Notfall & Hausarztmedizin (Hausarztmedizin) 2005; 31(3): B 128
DOI: 10.1055/s-2005-867122
Blickpunkt

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Krankenversicherung - Bismarcks Solidarsystem hat Zukunft

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
09. Mai 2005 (online)

 
Inhaltsübersicht

Nicht Bürgerversicherung oder Gesundheitsprämie sind die entscheidenden Fragen für die Zukunft der Krankenversicherung, sondern die Antipoden Privatisierung von Gesundheitsrisiken beziehungsweise Weiterentwicklung des solidarischen Systems. Es sprechen viele Argumente zugunsten der Solidarität in der GKV.

Auf einem Forum der AOK Bayern Anfang Februar wurde die Frage nach der Zukunft der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung behandelt. Können wir uns den Luxus zweier unvernetzter Krankenvollversicherungssysteme für unsere Bevölkerung auch weiterhin leisten, zumal nur ein kleiner Teil der Bevölkerung vom Wahlrecht zwischen GKV und PKV überhaupt Gebrauch machen kann, fragte Dr. Rainer Will, Vorsitzender des Verwaltungsrats der AOK. Er geht davon aus, dass sowohl die GKV als auch die PKV mit ihren heute verfügbaren Instrumenten den zukünftigen, vor allem demografischen Herausforderungen noch nicht gewachsen sind.

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Sozialstaatlich finanzierte Gesundheitssysteme versus individualisierte Konkurrenten

Für den Direktor des Internationalen Instituts für Empirische Sozialökonomie (INIFES), Prof. Martin Pfaff, ist aber aufgrund internationaler Vergleiche klar belegt, dass sozialstaatlich organisierte und finanzierte Gesundheitssysteme ihren individualisierten Konkurrenten eher überlegen sind. Entgegen gängigen theoretischen Vorstellungen über die disziplinierende Wirkung von Beiträgen sind steuerfinanzierte Systeme bedeutend weniger ausgabenexpansiv als beitragsfinanzierte Systeme, erklärte er auf dem Forum. In Ländern mit bedeutender privater Finanzierung einschließlich Selbstbeteiligungen sind die Gesundheitsausgaben pro Kopf keineswegs geringer als in Ländern mit vorwiegend öffentlicher Finanzierung.

Die in den Gesundheitssystemen verschiedener Länder beobachtbaren Unterschiede im Niveau der Gesundheitsausgaben sind nicht primär auf die Unterschiede in der Finanzierungsform zurückzuführen. Es lässt sich nicht belegen, dass direkte Zahlungen und Selbstbeteiligung der Patienten eine dämpfende Wirkung auf die Nutzung von Gesundheitsgütern hat.

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Mehr Bürokratie bei Privatversicherern

Eine neuere Untersuchung aus Großbritannien vergleicht verschiedene Formen privater Absicherung miteinander und mit öffentlichen Gesundheitssystemen. Hier einige der empirischen Befunde: Privatversicherer haben starke Anreize zur Risikoselektion. Menschen in schlechtem Gesundheitszustand können unter Umständen keinen Versicherungsschutz kaufen. Private Krankenversicherungen tendieren zu höheren Management- und Verwaltungskosten als Sozialversicherungen, teils weil die Versichertenpools kleiner sind, aber hauptsächlich wegen der ausgedehnten Bürokratie, die benötigt wird, um Risiken einzuschätzen, Prämien festzulegen, Leistungspakete zu entwerfen und zu überprüfen, Ansprüche auszuzahlen oder abzulehnen. Sie haben auch höhere Ausgaben durch Werbung, Marketing, Verteilung, Rückversicherung und die Notwendigkeit, einen Gewinn zu generieren.

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Kritisch betrachtet: einkommensbezogene Finanzierung der Krankenversicherung

Mit der momentan laufenden Diskussion über die Weiterentwicklung der einkommensbezogenen Finanzierung der Krankenversicherung im Rahmen einer Bürgerversicherung oder über einen Systemwechsel hin zu einkommensunabhängigen Kopfprämien setzte sich Pfaff kritisch auseinander. Im SPD-Modell einer solidarischen Bürgerversicherung sehen Kritiker durchaus auch Elemente, die den Anspruch einer umfassenden Solidarität eingrenzen: etwa die Beitragsbemessungsgrenzen oder den Ausschluss von Mieteinnahmen bei der Beitragsbemessung. Eine sofortige vollständige Umsetzung der Bürgerversicherung schließt das SPD-Modell vor allem aus rechtlichen, aber auch aus politisch-pragmatischen Gründen aus.

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Be- und Entlastungswirkungen von Kopfpauschalen

In einer neueren INIFES-Studie über die Be- und Entlastungswirkungen von Kopfpauschalen nach dem CDU-Parteitagsbeschluss von Leipzig, dem Rürup-Wille-Modell und dem CDU-CSU-Kompromissmodell wird festgestellt: Es kommt in allen diesen Modellen zu einer Mehrbelastung von Alleinverdiener-Ehepaaren mit mittleren und höheren Einkommen. Begünstigt werden dagegen Alleinstehende und besser verdienende Zweiverdiener-Ehepaare.

Die empirische Evidenz ist laut Pfaff überwältigend: Solidarisch finanzierte und organisierte Gesundheitssysteme sind den individualisierten Alternativen überlegen, was Kosteneffektivität und Verteilungsgerechtigkeit betrifft. Deshalb sei es nicht verwunderlich, dass weltweit bei grundlegenden Systementscheidungen dem "Bismarck-Modell" in der überwältigenden Zahl der Fälle der Vorzug gegeben werde, während es nur wenige Einzelfälle von Entscheidungen zugunsten von individualisierten Versorgungssystemen gebe.

Klaus Schmidt, Planegg