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DOI: 10.1055/s-2005-868439
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Gibt es einen zervikogenen Kopfschmerz?
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
29. April 2005 (online)

Dr. Sabine Hesselbarth
Historische Entwicklung
Die Beschäftigung mit der Halswirbelsäule als Ursache für Kopfschmerzen hat eine lange Tradition. Bereits Ende des 19. Jahrhundert beschrieb der Schweizer Arzt Otto Nägeli manuelle Behandlungen an der HWS zur Kopfschmerztherapie. Parallel dazu bearbeiteten zahlreiche Manualmediziner und Osteopathen in Europa und USA das Thema der segmentalen Gelenkdysfunktion der oberen HWS und der gestörten Gelenkafferenz in der Genese von Kopfschmerzen.
1928 beschrieb Barre Nacken und Kopfschmerzen in Verbindung mit vegetativen Symptomen. In der Mitte des 20. Jahrhundert prägte Bärtschi den Begriff der zervikalen Migräne.
Später wurden Ursachen der zervikalen Migräne auf mannigfaltige Weise zu erklären versucht:
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Myogelosen der tiefen HWS-Muskulatur
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Einfüsse des sympathischen Nervensystems, insbesondere der perivaskulären Fasern
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Neuralgien der entsprechenden segmental zuzuordneten Nerven, hier v.a. das Segment C2 mit dem N. occipitalis major
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Die ursächliche Beteiligung der HWS an der Auslösung von Kopf- und/oder Gesichtsschmerzen wird im klinischen Alltag sicher überschätzt. Legt man die strengen Diagnosekriterien der IHS oder der CHISG zugrunde, ist die Prä-valenz des "echten" zervikogenen Kopfschmerzes wesentlich geringer als die einer Migräne (wiederum Diagnosekriterien der IHS). Der zervikogene Kopfschmerz ist ein Schmerzbild, das gut unter Zuhilfe-nahme diagnostischer und therapeutischer Lokalanästhesieverfahren erkannt und behandelt werden kann. Seine Entstehung ist erklärbar durch die Neuroanatomie, insbesondere liefern neuere Studien über den trigeminozervikalen Komplex schlüssige Entstehungsmodelle. |
Eine nicht geringe begriffliche Verwirrung und mehrfach unscharfe Bezeichnungen eines Schmerzbildes mögen daraus resultiert haben und sind zum Teil auch heute noch gebräuchlich: HWS-Syndrom, Migraine cervicale, okzipitales Myalgie-NeuralgieSyndrom, vertebragener Kopfschmerz.
Definition
1983 gelang es Sjaastad den "cervicogenic headache" klar von anderen Kopfschmerzformen abzugrenzen und den wesentlichen Differenzialdiagnosen "Migräne" und "paroxysmale Hemicranie" gegenüberzustellen.
Nach den Kriteriender Cervicogenic Headache International Study Group (CHISG) muss die Diagnose des zervikogenen Kopfschmerzes folgende Merkmale umfassen:
Die Provokation typischer Kopfschmerzen durch Kopfbewegung, Beibehaltung unangenehmer Kopfhaltungen oder Druck auf die entsprechende Region an der HWS und die deutliche Schmerzminderung oder Schmerzfreiheit nach diagnostischer Blockade.
Deutlich weiter geht die Definition der International Headache Society (IHS) in der neu überarbeiteten Fassung von 2003, in der erstmals der zervikogene Kopfschmerz erwähnt wird.
Im Rahmen der radiologischen Diagnostik werden gefordert:
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Störung der Beweglichkeit bei Flexion/Extension
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Abnorme Haltung der HWS, Frakturen, angeborene Fehlhaltungen, Tumoren, rheumatoide Arthritis.
Dies sind strukturelle Veränderungen, die weit über degenerative Wirbelsäulenschäden hinausgehen, die ja bei vielen Patienten mit Kopf- und Nackenschmerzen gesehen werden und häufig mit der Schmerzursache nichts gemein haben. Wie auch im umgekehrten Fall degenerative Wirbelsäulenveränderungen bei völlig Gesunden vorkommen können, die nie über Schmerzen geklagt haben.
Laut Kriterienkataloges der IHS kann der Schmerz uni- oder bilateral auftreten.
Vorkommen und Häufigkeit
Legt man die strengen Diagnosekriterien der IHS zugrunde, ist die Diagnose des zervikogenen Kopfschmerzes wesentlich seltener als die der Migräne oder des Spannungskofschmerzes. Angaben zur Prävalenz schwanken zwischen 0,7 und 16% in Abhängigkeit der zugrunde liegenden Diagnosekriterien.
Klinisches Bild
Patienten schildern einen anfallsartig auftretenden Kopfschmerz vom Nacken in die Stirn und/oder Schläfe ausstrahlend, der bewegungsabhängig auftritt oder durch einseitige Körperhaltung provoziert wird. Der Untersuchungsbefund weist eine eingeschränkte HWS-Beweglichkeit auf, der Schmerz ist bei der Untersuchung provozierbar. Die paravertebrale Muskulatur ist druckdolent, Tonus, Struktur und Kontur können verändert sein.
Traumen oder Vorerkrankungen sowie Komorbiditäten z.B. rheumatoide Polyarthritis werden berichtet.
Neuroanatomische Voraussetzungen
Der zervikogene Kopfschmerz ist charakterisiert durch vom Hinterkopf ausgehende und in den Gesichtsbereich ausstrahlende Schmerzen. Als Ursache werden Veränderungen der oberen Zervikalsegmente genannt, also C1 bis C3. Inwieweit auch untere Segmente bei der Genese von zervikogenen Kopfschmerzen eine Rolle spielen, ist umstritten.
Exakte anatomische Studien gehen auf Bogduk zurück. Der Ramus dorsalis des medialen Astes eines Spinalnerven ist nicht nur für die Innervation des entsprechenden Segmentes zuständig, sondern auch für das darüber und das darunterliegende.
Die sensible Innervation des Kopfes erfolgt über die 3 Trigeminusäste und das Segment C2, namentlich den N.occipitalis major.

Abb. 1
C1 versorgt sensibel das Atlantookzipitalgelenk, gibt Äste über den Plexus zervikalis zu M. trapezius und M. sternocleidomastoideus, zu den Muskeln des subokzipitalen Dreiecks Fasern zur Dura mater und zur hinteren Schädelgrube.
Aus C2 stammt der größte Anteil von Fasern aus dem Plexus zervikalis und dessen stärkster Ast, der N. occipitalis major. Das Segment C2 versorgt weiter die tiefe Nackenmuskulatur und die paravertebralen Muskeln und ebenso wie die Wurzel C1 paravasal die A.vertebralis und zusätzlich die Arteria carotis interna.
Über C3 werden die Facettengelenke C2/3 und ein Teil der tiefen Nackenmuskeln innerviert.
Eine Erklärung, wieso strukturelle oder funktionelle Veränderungen der HWS zu in das Gesicht ausstrahlenden Schmerzen führen, gibt die Konvergenztheorie, die von Kerr beschrieben wurde. Alle Strukturen der oberen HWS also Bänder, Muskeln, Bandscheiben und Gelenke können als Schmerzauslöser infrage kommen. Die durch Veränderungen im Nacken entstandenen Schmerzen werden nicht nur am Ort der Läsion empfunden, sondern auch davon entfernt.
Der trigeminovaskuläre Komplex
Das Phänomen, dass strukturelle Läsionen der oberen HWS Schmerzen nicht nur im Nacken, genauer gesagt im Versorgungsbereich der 3 oberen Zervikalsegmente, sondern auch im Gesicht auslösen können, wird durch das neuroanatomische Konzept des trigeminozervikalen Komplexes erklärt:
Trigeminale und zervikale Afferenzen konvergieren auf das sekundäre Neuron.
Die Konvergenz kann in beiden Richtungen beobachtet werden, Schmerzen aus dem Trigeminussegment können in der Nackenregion empfunden werden, ein Phänomen, das man auch im Rahmen von Sinusitiden beobachtet, nämlich muskuläre Nackenverspannungen bei Affektion der Nasennebenhöhlen und Reizung der Okzipitalnerven, umgekehrt Kopfschmerzen bei Prozessen zervikaler Wurzeln, Dissektion der A. vertebralis oder Tumoren der hinteren Schädelgrube.
Trigeminale Afferenzen für Schmerz und Berührung erreichen den Nucleus caudalis ebenso wie Informationen aus den oberen Halssegmenten. Nach Umschaltung auf das zweite Neuron werden die Afferenzen als spino-trigemino-thalamischer Traktus zum Thalamus weitergeführt.
Neben der Konvergenz scheint eine zentrale Sensilisierung eine aufrechterhaltende Rolle zu spielen, sie besteht in einer gesteigerten Erregbarkeit bei erniedrigtem Schwellenpotenzial und massivem Aktionspotenzial-Einstrom von peripher, intrazellulären molekularen Veränderungen mit Zunahme energieverbrauchender Prozesse, Zunahme der Rezeptoren für exzitatorische Aminosäuren wie Glutamat und Aspartat mit der klinischen Folge der Hyperalgesie, Allodynie und Vergrößerung der rezeptiven Felder.

Abb. 2
Diagnostische Lokalanästhesieverfahren
Blockade des N. occipitalis major
Der N. occipitalis major ist der stärkste Ast aus dem Segment C2, er durchbohrt 3 cm lateral der Protuberantia occipitalis major in Höhe der Linea nuchae die Nackenmuskulatur. Direkt medial tastet man den Puls der A.occipitalis. Unter Orientierung an den genannten Landmarks wird die Punktion senkrecht durch die Haut durchgeführt, Oskontakt aufgesucht und ein kleines Lokalanästhetikadepot gesetzt.
Dies ist die komplikationsärmste Technik, die auch gut im ambulanten Bereich einzusetzen ist (Abb. [3] und [4]).

Abb. 3

Abb. 4

Abb. 5
Blockade der Wurzel C2 und der zervikalen Facettengelenke
Wird durchgeführt unter Bildwandler- oder CT-kontrolle und mittels Kontrastmittelgabe verifiziert. Zur exakten Beurteilbarkeit sollen nur ganz geringe Mengen Lokalanästhetikum verwendet und sehr sorgfältig Ausbreitung von Hyp- oder Anästhesie überprüft werden. Gefordert wird eine deutliche Schmerzreduktion oder Schmerzfreiheit auch hinsichtlich der Schmerzausstrahlung in Stirn oder Gesicht.
Weitere Möglichkeiten sind die Blockade der Facettengelenke C2/3, Blockade des medialen Astes des Ramus dorsalis des jeweils höher und tiefer gelegenen Zygapophysialgelenkes und sich daran anschließende Neurolyse, die chemisch, thermisch oder mittels Radiofrequenztherapie erfolgt.
Bei der Wurzelblockade wie auch der Injektion in die zervikalen Facettengelenke bestehen Risiken in Form von intrathekaler, periduraler Injektion sowie der artifiziellen Injektion intravasal bei Punktion von ventral in die A.carotis, V. jugularis externa und interna, sowie A. vertebralis. Somit sind dies Verfahren, die erfahrenen Zentren vorbehalten sein sollten. (Abb. [3])
Therapieoptionen
Neben den bereits erwähnten Lokalanästhesieverfahren, die mit Steroidgaben verabreicht werden können, sind zahlreiche Therapiebausteine aus einem multimodalen Therapiekonzept denkbar, die untereinander kombiniert werden können.
Zur Anwendung kommen physio- und manualtherapeutische Maßnahmen, eine medikamentöse Therapie, die in der Akutphase nichtsteroidale Antiphlogistika umfasst, kurzfristig ist auch die Anwendung von Muskelrelaxantien denkbar.
Längerfristig ist der Einsatz von schmerzdistanzierenden Medikamenten, wie z.B. Amitriptylin sinnvoll. Geht man von einer zentralen Sensibilisierung aus, können auch membranstabilisierende Substanzen eingesetzt werden. Hier wären Gabapentin, Carbamazepin zu nennen.
Die Anwendung eines TENS-Gerätes kann getestet werden, der relativ rasche Wirkverlust der Stimulation schränkt aber den Anwendungsbereich ein.
Basis einer jeden Schmerztherapie sollte auch hier ein Schmerztagebuch sein, u.U. kann der Patient darauf auch vermerken, welche Positionen zur Auslösung von Kopfschmerzen führen, um hier gezielt krankengymnastisch entgegenzuarbeiten.
Gemäß der IHS-Definition verschwindet der Kopfschmerz innerhalb von 3 Monaten nach erfolgreicher Behandlung der zugrunde liegenden Störung.
Wichtige Diffenzialdiagnosen
Wie bereits eingangs erwähnt, ist es von großer differenzialdiagnostischer Bedeutung, den zervikogenen Kopfschmerz von anderen Kopfschmerzformen abzugrenzen. Hier ist vor allem an Migräne, Spannungskopfschmerzen, Clusterkopfschmerz und die N. occipitalis-Neuralgie zu denken.
Die nichtchronifizierte Migräne ist durch einen anfallssartigen, pulsierenden Schmerz gekennzeichnet, mit vegetativer Begleitsymtomatik. Die hohe Schmerzintensität macht eine körperliche Betätigung meist unmöglich oder wird zumindest sehr massiv verstärkt.
Eine Migräne mit Aura wird durch die charakteristischen Begleiterscheinungen wie Flimmerskotom, sensible Störungen, Sprachstörungen, die den Schmerz begleiten oder ihm vorausgehen, definiert.
Der Spannungskopfschmerz wird meist als drückender Schmerz mittleren Intensität und mit beidseitiger Lokalisation beschrieben.Vegetative Symptome fehlen.
Ein periodisch auftretender und sehr charakteristischer Schmerz ist der Clusterkopfschmerz. Er tritt mit heftigster Intensität auf, Suizidgedanken werden beschrieben, die Betroffenen (meist Männer) laufen umher oder sind unruhig agitiert, ganz wesentlich ist das Auftreten vegetativer Symtome wie nasale Kongestion, Rhinorrhö, Ptosis, Miosos oder Lidödem. Eine ähnliche Symptomatik wie der Clusterkopfschmerz bietet die paroxysmale Hemikranie, die Shmerzattacken sind jedoch häufiger, halten kürzer an und betreffen überwiegend Frauen. Sie sind typischerweise durch Indometacindosen von 150 mg täglich zu Beginn, später in geringerer Erhaltungsdosisdosis zu verhindern.
Die Neuralgie des N. occipitalis entspicht einem neuropathischen Schmerzbild, das triggerbar im Nervenverlauf ist mit Hypästhesie, Dysästhesie und evozierbaren Schmerzen im Ausbreitungsgebiet des Nerven (Tab. [1]).

Tab. 1
Literatur bei der Verfasserin
Sabine Hesselbarth, Fachärztin für Anästhesie, spezielle Schmerztherapie.
Raimud Casser, Facharzt für Orthopädie-Rheumatologie, spezielle Schmerztherapie
DRK Schmerzzentrum Mainz

Dr. Sabine Hesselbarth

Abb. 1

Abb. 2

Abb. 3

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Abb. 5

Tab. 1
