bedeckend, hier die untere Hälfte.
Anders gelagert ist die Situation bei der „Gänsehirtin am Brunnen”, die in drei Jahren schwerer Arbeit in Hof und Feld, offenbar teils im Waldesdunkeln,
teils in der Sonne, eine verbrauchte Altershaut bekam mit graufader Kopfbehaarung.
Nach Ablauf der zugedachten Zeit vermochte sie am „Jungbrunnen” sowohl die vorgealterte
Haut als auch die angegrauten Haare und die drückende Erinnerung an die schwere Zeit
spurlos abzulegen. Als Königstochter wurde sie wiedererkannt, belohnt und glücklich
vermählt.
Hier ist weder eine Erblichkeit noch die Vorstellung eines Nävus zu strapazieren.
Viel eher handelt es sich um die Vergegenwärtigung des Traumes des modernen Menschen
von der idealen, effektiven und unschädlichen Anti-Aging-Behandlung.
Ganz anders muss man den Symbolgehalt der Tierhaut bei Menschenkindern im Märchen
„Das Eselein” betrachten. Die Haut steht für ein zusammengesetztes Konstrukt eines Menschen, mit menschlicher
Lernfähigkeit, besonders guter und erfolgreicher sogar, und tierhaftem Aspekt. Das
Motiv wird im Tiroler Märchen „Vom Kalberlkönig” und im rumänischen „Mirko, dem Borstenkind”
aufgenommen. Immer sind es Königskinder, Prinzen, als spät geborene Einzelkinder,
die als Eselein, Kalb oder Ferkel zur Welt kommen. Ihre Lernfähigkeit und auch ihr
Verhalten aber zeigen, dass es sich um wertvolle Menschenkinder handelt, denen ein
tierhaftes Äußeres angeboren ist. Dies wird durch die Tierhaut ausgedrückt. Es scheint
eine Prüfung der Eltern und deren Kinderwunsch zu sein, kann aber von den Eltern selber
nicht gelöst werden. Nur durch eigene Bewährung als wertvolle Menschen im Zusammenwirken
mit der liebevollen Aufnahme in die oberste Gesellschaft, die Vermählung mit einer
Prinzessin, wird gezeigt, dass die Tiergestalt durch nächtliches Weglegen der Tierhaut
reversibel ist. Entschlossenes Handeln durch Verbrennen der abgelegten Tierhaut gehört
dazu. Es braucht also die innere Größe, Sicherheit und Reife des tiergestaltigen Prinzen
und eine Prinzessin dazu, die seine inneren Werte erkennt und trotz der Tiergestalt
schätzt. Damit kann diese verworfen werden und der bisher „verschleierte Prinz” tritt
hervor und bleibt ganz Mensch. Allerdings ist in keiner Version die Rede von Kindern.
Eine gewisse Analogie zum Märchen „Der Froschkönig” ist unverkennbar.
Hier wird ein wertvolles Menschenkind in eine Tiergestalt verpackt, die als minderwertig
gilt und im Volksmund auch als Schimpfwort Verwendung findet. Die Tiergestalt kann
in der Nacht vorübergehend durch Beiseitelegen der Tierhaut gelöst und durch verbundene
Leistung von „innen und außen” endgültig abgelegt werden. Solche Bestückungen von
menschlichen Führungspersonen mit Tierhäuten zu kombinierten Tier-Menschgestalten
gibt es in vielen Religionen und Kulturen. Während bei den Kentauren die physischen
Qualitäten von Mensch und Pferd kombiniert erscheint, ist es bei den tierköpfigen
Gottheiten der Ägypter eher eine Betonung und symbolische Einverleibung von besonderen
Qualitäten. Schamanen, die Tierköpfe für kultische Handlungen zu tragen pflegen, stülpen
sich symbolisch besondere Kräfte und Qualitäten dieser Tiere gleichsam über. Besondere
Kräfte der Bären, Löwen etc. bestärken die Macht über Menschen, und Adler, Geier oder
Fische bezeugen den Zugang des Schamanen zum Meer und in die Luft, also überall hin,
auch bis zu den Göttern. Damit ist die Verbindungsfunktion des Schamanen als Vermittler
zu den Göttern aufgebaut, der Weg begehbar und die Stellung gesichert. Er braucht
dazu keine „Jakobsleiter”. Tierhäute zur Kleidung besonderer Menschen und Funktionen
aber sind bis heute weiter entwickelt, verfeinert und in den soziokulturellen Kontext
aufgenommen worden. Gekrönte Häupter und viele Leitungspersonen tragen im Ornat noch
tierische Attribute, die besonders auszeichnen und daran erinnern, dass Tierhäute
seit jeher dem Menschen besondere Qualitäten zuordnen.
Danksagung
Dank gebührt Frau Madeleine Devrient aus Basel für die Unterstützung bei der Quellensuche.