Pro
Pro
Joachim Körkel
Missverständnisse um das Konzept des kontrollierten Trinkens beginnen bei der Frage,
was damit gemeint ist. Deshalb vorneweg: Kontrolliertes Trinken bedeutet nicht einfach
„weniger trinken” oder „trinken wie andere (,Normalkonsumenten‘) auch”. „(Selbst)kontrolliertes
Trinken” steht vielmehr für einen Alkoholkonsum, der an einem zuvor festgelegten Konsumplan ausgerichtet ist. Pragmatisch betrachtet, heißt dies, jeweils für eine Woche im voraus
(a) seine maximale tägliche und (b) maximale wöchentliche Trinkmenge sowie (c) die
Anzahl abstinenter Tage festzulegen und einzuhalten. Zur Förderung einer derartigen
bewussten Konsumsteuerung liegen verhaltenstherapeutisch strukturierte, manualisierte
Programme vor - sowohl autodidaktische als auch einzel- bzw. gruppentherapeutische
[1]
[2]. In zehn, in Wochenabständen aufeinander folgenden Programmmodulen lernt der Konsument
durch Führen eines Trinktagebuchs, gezieltes Erkennen von Risikosituationen für Zuvieltrinken,
Auswahl individualisierter Kontrollstrategien (z. B. „Vor jedem alkoholischen ein
großes nichtalkoholisches Getränk trinken”) u. a. m. seinen Konsum Schritt für Schritt
und dauerhaft zu begrenzen.
Eine zweite Klarstellung: Alkoholabstinenz ist ein anstrebenswertes Veränderungsziel
für Menschen mit exzessivem Alkoholkonsum, denn Abstinenz bildet eine solide Basis
für die Reduzierung alkoholassoziierter Probleme und Neuausrichtung des Lebens. Auf
jeden Fall sollten bereits abstinent lebende und abstinenzbereite Patienten darin
bestärkt werden, ein alkoholfreies Leben zu führen. Programme zum kontrollierten Trinken
verstehen sich insofern nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung abstinenzbezogener
Behandlungsangebote - für Menschen, die zu einem abstinenten Leben nicht bereit oder
nicht in der Lage sind. Es geht dementsprechend nicht um die Frage „Abstinenz oder kontrolliertes Trinken?”, sondern um ein Plädoyer für zieloffene Suchtarbeit, die dem Patienten die Wahl zwischen Veränderungszielen lässt.
Mindestens vier Gründe sprechen für Zieloffenheit, also dafür, Angebote zum kontrollierten
Trinken in die Behandlungspalette der Suchthilfe und die medizinische Grundversorgung
einzubinden:
-
Durch die Option einer Trinkmengenreduktion können mehr Menschen für eine Veränderung
gewonnen werden, als durch die für viele Menschen abschreckende Vorabfestlegung auf
Abstinenz („Nie mehr Alkohol!”).
Die überwiegende Mehrzahl der Alkoholabhängigen - nämlich 95 % - und nahezu alle Alkoholmissbraucher
tauchen im Suchthilfesystem (Suchtberatungsstellen, Suchtfachkliniken, Sozialpsychiatrische
Dienste, Psychiatrische Krankenhäuser/Abteilungen, Selbsthilfegruppen) gar nicht erst
auf [3]. Im medizinischen Behandlungssystem ist die Erreichungsquote deutlich höher (34,5
% der Alkoholabhängigen werden mindestens einmal jährlich in Allgemeinkrankenhäusern
und 80 % bei niedergelassenen Ärzten behandelt), allerdings werden Alkoholprobleme
i. d. R. nicht erkannt und/oder nicht thematisiert/behandelt.
Wesentliche Gründe für die geringe behandelte Prävalenz liegen in der Befürchtung
der Konsumenten, als „Alkoholiker” etikettiert und auf das Abstinenzziel festgelegt
zu werden - und in der Erfahrung vieler Mediziner, mit diesem Ziel bei vielen Betroffenen
„gegen eine Wand zu laufen” und zu scheitern. Andere Länder sind hier weiter. Beispielsweise
halten 66 % der australischen und 76 % der britischen Alkoholbehandlungseinrichtungen
strukturierte Angebote zum kontrollierten Trinken vor [1].
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Eine zieloffene Herangehensweise an Alkoholprobleme wird der bioethischen Maxime gerecht,
nichts gegen den Willen des Patienten zu tun.
Diesem Grundsatz folgend, sollte die Frage von Abstinenz oder kontrolliertem Trinken
explizit und sanktionsfrei ins Gespräch gebracht, das Für und Wider dieser Ziele erörtert
und der Patient fachlich profund bei dem Ziel unterstützt werden, das er letztlich
anstrebt - im Falle von kontrolliertem Trinken durch die dafür ausgearbeiteten Programme
[1]
[2].
Unter ethischem Blickwinkel ist es zudem geboten, Menschen nichts abzuverlangen, was
zu erbringen sie im Moment nicht in der Lage sind („Sollen setzt Können voraus”).
Eine Trinkmengenreduktion ist deshalb in Betracht zu ziehen, wenn sich Abstinenz -
zumindest temporär - als nicht realisierbar erweist.
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Zieloffenheit ist Voraussetzung für eine kooperative Arzt-Patient-Beziehung und „geschmeidige”
therapeutische Arbeit.
Eine zieloffene Vorgehensweise bringt - im Gegensatz zur Abstinenzzielvorgabe - den
erheblichen therapeutischen Vorteil mit sich, dass sich Patienten ernst genommen fühlen
und zu ehrlichen Aussagen sowie aktiver Mitarbeit ermuntert werden, statt in die innere
Emigration abzutauchen, im Widerstand gegen Veränderung zu verharren und „gute Miene
zum bösen Spiel zu machen”. Außerdem wird durch eine zieloffene Herangehensweise der
freiwillige, aus eigener Überzeugung vorgenommene Wechsel vom kontrollierten Trinken
zur Abstinenz erleichtert, falls sich eine Trinkmengenreduktion als unerreichbar oder
letztlich unerwünscht erweisen sollte.
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Programme zum kontrollierten Trinken sind mindestens so wirksam wie Abstinenzprogramme.
Eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien belegt, dass Programme zur systematischen
Konsumkontrolle - auch bei Alkoholabhängigen - Erfolgsquoten von durchschnittlich
65 % erreichen und mindestens so erfolgreich sind wie Abstinenzprogramme [1]
[4]
[5]
[6]. Langzeitstudien demonstrieren, dass kontrolliertes Trinken auch über Jahre hinweg
erfolgreich aufrecht erhalten werden kann bzw. das Reduktionsziel für 10 - 30 % der
Behandelten die Brücke zur Abstinenz darstellt [1]. Weitere positive Effekte von Reduktionsprogrammen sind die Verminderung alkoholassoziierter
Probleme (z. B. Ängste und Depressionen) sowie Steigerung von Selbstwertgefühl und
Lebensqualität.
Eine magische, etwa biologisch vorgegebene Grenze, ab der kontrollierter Konsum absolut
unmöglich wäre, gibt es nach bisherigen Studien nicht [7]. Alkoholabhängige profitieren von Reduktionsprogrammen ebenso wie Missbraucher [5]
[6] - selbst chronisch alkoholabhängige Wohnungslose [8].
Fazit: Die Vernunft als „der Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben” (Marquard)
gebietet es, Programme zum kontrollierten Trinken gleichberechtigt neben Abstinenzprogrammen
in die Behandlungspalette einzubinden. Auf diese Weise können bisher nicht (oder nicht
mehr) erreichte Menschen mit Alkoholproblemen einer Veränderung zugeführt und Chronifizierungen
vermieden, verkürzt oder gelindert werden.
Prof. Dr. Joachim Körkel
Ev. Fachhochschule Nürnberg
Bärenschanzstraße 4
90429 Nürnberg
E-mail: joachim.koerkel@evfh-nuernberg.de
Kontra
Kontra
Michael Soyka, Miriam Bottlender, Rainer Spanagel
Die Fähigkeit alkoholabhängiger Patienten, kontrolliertes Trinken (KT) zu erlernen,
ist schon aufgrund konzeptueller Überlegungen zweifelhaft. Zur Diagnosestellung ist
per definitionem (ICD-10, DSM-IV) „Kontrollminderung” ein zentrales Abhängigkeitskriterium.
Jellinek resümierte Irreversibilität der Alkoholabhängigkeit [9]. Eine Langzeitkatamnese über 60 Jahre [10] ergab einen außerordentlich geringen Anteil kontrolliert Trinkender. Die meisten
Patienten waren abstinent, verstorben oder tranken weiter.
Die Erstbeschreiber [11] definierten KT als Konsum, bei dem man „sorgfältig und sogar zwanghaft die Zeit,
den Ort und die Umstände seines Trinkens vorbestimmt und rigide die Trinkmenge begrenzen
muss … Von KT ist dann zu sprechen, wenn jemand sein Trinkverhalten an einem zuvor
festgelegten Trinkplan bzw. Trinkregeln ausrichtet”. Programme zum Erlernen von KT
berichteten zunächst positive Ergebnisse [12]
[13]. Eine unabhängige Arbeitsgruppe zeigte aber, dass den meisten Patienten von Beginn
an KT nicht gelang und im ersten Jahr nach Behandlungsende erneut stationäre Behandlung
erfolgte. Nach zehn Jahren trank lediglich einer von anfangs 20 Probanden kontrolliert
[14].
Wissenschaftlich besteht Unklarheit, ob und für wen KT als Behandlungsoption geeignet
ist (Übersichten [9]
[15]). Langzeiterfolge sind nach Datenlage selten. Nach verhaltenstherapeutischem Selbstkontrolltraining
tranken 10 % von 140 Patienten über den Katamnesezeitraum kontrolliert [16]. Von 1289 Patienten wiesen nach 5 - 7 Jahren lediglich 1,6 % ein stabiles, moderates
Trinken ohne exzessiven Alkoholkonsum, soziale, medizinische oder juristische Probleme
wegen Alkoholkonsum auf [24]. Neuere katamnestische Untersuchungen zeigen, dass nur wenige Patienten in ambulanter
oder stationärer Entwöhnungstherapie ein stabil reduziertes, aber nicht abstinentes
Trinkverhalten erreichen [17]
[18].
Tierexperimentelle Forschung spricht ebenfalls gegen die Erlernbarkeit von KT. Labortiere,
die freiwillig Alkohol tranken, entwickelten irreversibel abhängiges Verhalten: „Point
of no return-Modell” [19]. Ratten, die 50 Wochen lang Zugang zu Alkohol hatten, nahmen anfangs freiwillig
Alkohol auf. Sie lernten die psychotropen Effekte des Alkohols einzuschätzen. Tage
mit hohem Konsum wechselten mit fast abstinenten Tagen. Dieser kontrollierte Konsum
richtete sich nach der inneren Befindlichkeit der Tiere, u. a. beeinflusst durch Dominanzgefüge
und Stress. Trotz gleicher Umweltbedingungen entwickelte sich dann aber das Trinkmuster
der Tiere sehr unterschiedlich. „Alkoholabhängige” Ratten tranken auch nach einer
6-monatigen Abstinenzphase und sogar trotz Vergällung wieder Alkohol, den sie dem
Wasser vorzogen. Auch äußere Bedingungen änderten das Trinkverhalten dann nicht mehr.
Kontrollverlust hatte sich manifestiert, interne und externe Faktoren hatten kaum
noch Bedeutung für eine kontrollierte Alkoholaufnahme. Keine der Ratten, die einmal
Kontrollverlust erlitten hatten, konnte später wieder „kontrolliert” trinken. Ein
weiteres Tiermodell, das Alkoholdeprivationsmodell [20], bestätigt diese Befunde.
Fazit
Fazit
Für (noch) nicht abstinenzmotivierte Patienten sind „harm reduction-”Modelle zur Trinkmengenreduktion legitim. Dies ist nicht mit „kontrolliertem Trinken”
zu verwechseln. Für welche Patienten KT möglicherweise ein realistisches Therapieziel
ist, wurde bislang auch von Protagonisten nicht definiert. Die Risiken sind enorm:
Es gibt kaum einen Patienten, der im Verlauf der Erkrankung nicht schon mal versucht
hätte, kontrolliert zu trinken und daran scheiterte.
Traditionell gilt in Deutschland die abstinenzorientierte Behandlung als „Goldstandard”
und wird gerade auch von Selbsthilfegruppenorganisationen propagiert [21]
[22]
[23]. KT bei alkoholabhängigen Patienten kann derzeit nicht als realistisches Ziel empfohlen
werden. Mit abstinenzorientierten Therapien ist man klinisch immer auf der richtigen
Seite.
Prof. Dr. Michael Soyka
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
LMU München
Nußbaumstraße 7
80336 München
E-mail: michael.soyka@med.uni-muenchen.de
Prof. Dr. Rainer Spanagel
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit
Abt. Psychopharmakologie
J5
68159 Mannheim