Z Orthop Ihre Grenzgeb 2004; 142(6): 635-638
DOI: 10.1055/s-2005-862202
Orthopädie aktuell

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Lumbale Spinalkanalstenose - Klinische Symptomatik - konservative Behandlungsstrategien

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Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. Jürgen Heisel

Chefarzt der Orthopädischen Abteilung der Fachkliniken Hohenurach

Immanuel-Kant-Straße 31

72574 Bad Urach

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Publication Date:
26 January 2005 (online)

 
Table of Contents

Unter anatomischen Gesichtspunkten wird die lumbale Spinalkanalstenose definiert als eine lokal begrenzte knöcherne (z.B. bei Hypertrophie der Facettengelenke) oder weichteilbedingte (z.B. durch Hypertrophie der Ligg. flava) lichte Einengung des Wirbelkanales der Lendenwirbelsäule. Hauptlokalisation sind die Etagen L4/L5 und L3/L4.

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Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. Jürgen Heisel

Ätiologisch werden kongenitale Störungen (idiopathische, vor allem laterale Enge, Spondylolisthese, Hyperlordose) von erworbenen degenerativen Störungen (v.a. Bandscheibenverschleiß mit reaktiven hyperostotischen Störungen) und/oder Instabilitäten bzw. postoperativ aufgetretenen Narbenstrikturen unterschieden. Betroffen sind meist ältere und alte Menschen, Männer häufiger als Frauen.

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Abb. 1: Haltungsverfall mit Anteklination des Rumpfes im Falle einer symptomatischen lumbalen Spinalkanalstenose.

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Klinische Symptomatik und bildgebende Diagnostik

In den meisten Fällen besteht klinisch eine kompensierte (stumme) Situation, die anfänglichen Beschwerdebilder sind oft völlig uncharakteristisch mit lokalen, schlecht lokalisierbaren dumpfen Rückenschmerzen vom pseudoradikulären Typ. Das klassische klinische Vollbild einer Claudicatio spinalis intermittens als Ausdruck einer Dekompensation, entwickelt sich bei schleichender Progredienz erst spät. Typische Zeichen sind hier segmentale oder diffuse periphere Parästhesien, segmentale Schmerzen sowie evtl. auch segmentale muskuläre Krämpfe, die bevorzugt beim Zurücklegen einer bestimmten Wegstrecke, aber auch nach langem Stehen mit hyperlordotisch eingestellter Lendenwirbelsäule auftreten. In sitzender Körperhaltung wird eine längere Rumpfreklination oft schlecht toleriert; im Zuge einer Rumpfanteklination wird häufig eine Beschwerdeerleichterung berichtet (Abb. [1]).

Zur eindeutigen Objektivierung und auch Quantifizierung des Ausmaßes einer spinalen Enge ist eine bildgebende Diagnostik unerlässlich: Hierzu zählen zunächst Röntgen-Nativaufnahmen der Lendenwirbelsäule in zwei Ebenen im Stehen; die höchste Aussagekraft besitzen das Post-Myelo-CT, das Computer- sowie das Kernspintomogramm.

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Behandlungsstrategien

Die Primärbehandlung einer lumbalen Spinalkanalstenose ist meist konservativ symptomorientiert unter ambulanten oder aber auch kurzfristig stationären Bedingungen, wobei die gesamte medikamentöse, physikalische, balneologische und bewegungstherapeutische Behandlungspalette ausgeschöpft werden sollte, bis eine subjektiv gut tolerierte klinische Situation gegeben ist. Nur bei drohender neurologischer Dekompensation bzw. bei konservativ nicht zu beherrschendem Schmerzbild ist eine operative Intervention im Sinne einer dorsalen lumbalen Dekompression (evtl. mit zusätzlicher transpedikulärer Stabilisierung) zu erwägen. In diesem Zusammenhang ist zur Verlaufskontrolle und zur Überprüfung der Effizienz der Behandlung das konsequente Führen eines Schmerztagebuches (Schmerzgradation von 0-10 im Rahmen einer visuellen Analogskala; 2-3mal am Tag vorzunehmen) empfehlenswert.

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Medikamentöse Behandlung

Klinisch unspezifische (oft auch nur muskulär bedingte) Schmerzbilder sollten durch eine konsequente adäquate systemische Abdeckung mit der bekannten Palette der Analgetika (Paracetamol, ASS, Methalgin; auch Opioide/Opiate) und/oder Antiphlogistika (NSAR; Tab. 1) erfolgen, wobei hier das bekannte 3-Stufen-Schema der WHO empfohlen wird. Bei begleitendem Wurzelödem mit hartnäckiger radikulärer Irritation kann auch ein "oraler Kortisonstoß" über 5-7 Tage (Prednisolon in absteigender Dosis, beginnend mit etwa 60 mg) erwogen werden. Zusätzlich kommt eine begleitende neurotrope Medikation mit Vitamin B-Präparaten bzw. analogen Wirkstoffen sowie eine Verabreichung von Muskelrelaxantien infrage.

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Abb. 2: Lumbale Facetteninfiltration L4/L5. (Die schwarzen Punkte markieren die Dornfortsätze L4 und L5, der rote Punkt die Nadeleinstichstelle.)

An lokalen medikamentösen Behandlungsmaßnahmen besteht im Falle eines mehr radikulär-neuralgischen Schmerzbildes die Möglichkeit einer epineural-dorsalen (lumbal paravertebral; Tab. [2]) bzw. epineural-sakralen Injektion von isotoner Kochsalzlösung (10-20 ml), evtl. mit Triamcinolon-Zusatz; empfohlen werden hier 6-10ma-lige Anwendungen in etwa ein- bis zweitägigen Abständen. Im Falle eines gleichzeitig bestehenden schmerzhaften lumbalen Facettensyndromes ist eine zusätzliche Facetteninfiltration (evtl. unter Bildwandlerkontrolle; Abb. [2]) mit Lokalanästhetika sinnvoll.

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Lagerung

Aufgrund der mechanischen Ursache des Krankheitsbildes kommt bei akuten Beschwerdebildern einer LWS-entlastenden Lagerung große Bedeutung zu. Als effiziente Einzelmaßnahme steht hier die Entlordosierung der unteren Rumpfwirbelsäule im Stufenbett (Abb. [3]) oder im Schlingentisch (Abb. [4]) im Vordergrund. Diese führt zu einer Entlastung der lumbalen Facettengelenke, außerdem zu einer leichten Aufweitung des Spinalkanales, was den lokalen Druck auf die nervös leitenden Strukturen zumindest vorübergehend mindern hilft. Weiterhin kommt es in dieser Körperhaltung zu einer Entstauung des venösen lumbalen Spinalkanalplexus. Gleichzeitige milde Traktionen bis maximal 25% des Körpergewichtes wirken ebenfalls schmerzlindernd.

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Abb. 3: LWS-entlastende Stufenlagerung (Würfelkissen)

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Abb. 4: Ganzkörper-Aufhängung im Schlingentisch.

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Bewegungstherapie

Auch die mobilisierende krankengymnastische Behandlung sollte vor allem unter dem Aspekt einer mechanischen Entlastung der Rumpfwirbelsäule indiziert werden. Hier stehen entlordosierende Flexionsübungen nach Brunkow bzw. Brügger (als Einzel- oder als Gruppenmaßnahme) mit dem Ziel der Rumpfstabilisierung im Vordergrund, außerdem Übungen aus dem Rückenprogramm von McKenzie. Ergänzt werden können diese aktiven Bewegungsmaßnahmen durch milde Extensionen oder Traktionen in leichter Rumpfanteklination.

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Abb. 5: Repetitive Tretübungen auf dem Stepper im Rahmen der Medizinischen Trainingstherapie.

Im beschwerdefreien (-armen) Intervall sollte sich ein gezieltes Auftrainieren der stabilisierenden Bauch- und Rückenmuskulatur im Rahmen der gerätegestützten Krankengymnastik (MTT = Medizinische Trainingstherapie) anschließen zur Steigerung der Belastungstoleranz verschiedener Muskelgruppen: Hierbei sollten Komplexbewegungen möglichst vermieden und ganz überwiegend in nur einer Bewegungsebene trainiert werden Als wesentlicher Baustein steht hier einerseits das dosierte Arbeiten mit Gewichten an Rollenzügen, das Laufband- oder Steppertraining (Abb. [5]) und das Ergometertraining auf dem Standfahrrad (25-50 Watt) im Vordergrund.

Ein gezieltes, vor allem dosiertes Gangtraining in einem speziellen Parcours (evtl. mit einer Begleitperson) dient der Koordinationsschulung und auch zur Überprüfung des Behandlungserfolges, vor allem aber zur Beurteilung der Restbelastbarkeit (maximale schmerzfreie Wegstrecke).

An therapeutischem Sport kommen nur gleichmäßige Bewegungsabläufe ohne belastende kinetische Kraftspitzen infrage (Wandern, Walken, Gymnastik, Schwimmen u.a.m.).

Letztendlich sollte der Patient im Rahmen einer theoretischen Schulung (sog. Rückenschule nach Krämer) erfahren, welche Bewegungsmuster und -abläufe erlaubt sind und welche möglichst vermieden werden sollten.

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Balneotherapie

Die Balneotherapie gilt im Falle einer lumbalen Spinalkanalstenose allenfalls als ergänzende Maßnahme. Hier sind das einfache Wannenbad, Sprudelbäder und auch das Moorbad mögliche Anwendungsformen. Beim Thermalbad (Einzel- oder Gruppenbehandlung; ist eine gleichzeitige funktionelle Behandlung unter Aufhebung der Körperschwerkraft möglich.

Hauptziel der balneologischen Maßnahmen ist im Wesentlichen eine Detonisierung der oft irritierten und reaktiv verspannten paravertebralen Rückenstreckmuskulatur (sog. myofasziale Funktionsstörungen).

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Physikalische Therapie

Im Rahmen der Elektrotherapie zielt der Einsatz von Interferenzströmen ebenfalls vor allem auf eine muskuläre Detonisierung ab. Das 2-Zellen-Bad sowie das Stangerbad (jeweils galvanische Ströme; sind als wirksame analgetische Maßnahme im Falle neuralgischer Schmerzbilder zu werten. Auch die Anwendung der TENS (transkutane elektrische Nervenstimulation) wird unter dem Gesichtspunkt der lokalen Analgesie indiziert (Abb. [6]).

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Abb. 6: TENS-Anwendung im Bereich der unteren LWS.

An weiteren ergänzenden (passiven) Behandlungsstrategien sind die manuelle Massage, lokale Fango- bzw. Heißluftanwendungen, der Einsatz einer heißen Rolle bzw. lokale Wickel sowie die Unterwassermassage anzuführen. Auch diese Therapieverfahren dienen vor allem der Hyperämisierung und Detonisierung einer irritierten hypertonen und damit schmerzhaften Rückenstreckmuskulatur.

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Ergotherapie

Im akuten Beschwerdestadium mit Beeinträchtigung der Wirbelsäulenfunktion und der globalen Mobilität ist nicht selten eine adäquate Hilfsmittelversorgung (Gehhilfen wie Rollatoren,; Schuh- bzw. Strumpfanziehhilfen, Abb. [7]; Greifzangen u.a.) erforderlich. Die Verordnung spezieller entlordosierender Stuhlauflagen, evtl. sogar von Spezialstühlen mit individueller Einstellung der Rückenführung und der Sitzhöhe, sind weitere wichtige Aufgaben der Ergotherapie, letztendlich auch die ergonomische Ausrüstung des Arbeitsplatzes, z.B. mit einem Stehpult (Abb. [8]).

Bei deutlichen, temporär oder auf Dauer bestehenden motorischen Defiziten mit Beeinträchtigung der Geh- und Stehfähigkeit ist ein individuell abgestimmtes Verhaltens- und Selbsthilfetraining zur Wiederherstellung oder Erhaltung der Eigenständigkeit unverzichtbar.

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Abb. 7: Strumpf-Anziehhilfe aus der Ergotherapie.

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Abb. 8: Ergonomisches Stehpult bei chronischer Affektion im Bereich der Rumpfwirbelsäule.

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Ärztliche und psychologische Begleitmaßnahmen

Im Rahmen der ärztlichen Aufklärung über das Krankheitsbild und einer möglicherweise anstehenden operativen Intervention, vor allem bei Besprechung der bildgebenden Diagnostik, sollte auf eine "chaotische Wortwahl" (z.B. "drohende Querschnittlähmung", "auf Dauer im Rollstuhl" u.ä.) verzichtet werden. Im Zuge einer Diätberatung sollte auf die Bedeutung einer Normalisierung des Körpergewichtes im Hinblick auf eine wirksame mechanische Entlastung des Achsenorganes hingewiesen werden.

Die Akupunktur sowie evtl. eine psychologische Mitbetreuung des Patienten stellen ebenfalls wichtige begleitende Maßnahmen dar.

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Orthetische Versorgung

Zur Aufrechterhaltung einer konsequenten Entlordosierung der lumbalen Wirbelsäule mit hieraus resultierender Erweiterung des lumbalen Wirbelkanales sowie zur Entlastung der lumbalen Facettengelenke dient das (vorübergehende) Tragen eines Flexionskorsettes nach Krämer (Abb. [9]). Einen weniger effizienten wirbelsäulenstützenden Effekt besitzen textile Lumbalorthesen (evtl. mit dorsaler Druckpelotte) sowie ein Lindemann-Mieder.

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Abb. 9: Starre, komplett die LWS umfassende entlordosierende Orthese mit seitlichem Verschluss.

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Schlussfolgerungen

Konservative Behandlungsmaßnahmen sind beim klinisch oft sehr variablem Symptomenkomplex einer lumbalen Spinalkanalstenose oft über einen langen Zeitraum durchaus erfolgreich; das Therapieziel ist dann er-reicht, wenn der betroffene Patient ein subjektiv toleriertes, weitgehend kompensiertes Beschwerdebild angibt. Engmaschige ärztliche Kontrollen sind unbedingt anzuraten; in jedem Falle muss der Betroffene darauf hingewiesen werden, dass es sich bei der mechanischen Enge in den allermeisten Fällen um eine progrediente Störung handelt, bei der neurologische Begleiterscheinungen anfänglich oft nur geringfügig ausgeprägt sind und durchaus plötzlich bedrohlich zunehmen können.

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Abb. 10: Therapie-Algorithmus im Falle einer lumbalen Spinalkanalstenose.

Von einer relativen Operationsindikation ist dann auszugehen, wenn über einen Zeitraum von (3-)6 Monaten eine hartnäckige subjektive Therapieresistenz angegeben wird. Eine absolute Operationsindikation liegt dann vor, wenn bildgebend eine Verlegung des lichten Querschnittes des lumbalen Spinalkanales um mehr als 50% vorliegt bzw. der Sagittaldurchmesser des lumbalen Wirbelkanales weniger als 10 mm beträgt; eine deutliche Progredienz neurologischer Defizite bei relativer Spinalkanalstenose ist ebenfalls als Operationsindikation zu werten (Algorithmus der Therapie: Abb. [10]).

Literatur beim Verfasser

Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. Jürgen Heisel

Chefarzt der Orthopädischen Abteilung der Fachkliniken Hohenurach

Immanuel-Kant-Straße 31

72574 Bad Urach

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Chefarzt der Orthopädischen Abteilung der Fachkliniken Hohenurach

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Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. Jürgen Heisel

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Abb. 1: Haltungsverfall mit Anteklination des Rumpfes im Falle einer symptomatischen lumbalen Spinalkanalstenose.

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Abb. 2: Lumbale Facetteninfiltration L4/L5. (Die schwarzen Punkte markieren die Dornfortsätze L4 und L5, der rote Punkt die Nadeleinstichstelle.)

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Abb. 3: LWS-entlastende Stufenlagerung (Würfelkissen)

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Abb. 4: Ganzkörper-Aufhängung im Schlingentisch.

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Abb. 5: Repetitive Tretübungen auf dem Stepper im Rahmen der Medizinischen Trainingstherapie.

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Abb. 6: TENS-Anwendung im Bereich der unteren LWS.

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Abb. 7: Strumpf-Anziehhilfe aus der Ergotherapie.

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Abb. 8: Ergonomisches Stehpult bei chronischer Affektion im Bereich der Rumpfwirbelsäule.

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Abb. 9: Starre, komplett die LWS umfassende entlordosierende Orthese mit seitlichem Verschluss.

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Abb. 10: Therapie-Algorithmus im Falle einer lumbalen Spinalkanalstenose.