Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung … 249
2 Hals-, Nasen-, Ohrenärztliche Faktoren bei CMD … 249
2.1 Otalgien … 249
2.2 Tinnitus … 250
2.3 Sinusitiden … 251
2.4 Eagle-Syndrom … 251
2.5 Überweisung zum Zahnarzt … 251
3 Diagnostik … 251
3.1 Basisdiagnostik: Funktioneller Kurzbefund als CMD-Screening … 251
3.2 Erweiterte Diagnostik: Klinische Funktionsanalyse … 252
3.2.1 Anamnese … 252
3.2.2 Schmerzlokalisation … 252
3.2.3 Palpation … 252
3.2.4 Okklusionsdiagnostik … 253
3.2.5 Neurologische Kurzuntersuchung … 253
3.2.6 Orthopädische Kurzuntersuchung … 253
3.3 Weiterführende Diagnostik … 253
3.3.1 Manualmedizinische Strukturanalyse … 253
3.3.2 Instrumentelle Diagnostik … 254
3.3.3 Bildgebende Diagnostik … 254
3.4 Auswertung: Diagnoseschema … 256
4 Therapie … 256
4.1 Aufklärung … 257
4.2 Selbstbeobachtung … 257
4.3 Entspannungstechniken … 257
4.4 Stressmanagement, Verhaltenstherapie … 257
4.5 Physiotherapie … 258
4.6 Medikamentöse Therapie … 258
4.7 Schienentherapie … 258
4.8 Okklusale Therapie … 259
5 Schlussfolgerung … 260
Literatur (Hinweis: erscheint nur in der Online-Ausgabe)
1 Einleitung
1 Einleitung
Störungen der Kaufunktion werden heute unter dem Begriff „Craniomandibuläre Dysfunktionen”
(CMD) zusammengefasst. Die Erkrankungen betreffen die Zähne, die Kaumuskulatur, die
Kiefergelenke, Parodontien und mit diesen verbundene Strukturen, Nerven, Ohren, Hals,
Kopf und die Wirbelsäule. Als Ursachen kommen unter anderem Stress und parafunktionelle
Ursachen wie Knirschen und Pressen in Betracht. Auch Habits wie Lippenkauen oder Zungenpressen
und Störungen im neurophysiologischen Zusammenspiel zwischen der Funktion der Zahnreihen,
der Muskulatur und den Kiefergelenken können zu CMD beitragen. In den letzten Jahren
hat sich die Betrachtung der Pathogenese funktioneller Symptome und Erkrankungen sowohl
im Bereich der Diagnostik, der Therapie als auch bezüglich des Gesamtverständnisses
bezüglich der Entstehung dieser Symptom- und Krankheitsbilder geändert. In den Anfängen
der Funktionsdiagnostik bestand hinsichtlich der Entstehung von CMD eine eher monokausale
Betrachtungs- und Handlungsweise, die von einem einfachen Ursache-Wirkungs-Prinzip
ausging:
Okklusionsstörung = Parafunktion
Parafunktion = funktionelle Symptome und Erkrankungen durch hohe Belastungen an den
Determinanten des craniomandibulären Systems.
In den letzten Jahren hat sich jedoch gezeigt, dass man mit dieser Betrachtungsweise
vielen Patienten nicht gerecht wurde und der Behandlungserfolg bei manchen auch ganz
ausblieb. Wie auch in anderen medizinischen Gebieten, z. B. beim chronischen Rückenschmerz,
wurde erkannt, dass viele verschiedene Faktoren bei der Entstehung solcher Symptome
und Erkrankungen eine Rolle spielen. Begriffe wie „Bio-psycho-soziale Erkrankung”
oder „Multifaktorielle Erkrankung” geben diese Sichtweise wieder. Sie sollen zeigen,
dass neben anatomischen, physiologischen, parafunktionellen und anderen biologischen Ursachen auch psychische und soziale Einflüsse eine enorme Bedeutung in der Ätiologie der CMD besitzen. Dies bedeutet,
dass der mit einem CMD-Patienten konfrontierte Zahnarzt oder Arzt bei Patienten, die
unter nicht eindeutig zu verifizierenden oder chronischen Symptomen leiden, nicht
mehr als Alleinbehandler arbeiten kann, sondern frühzeitig, in Abhängigkeit von der
Initialdiagnose andere Fachdisziplinen, insbesondere Schmerztherapeuten, Neurologen,
HNO-Ärzte, Orthopäden und Physiotherapeuten aber auch Psychologen konsultieren muss
[1 ]. Darüber hinaus müssen Erkenntnisse der Neuro- und Schmerzphysiologie, z. B. der
Schmerzchronifizierung in die Diagnostik und Therapie miteinbezogen werden. Man hat
zudem aus der Schmerzmedizin gelernt, dass speziell chronische Schmerzen bei den betroffenen
Patienten kein Warnsymptom einer zugrundeliegenden einfachen kausalen Ursachenkette
mehr darstellen, sondern Schmerzzustände im craniomandibulären System sich auch als
eigenständige Erkrankungen etablieren können [2 ]. Darüber hinaus ist es wünschenswert, dass aus wissenschaftlichen, ethischen, wie
auch aus Kostengründen, reliable und validierte diagnostische und therapeutische Verfahren
zum Einsatz kommen, um die Diagnostik und Therapie auf eine noch sicherere Grundlage
zu stellen.
2 Hals-, Nasen-, Ohrenärztliche Faktoren bei CMD
2 Hals-, Nasen-, Ohrenärztliche Faktoren bei CMD
Seit den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts werden immer wieder Beziehungen
zwischen Kieferbeschwerden und Ohrsymptomen beschrieben. Das bekannteste Beschwerdebild
wurde dabei das zum Teil heute noch im Sprachgebrauch befindliche „Costen-Syndrom”.
Der gleichnamige Arzt beschrieb einen Zusammenhang, wonach sich nach einem Verlust
von Stützzonen, also beispielsweise mehreren Molaren, eine Dorsal- und Kranialverlagerung
des Unterkiefers einstellen könnte. Gelenknahe Strukturen wie der N. auriculotemporalis
und die Tuba Eustachii könnten nach diesen Überlegungen irritiert werden und so zu
Symptomen wie Otalgien, Tinnitus, Vertigo oder Geschmacksstörungen führen. Diese Theorie
wurde jedoch mehrfach widerlegt und gilt heute als eine Vermischung verschiedener
Krankheitsbilder. Der Terminus „Costen-Syndrom” sollte aus diesem Grunde nicht mehr
verwendet werden.
2.1 Otalgien
Tatsächlich beschreiben jedoch viele Patienten mit CMD Ohrsymptome, überwiegend dabei
Ohrschmerzen, so dass vor der zahnärztlichen, funktionellen Untersuchung bereits häufig
eine HNO-ärztliche Untersuchung, oftmals ohne pathologische Befunde durchgeführt wurde.
Sehr oft ist die Ursache also nicht primär im Bereich des Ohres sondern vielmehr in
unterschiedlichen orofazialen Strukturen zu suchen. Eine Auswahl ist in Tab. [1 ] aufgelistet. Grundlage hierfür sind neurophysiologische Zusammenhänge, wie die gemeinsame
sensible Versorgung von Teilen des Ohres und der Kiefergelenke, bzw. der Kaumuskulatur.
Weiterhin werden die primären Afferenzen zentral in den gleichen Hirnstammarealen
verschaltet, was bei häufigen und intensiven nozizeptiven Reizen zur Chronifizierung
und Übertragungsschmerzen führen kann. Dies bedeutet, dass der Ort der Schmerzentstehung
und der Ort der Schmerzempfindung nicht mehr übereinstimmen, und demnach vom Patient
wie von Therapeuten fehlgedeutet werden können. Sehr häufig kann dies insbesondere
bei chronischen Myalgien wie beispielsweise myofaszialen Schmerzen der Kaumuskulatur
gesehen werden. Nach Travell und Simons [3 ], und auch nach eigenen Beobachtungen sind hier insbesondere der M. masseter pars
profunda, der M. pterygoideus medialis und lateralis zu nennen. Aber auch ein über
längere Zeit schmerzhafter M. sternocleidomastoideus und M. digastricus venter posterior
können periaurikuläre Beschwerden bewirken.
Tab. 1 Auswahl an akuten und chronischen, nicht otogenen Erkrankungen im orofazialen Bereich,
die Ohrenschmerzen bewirken können
akute, nicht otogene Erkrankungen
chronische, nicht otogene Erkrankungen
chronische Pulpitis
myofasziale Schmerzen der Kaumuskulatur
apikale Parodontitis
myofasziale Schmerzen der Nackenmuskulatur
Entzündungen im Bereich teil-/retinierter Zähne
Arthralgien des Kiefergelenks
schlecht sitzende Prothesen
atypische Gesichtsschmerzen/-odontalgien
Herpes Zoster
Glossopharyngeusneuralgie
Aphthen
Lymphadenitis
Eagle-Syndrom
2.2 Tinnitus
Ohrgeräusche werden, so sie keine eindeutig nachweisbare Ursache haben häufig mit
Erkrankungen im Kieferbereich in Verbindung gebracht. Gründe hierfür sind u. a. anatomische
Begebenheiten, wie eine gemeinsame Innervation der Kaumuskulatur und der Muskeln M.
tensor tympani, M. tensor veli palatini und M. levator veli palatini durch den N.
trigeminus. Einige Autoren schlussfolgerten daraus Zusammenhänge, dass eine verspannte
Kaumuskulatur infolgedessen Störungen wie Tinnitus und subjektiv reduziertes Hörvermögen
verursachen könne. Obwohl diese Vermutungen nicht bestätigt werden konnten, bekräftigt
eine neue Studie [4 ] die Beobachtung, dass Tinnitus-Patienten signifikant häufiger auch unter palpationsempfindlicher
Kaumuskulatur und Kiefergelenken sowie schmerzhafter Mundöffnung leiden als Kontrollpatienten.
Eine unmittelbare, kausale Beziehung ist dadurch jedoch nicht gegeben. Vielmehr kann
vor dem Hintergrund, dass zirka 3 % der Bevölkerung unter CMD leiden [1 ] und Tinnitus mit einer Prävalenz von 14 - 32 % in der Normalbevölkerung verbreitet
ist, eine häufige, zufällige Koinzidenz erwartet werden. Beide Erkrankungen scheinen
darüber hinaus vielfach im Zusammenhang mit körperlichen oder psychosozialen Belastungsphasen
zu entstehen, bzw. verstärkt zu werden. Somit könnte auch von der Hypothese ausgegangen
werden, dass eine gemeinsame Ursache wie zum Beispiel Stress unterschiedlicher Genese
zwei unterschiedliche Krankheitsbilder hervorruft, die jedoch nicht in einer direkten
Beziehung zueinander stehen. Während einerseits Studien existieren, die eine Verbesserung
des Tinnitus nach zahnärztlicher Therapie beschreiben [5 ]
[6 ]
[7 ]
[8 ] wird dies in einer anderen Arbeit bestritten [9 ]. Die Beziehung zwischen Tinnitus und CMD ist letztlich noch wenig erforscht und
bleibt vorerst kontrovers.
2.3 Sinusitiden
Die Ursachen schmerzhafter Erkrankungen der Kieferhöhle sind in aller Regel gut diagnostizierbar
und unschwer von CMD abzugrenzen. Jedoch erscheint erwähnenswert, dass chronische
Myalgien insbesondere des M. masseter pars superficialis, des M. temporalis und der
Mm. pterygoidei medialis et lateralis Übertragungsschmerzen in Areale bewirken können,
die der Patient auch als Kieferhöhlenentzündung beschreiben kann. Eine konsiliarisch
durchgeführte, zahnärztliche Funktionsanalyse kann hier bei der Diagnosefindung hilfreich
sein.
2.4 Eagle-Syndrom
Dieses Beschwerdebild, welches mit neuralgiformen Ohrenschmerzen, Halsschmerzen, Schluckbeschwerden,
Kopfschmerzen und Nackenschmerzen, insbesondere bei einseitigen Kopfbewegungen einhergeht,
beruht auf einem verlängerten Processus stylohyoideus und/oder einem verknöcherten
Ligamentum stylohyoideum (Abb. [2 ]). Eine klinische Palpationsempfindlichkeit und eine Röntgenaufnahme dieses Areals
können einen solchen Verdacht bestätigen. Differenzialdiagnostisch sind davon myogene
Beschwerden der posterioren akzessorischen Kaumuskulatur, wie dem M. digastricus venter
posterior oder der M. stylohyoideus aber auch des M. sternocleidomastoideus abzugrenzen.
2.5 Überweisung zum Zahnarzt
Die Notwendigkeit einer konsiliarischen Überweisung zum CMD-fachkundigen und funktionsanalytisch
tätigen Zahnarzt ist immer dann gegeben, wenn sich in der HNO-ärztlichen Untersuchung
keine pathologischen Befunde ergeben. Im Vordergrund steht hierbei, ob durch eine
Veränderung der Unterkieferlage eine Beeinflussung der HNO-Symptome möglich ist. Ist
dies der Fall, empfiehlt sich eine ausführliche klinische, gegebenenfalls auch weiterführende
Funktionsanalyse. Abb. [1 ] zeigt mögliche Indikationen für eine Überweisung zum Zahnarzt sowie schematisch
ein mögliches diagnostisches und therapeutisches Vorgehen bei entsprechenden Patienten
auf.
Abb. 1 Schema zum diagnostischen und therapeutischen Vorgehen bei Patienten mit Ohrenschmerzen.
Abb. 2 Eagle-Syndrom - verlängerter Processus stylohyoideus.
3 Diagnostik
3 Diagnostik
Die Diagnostik von CMD sollte sich, wie für alle anderen Bereiche einer präventionsorientierten
Zahnmedizin, in eine Basisdiagnostik und eine erweiterte Diagnostik gliedern [10 ]. Darüber hinaus kommen weiterführende diagnostische Verfahren zur Anwendung, wenn Symptome und Befunde einer CMD vorliegen und diese einer näheren
ursächlichen Abklärung bedürfen [11 ].
3.1 Basisdiagnostik: Funktioneller Kurzbefund als CMD-Screening
Grundsätzlich sollte bei jedem Patienten, der zahnärztlich oder ärztlich untersucht
und behandelt wird, neben der Anamnese und der extra- und intraoralen Untersuchung
aus medizinischen aber auch forensischen Gründen eine funktionelle Kurzuntersuchung
bzgl. einer eventuell bestehenden CMD durchgeführt werden. Dafür sollte eine orientierende
Untersuchung hinsichtlich einer Schmerzhaftigkeit der Muskulatur und der Kiefergelenke,
einer Limitation und Deviation bei Kieferöffnung sowie instabiler bzw. gestörter Okklusionsverhältnisse
erfolgen. Ergeben sich bei dieser Untersuchung pathologische Befunde können sie in
ihrem Schweregrad in Anlehnung an Jäger (Abb. [3 ]) [12 ] bewertet und eine erweiterte Diagnostik eingeleitet werden (siehe 2.2).
Abb. 3 Screening-Schema in Anlehnung an Jäger 1997, 1 kein Diagnose- und Therapie-Bedarf,
2 Diagnose-Bedarf, 3 Diagnose- und Therapie-Bedarf.
3.2 Erweiterte Diagnostik: Klinische Funktionsanalyse
Die klinische Funktionsdiagnostik dient bei Patienten mit Verdacht auf CMD der Erhebung
und Dokumentation von Befunden an den Zähnen, der Muskulatur, den Kiefergelenken und
angrenzenden Strukturen [13 ]
[14 ]
[15 ]. Um HNO-Ärzten einen Überblick zu geben, wie die erweiterte zahnärztliche Diagnostik
abläuft, wird diese nachfolgend in ihren wesentlichen Elementen beschrieben. Die eigentliche
Durchführung der Untersuchung ist dem Zahnarzt in gewissem Maße freigestellt. Es existieren
aber verschiedene, in Nuancen voneinander abweichende Vorschläge [16 ]
[18 ]
[19 ]. Als Orientierung dafür mag auch der Untersuchungsbogen der Arbeitsgemeinschaft
für Funktionsdiagnostik und Therapie in der DGZMK (www.dgzmk.de) gelten, der 1985
erstmals publiziert und jüngst von Reiber und Ottl [17 ] aktualisiert wurde. Notwendig ist in jedem Fall die Dokumentation der Befunde in
einem geeigneten Formblatt [18 ]
[19 ].
3.2.1 Anamnese
Zu Beginn der Anamnese sollten Fragen nach genauer Lokalisation, Beginn und Auslöser
aller Hauptbeschwerden im Mittelpunkt stehen (wo, wie, wann, wie oft, warum). Hierzu
gehören Fragen nach der Schmerzqualität, der Häufigkeit und Dauer der Problematik
und eventuell bestehender Begleiterscheinungen. Weiterhin sollte nach Schwankungen
oder Spontanremissionen gefragt werden, wozu auch Fragen nach verstärkenden und lindernden
Faktoren gehören. Um bei bestehenden Schmerzen einen Eindruck von der Schmerzintensität
zu bekommen, unter der ein Patient leidet, empfiehlt es sich, Schmerzskalen (z. B.
Visuelle Analog Skala, VAS) zu verwenden, mit der der Patient seine aktuelle und durchschnittliche
Schmerzintensität beschreiben kann. Einen wichtigen Teil der Anamnese stellt die Frage
nach allgemeinmedizinischen Erkrankungen dar. Insbesondere Erkrankungen in angrenzenden
Bereichen wie Sinus- und Ohrerkrankungen, aber auch Erkrankungen des rheumatischen
Formenkreises und orthopädische Probleme müssen aufgrund ihrer offensichtlichen Einflussmöglichkeiten
auf craniomandibuläre Dysfunktionen erfragt werden. Jedoch müssen auch Erkrankungen
des Herz-Kreislauf-Systems, des Magen-Darm-Systems, Allergien sowie Störungen der
Leber und Nierenfunktion bekannt sein. Eingenommene Medikamente müssen beachtet werden,
da diese eine heute wieder wichtiger werdende medikamentöse Therapie zum Teil erheblich
beeinflussen können. Traumata, Tumoren im Kopf-, Kiefer-, Gesichtsbereich und Nackenverletzungen
können ursächliche Faktoren für CMD sein und müssen erfragt werden. Die Anamnese eines
Patienten mit Verdacht auf CMD beinhaltet selbstverständlich auch Fragen nach Veränderungen
des Zahnersatzes und der Okklusion, die im zeitlichen Zusammenhang mit der Entstehung
der Hauptbeschwerden stehen, sowie nach Parafunktionen oder anderen oralen Habits.
Während die oben angeführten Punkte im Wesentlichen selbstverständlich sind, wird
die psychosoziale Anamnese meist vernachlässigt oder sogar gänzlich außer Acht gelassen.
Heute bestehen allerdings kaum mehr Zweifel, dass Depression, Ängste und andere psychische
Faktoren, aber auch Probleme am Arbeitsplatz, in der Familie, finanzielle Sorgen,
laufende Gerichtsverfahren etc. einen erheblichen Einfluss sowohl auf die Entstehung
als auch für die Therapie von CMD haben.
3.2.2 Schmerzlokalisation
Zeichnungen zur Schmerzlokalisation, wie Kopf- und Ganzkörperschemata, können eine
wertvolle diagnostische Hilfe sein, um Probleme am Kopf und in anderen Körperbereichen,
wie etwa Projektions- und Übertragungsschmerzen, multiple Arthritiden, Probleme in
der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule und des Beckens, darzustellen. Zeichnungen
der Kopf- und Halsregion gehören daher seit Anfang der 60er-Jahre regelmäßig zur erweiterten
Anamnese im Rahmen der klinischen Funktionsanalyse (Abb. [4 ]).
Abb. 4 „Krogh-Poulsen”-Köpfe zur Einzeichnung der Schmerzlokalisation, der Schmerzausbreitung
und der Druckempfindlichkeit.
3.2.3 Palpation
Vor der eigentlichen Untersuchung sollten Asymmetrien, die Haltung des Patienten,
der Gesichtsausdruck, Schwellungen u. Ä. inspiziert werden. Der obligatorische Palpationsbefund der eigentlichen (Abb. [5 ]) sowie der akzessorischen Kaumuskulatur (Abb. [6 ]) und der Kiefergelenke (Abb. [7 ]) ist ein wesentlicher Grundstein für die Beurteilung des funktionellen Zustandes
craniomandibulärer Strukturen. Der Verspannungsgrad und die Schmerzhaftigkeit geben
Hinweise auf eine CMD-Symptomatik. Die Palpation der Muskulatur stellt eine schwierige
Untersuchung dar, die vom Zahnarzt wie vom Patienten eine gute Kooperation wie auch
in doppelter Hinsicht ein „sich Einfühlen” verlangt - Eigenschaften, die vom (Zahn-)
Arzt regelmäßig verlangt werden, die aber häufig vernachlässigt werden. Auch Kiefergelenkgeräusche,
wie Knacken oder Reiben, können palpiert oder auskultiert werden. Es sei jedoch schon
an dieser Stelle vorweggenommen, dass ein Knacken in einem oder beiden Kiefergelenken
zwar ein häufiger Befund in der Gesamtbevölkerung ist aber für sich genommen, wenn
keine weiteren zahnärztlichen Maßnahmen, wie eine kieferorthopädische Behandlung oder
prothetische Rekonstruktionen folgen und wenn das psychosoziale Befinden nicht eingeschränkt
ist, keine Indikation für eine Therapie darstellt. Neben dem obligatorischen Zahnbefund
sollte auch eine parodontale Kurzuntersuchung erfolgen (PAR-Kurzbefund oder Periodontal
Screening Index [20 ]). Unabdingbar für eine Differenzialdiagnose ist zudem ein Befund der Weichgewebe,
um beispielsweise Schleimhautveränderungen und Tumoren jener Gewebe als Schmerzursache
auszuschließen.
Abb. 5
Abb. 6
Abb. 5 - 7 Palpation des M. masseters, der Kiefergelenke und des Mundbodens.
3.2.4 Okklusionsdiagnostik
Auch wenn der Okklusion in der Entstehung und Aufrechterhaltung von CMD heute nicht
mehr der herausragende Stellenwert beigemessen wird wie noch vor einigen Jahren, so
besitzt der Okklusionsbefund hinsichtlich der dentalen, orthopädischen Stabilität
in der klinischen Untersuchung eine zentrale Rolle [21 ]
[22 ]. Bestimmten Malokklusionen scheint eine besondere Bedeutung hinsichtlich CMD zuzukommen.
Hierzu gehören ein frontal offener Biss (Abb. [8 ]), ein Overjet größer als 6 mm (Abb. [9 ]), aber auch eine Übereinstimmung von retraler und habitueller Kontaktposition, da
sich hierbei das Gelenk in einer Grenzposition befindet. Das Fehlen von mehr als vier
Zähnen im Seitenzahngebiet (posteriorer Stützzonenverlust) scheint ebenfalls zu CMD
führen zu können [23 ]
[24 ]. Durch eine klinische Okklusionsanalyse können zum Beispiel vorzeitige Kontakte
erkannt werden, die Ursache für ein dysfunktionelles Geschehen sein können. Weiterhin
sollten Veränderungen an den Zähnen und dem Parodontium, wie exzessive Schliffflächen
oder Rezessionen, die mit parafunktionellen Bewegungen und Belastungen in Verbindung
gebracht werden, erhoben werden. Dadurch ist es oft möglich, Kofaktoren einer CMD
zu erkennen und entsprechende therapeutische Schritte einzuleiten. Wichtig ist allerdings
an dieser Stelle zu erwähnen, dass die Autoren bei den vorgenannten Befunden lediglich
ein gehäuftes gemeinsames Vorkommen mit CMD fanden aber keine kausale Beziehung herstellen
konnten.
Abb. 8 Frontal offener Biss.
Abb. 9 Patientin mit einem ausgeprägten horizontalen Überbiss.
3.2.5 Neurologische Kurzuntersuchung
Definitionsgemäß zählen nur Erkrankungen der Kaumuskulatur, der Kiefergelenke und
angrenzender Strukturen zu CMD. Einige Patienten berichten jedoch auch hierbei über
Symptome wie Taubheitsgefühl oder Allodynie. Um einen Anhalt zu bekommen, ob ein neurologisches
Geschehen an der Symptomatik beteiligt sein könnte, sollte deswegen vom Zahnarzt eine
neurologische Kurzuntersuchung der Hirnnerven durchgeführt werden (Abb. [10 ]). Wenn bei diesen kurzen Untersuchungen Auffälligkeiten erkannt werden, ist es oft
notwendig, den Patienten vor einer weiteren zahnärztlichen Behandlung einem Neurologen
und/oder einem HNO-Arzt zur Ausschlussdiagnostik vorzustellen.
Abb. 10 Palpation der Nervenaustrittspunkte des 2. Trigeminusastes.
3.2.6 Orthopädische Kurzuntersuchung
Es besteht heute kein Zweifel mehr, dass Wechselbeziehungen zwischen dem HWS-Bereich
und dem orofazialen System bestehen. Deswegen und aufgrund der großen Zahl von Patienten,
die gleichzeitig Probleme im HWS-Bereich und im orofazialen System aufweisen, sollte
ähnlich der neurologischen Kurzuntersuchung auch ein orthopädisches Screening der
HWS-, Nacken- und Schulterregion durchgeführt werden [11 ]
[25 ]. Dieses sollte mindestens eine Überprüfung der Kopfbeweglichkeit (Abb. [11 ]) und damit einhergehender Schmerzen sowie die Palpationsempfindlichkeit der Nackenmuskulatur
(Abb. [12 ], [13 ]) umfassen. Ergeben sich hier Auffälligkeiten, sollte der Patient einer weiterführenden
Untersuchung durch einen Orthopäden und/oder einem Physiotherapeuten zugeführt werden.
Abb. 11 - 13 Überprüfen der Beweglichkeit der Kopfgelenke und der Halswirbelsäule; Palpation des
M. sternocleidomastoideus.
3.3 Weiterführende Diagnostik
Zu den weiterführenden diagnostischen Maßnahmen in der Funktionsdiagnostik zählen:
psychometrische Tests (z. B. SCL-90R, Brief Symptom Inventory BSI [26 ]
[27 ]), die Erfassung von Intensität und Periodizität von Beschwerden und Schmerzen, die
klinische Strukturanalyse, instrumentelle Analyseverfahren (Okklusionsanalyse und
Bewegungsanalyse) und bildgebende Verfahren (MRT, seltener CT, Sonographien und Szintigraphien).
3.3.1 Manualmedizinische Strukturanalyse
Die manualmedizinische („manuelle”) Strukturanalyse [28 ] beruht auf anerkannten orthopädischen Verfahren, der manuellen und isometrischen
Testung von artikulären und myogenen Gewebsstrukturen hinsichtlich ihrer Belastbarkeit,
Bewegungsmöglichkeit und Empfindlichkeit. Mit diesen Tests (auch als „Provokationstest”
oder als „manuelle Tests” bezeichnet) ist es möglich, pathologische Veränderungen
in den Gelenken oder der Muskulatur zu erkennen (Abb. [14 ]).
Abb. 14 Manueller Provokationstest des linken Kiefergelenks auf Traktion.
3.3.2 Instrumentelle Diagnostik
Die instrumentelle Diagnostik gliedert sich in die Verfahren der instrumentellen Okklusionsdiagnostik,
der instrumentellen Aufzeichnung der Kondylenposition und der Aufzeichnung der Kiefergelenkbewegung
[25 ]. Diese Verfahren sind dann anzuwenden, wenn aus der klinischen Diagnostik keine
eindeutige Diagnose erhalten wurde bzw. vorliegende klinische Befunde genauer verifiziert
werden sollen. Die Okklusionsdiagnostik in einem Artikulator dient der Erkennung von
Störungen in statischer und dynamischer Okklusion. Eine eindeutige Bestimmung des
okklusalen Zustandes ist jedoch nur dann möglich, wenn keine Gelenkpathologie vorliegt.
Eine instrumentelle Bewegungsaufzeichnung (Axiographie, Pantographie) mit mechanischen
oder elektronischen Geräten ist dann indiziert, wenn klinisch vorliegende Bewegungsstörungen
nicht eindeutig einer Gelenkpathologie (Diskusverlagerung, Strukturveränderung) zugeordnet
werden können. Aus den Aufzeichnungsspuren kann indirekt auf zugrunde liegende Krankheitsbilder
geschlossen werden. Darüber hinaus dient die instrumentelle Bewegungsaufzeichnung
dazu, metrische Daten für die Justierung eines Artikulators (Kausimulators) zu erhalten.
3.3.3 Bildgebende Diagnostik
Die bildgebende Diagnostik hat sich in den letzten 20 Jahren grundsätzlich verändert.
Stand vor dieser Zeit nur die Diagnostik mittels schräglateralem Röntgenbild (SLR)
für die Kiefergelenkdarstellung zur Verfügung, wurde diese durch die Entwicklung der
Computertomographie (CT) (Abb. [15 ]) und Kernspintomographie (MRT) (Abb. [16 ]) weitgehend verdrängt. Auch wenn diese Verfahren teurer sind als ein SLR, so geben
sie doch mehr und detailliertere Informationen über pathologische Veränderungen an
den Kiefergelenken [29 ]. Das CT ist indiziert, wenn aus der klinischen Analyse der Verdacht auf eine strukturelle
Veränderung an den Gelenkflächen besteht. Auch ist eine Stellungsdiagnostik mit dem
in axialer Schichtung angefertigten CT möglich. Darüber hinaus können weitere knöcherne
und raumfordernde Veränderungen wie z. B. Tumoren erkannt werden.
Abb. 15 Computertomogramm bei beidseitiger Osteoarthrose nach Kollumfraktur.
Abb. 16 Kernspintomogramm eines Kiefergelenkes: anteriore Diskusverlagerung ohne Reposition
und strukturelle Veränderung im posterioren Bereich des Diskus.
Das MRT [29 ] kommt vor allem zur Anwendung, wenn nach der erweiterten Diagnostik der Verdacht
auf eine Diskusverlagerung besteht, die aber in Art und Stellung klinisch nicht eindeutig
verifiziert werden kann oder der Verdacht auf einen raumfordernden Prozess besteht.
Die Aufnahmen sollten bei geschlossenen Zahnreihen und bei weit geöffnetem Kiefer
in T1 -Wichtung angefertigt werden. Auf diesen Aufnahmen ist in verschiedenen Schichtebenen
die Lage des Discus articularis zum Kondylus meist eindeutig zu erkennen. Ergänzend
können mit einem MRT in T2 -Wichtung Entzündungen in den verschiedenen Arealen des Kiefergelenks dargestellt
werden.
3.4 Auswertung: Diagnoseschema
Grundsätzlich sollten alle erhobenen anamnestischen Informationen und Befunde in eine
eindeutige Diagnose münden. Historisch sind hierfür verschiedene zusammenfassende
Diagnosen eingeführt worden, u. a. orofaziale Funktionsstörung, orofaziales Schmerzsyndrom,
myofasziales Schmerzsyndrom, mandibuläres Dysfunktionssyndrom [15 ]
[30 ]. In Deutschland besondere Verbreitung gefunden hat der von Schulte angegebene Begriff
„Myoarthropathie” [31 ]. Schulte selbst erkannte allerdings schon wenige Jahre später, dass diese Bezeichnung
der komplexen Pathogenese des Krankheitsbildes nicht gerecht wurde und erweiterte
den Begriff zur „Myo-Arthro-Okkluso-Neuro-Psychopathie” [32 ]. Als Weiterentwicklung basierend auf dem Diagnoseschema von Schulte (1980) und Freesmeyer
(1993) [25 ] stellte eine Gruppe von Wissenschaftlern deutschsprachiger Universitäten 2001 ein
neues Diagnoseschema vor, was auf einer Einteilung in Initial- bzw. Haupt-, Neben-
und Differenzialdiagnosen beruht [33 ].
Die Diagnose(n) (Tab. [2 ]) ergibt oder ergeben sich aus den anamnestischen Informationen, der Basisdiagnostik
und der erweiterten Diagnostik, die im Rahmen der klinischen Funktionsanalyse erhoben
wurden.
Bei aktuell erweitertem Untersuchungsumfang der zahnärztlichen klinischen Funktionsanalyse
erlaubt diese auch Rückschlüsse auf die Nebendiagnosen (Tab. [3 ]), welche die diagnostische Unterteilung der Globaldiagnose CMD ergänzen.
Differenzialdiagnosen (Tab. [3 ]) ergeben sich auch aus der zahnärztlichen erweiterten und weiterführenden Diagnostik,
bedürfen aber meist einer interdisziplinären Konsultation und Therapie und schließen
bei ihrer Bestätigung in der Regel die Initialdiagnose aus.
Tab. 2 Gliederung der Diagnosen in drei Hauptgruppen und deren typische Ausprägungen
Initialdiagnosen
Okklusopathie
Veränderungen an Zähnen und Parodontien, wie Attritionen, Abrasionen, keilförmige
Defekte, nichtentzündliche Gingivaretraktionen, Zahnlockerungen und okklusale Traumata,
die auf eine gestörte statische und/oder gestörte dynamische Okklusion und/oder die
(an das Vorhandensein von Okklusion gebundenen) Parafunktionen Pressen und Knirschen
zurückzuführen sind.
Myopathie
Veränderungen an der Kaumuskulatur, wie Verspannungen, Druckempfindlichkeit oder Schmerzen
der Muskelgruppen (Elevatoren, Depressoren, Protraktoren oder Retraktoren), die auf
Fehlfunktion zurückzuführen sind.
Arthropathie
Veränderungen am oder an den Kiefergelenk/en, wie Verlagerungen gegenüber der zentrischen
Position in kranialer Richtung (Kiefergelenkkompression), in kaudaler Richtung (Kiefergelenkdistraktion),
in retraler Richtung (Retrallage), ventraler Richtung (Doppelbiss; Sunday bite), Strukturveränderungen
am Diskus (Diskusperforation) am Kondylus (Osteoarthrose aktiv oder inaktiv), die
auf Fehlfunktionen zurückzuführen sind. Darüber hinaus Diskopathien, wie anterior
mediale Verlagerungen mit und ohne Reposition in der Position, die der Kondylus bei
habitueller Okklusion einnimmt (anteriore Diskusverlagerung) oder die Verlagerung
des Diskus bei exkursiven Bewegungen nach posterior (posteriore Diskusverlagerung).
Tab. 3 Neben- und Differenzialdiagnosen
Craniopathie
Veränderungen in den skeletalen und muskulären Strukturen des kranialen und vertebralen
Systems, die auf Fehlfunktionen, Fehlhaltungen und Fehlsteuerungen zurückzuführen
sind.
Fehlhaltungen
Veränderungen in der Körperhaltung aus lateraler (Kopf, Hals, Lende, Ferse) und frontaler
(Kopf, Schulter, Becken) Ansicht.
Fehlfunktionen (Wirbelsäule)
Veränderungen in der Funktion der Wirbelsäule (HWS, BWS, LWS, ISG), die zur Bewegungseinschränkung
(Blockierungen) führen.
Psychosomatische Faktoren
Veränderungen im Verhalten, die auf Überlastungen (Stress) physischer oder psychischer
Art zurückzuführen sind. Darüber hinaus zentrale psychische Veränderungen, wie Depressionen,
Münchhausen-S., Borderline-S., Koryphäenkiller-S., Psychosen, die mit akuten und chronischen
Schmerzen verbunden sind.
Neuropathien
Veränderungen im zentralen und peripheren Nervensystem, die zu typischen Schmerzreaktionen
wie migränoiden oder neuralgiformen Schmerzen führen. Dabei kann in episodische, anfallsartige
Neuropathien (Bsp: Trigeminusneuralgie) und kontinuierliche Neuropathien (Bsp: chronische,
posttraumatische neuropathische Schmerzen, postherpetische Neuralgie) unterschieden
werden.
Alternativ hierzu sind internationale Klassifikationen zu nennen, wie beispielsweise
die International Classification of Diseases (ICD-10) [34 ] oder die in Zusammenarbeit mit der American Academy of Orofacial Pain entstandenen
Untergruppen 11.7 und 11.8 der Klassifikation der International Headache Society (IHS)
[35 ]
[36 ].
4 Therapie
4 Therapie
Wenn CMD-Patienten mit Beteiligung von Faktoren aus anderen Fachgebieten aus rein
zahnärztlicher Sicht behandelt werden und allgemeinmedizinisch Aspekte nicht beachtet
werden, kann man davon ausgehen, dass Patienten nicht erfolgreich behandelt werden.
Neben Patienten, bei denen die Funktionseinbuße im Vordergrund steht, gilt dies insbesondere
für Patienten mit chronischen Schmerzen als Spätfolge einer zuvor nicht oder nicht
erfolgreich behandelten CMD. Deshalb ist die interdisziplinäre Kommunikation Grundlage
für einen Behandlungserfolg. Die Therapie von CMD gliedert sich in folgende Schritte,
die sich immer auf die zugrundeliegende Diagnose beziehen: Aufklärung des Patienten,
Selbstbeobachtung, Entspannungstherapie, Verhaltenstherapie, Physiotherapie, medikamentöse
Therapie, therapeutische Lokalanästhesien, Schienentherapie, Stabilisierungstherapie
[37 ], die nachfolgend in ihren Grundzügen kurz aufgezeigt werden sollen.
4.1 Aufklärung
Der Patient ist immer über mögliche Ursachen und Zusammenhänge in der Entstehung einer
CMD aufzuklären, damit er ein Verständnis für seine Symptome, Zusammenhänge bzw. Erkrankung
entwickelt und letztendlich, z. B. über Selbstbeobachtung, selbst Einfluss nehmen
kann. Durch die Aufklärung können dem Patienten auch Ängste bezüglich der Erkrankung
oder auch der Prognose genommen werden, was häufig bereits einen positiven Einfluss
auf das Beschwerdebild hat.
4.2 Selbstbeobachtung
Die Selbstbeobachtung [31 ], „was mache ich mit den Zähnen”, ist Patienten zu empfehlen, die unter Bruxomanie
(Pressen und Knirschen am Tage) und z. B. an einer Masseterhypertrophie leiden. Durch
Anbringen von Markern („Rote-Punkt-Technik”) am Arbeitsplatz, am Lenkrad oder anderen
Orten größerer Anspannung oder Konzentration soll der Patient im ersten Schritt erkennen,
ob Parafunktionen vorliegen, und wenn ja, wann diese passieren (Abb. [17 ]). Im zweiten Schritt soll er dann erinnert werden, „was mache ich mit den Zähnen”,
um aktiv durch Entspannung der Muskulatur die Fehlfunktion zu beeinflussen.
Abb. 17 Roter Punkt angebracht auf einer Uhr zur Verbesserung der Wahrnehmung von Parafunktionen.
4.3 Entspannungstechniken
CMD werden häufig auch auf eine hohe Aktivität der Muskulatur durch Pressen und Knirschen
zurückgeführt, die durch physischen und psychischen Stress noch verstärkt werden [38 ]
[39 ]. So sind alle Therapiemöglichkeiten wie autogenes Training, progressive Muskelrelaxation,
Hypnose u. a., die zu einer muskulären Entspannung beitragen, anwendbar und dem Patienten
zu empfehlen, da im Bereich des Verhaltens nur mit diesen Verfahren auch nächtlicher
Bruxismus beeinflussbar ist.
4.4 Stressmanagement, Verhaltenstherapie
Reichen die oben beschriebenen Entspannungsverfahren nicht aus, sind mitunter tiefer
greifende Verhaltensänderungen beim jeweiligen Patienten erforderlich. Hier ist in
jedem Fall die konsiliarische Einbeziehung erfahrener Psychologen, Psychiater oder
Ärzte für psychosomatische Medizin erforderlich [10 ].
4.5 Physiotherapie
Grundsätzlich sind funktionelle Symptome und Erkrankungen der Kaumuskulatur und der
Kiefergelenke in gleicher Weise durch physikalische und physiotherapeutische Maßnahmen
(Kälte, Wärme, Massagen und Bewegungsübungen) wie andere Muskeln und Gelenke des Körpers
beeinflussbar [28 ]
[40 ]. Sie können deshalb in Abhängigkeit von der Diagnose vom Zahnarzt verordnet werden.
Dabei sollte die Therapie von einem in der Behandlung von CMD erfahrenen und speziell
weitergebildeten Physiotherapeuten vorgenommen werden (Abb. [18 ]). Einheitliche Weiterbildungsangebote bzw. Weiterbildungsgänge in diesem Bereich
sind bisher allerdings nicht definiert.
Abb. 18 Physiotherapeutische Behandlung.
4.6 Medikamentöse Therapie
Die Möglichkeiten der medikamentösen Therapie wurden in der Vergangenheit oft nur
wenig genutzt. Sie können in den meisten Fällen nur Teil eines Therapie-Gesamtkonzeptes
sein. Indikationsgebiete sind Entzündungen, Arthralgien, Myalgien, chronische Schmerzen
und damit sehr häufig verbundene Schlafstörungen. Nach Wirkprinzip unterschieden,
können im Wesentlichen Analgetika, nonsteroidale Antirheumatika, Muskelrelaxantia,
trizyklische Antidepressiva, Kortikoide sowie schlaffördernde Medikamente und Benzodiazepine
zum Einsatz kommen. Hierbei ist zu beachten, dass der Patient schon aus forensischen
Gründen über unerwünschte Wirkungen informiert werden muss, aber auch, um das Medikament
bei leichteren, unerwünschten Wirkungen wie Müdigkeit nicht sofort abzusetzen. Des
Weiteren sollte das Medikament gezielt nach Erkrankungssymptomen ausgewählt werden
[41 ] und nicht nach dem Prinzip „one fits all”. Bei vielen Medikamenten, insbesondere
Analgetika, ist darüber hinaus oftmals eine zeitregulierte Einnahme wirkungsvoller
als die Einnahme nach Bedarf.
4.7 Schienentherapie
Okklusionsschienen sind aus zahnärztlicher Sicht das am häufigsten eingesetzte Therapiemittel,
womit Symptome einer CMD je nach Zusammensetzung der untersuchten Patienten in ca.
60 bis 80 % positiv beeinflusst werden [25 ]
[42 ]
[43 ]
[44 ]
[45 ]
[46 ]
[47 ]. Aus klinischer Sicht hat sich dabei eine Einteilung in Reflexschienen, Äquilibrierungsschienen
und Positionierungsschienen bewährt. Sie orientiert sich an den bestehenden Symptomen,
die betroffene Gewebsstrukturen (Zähne, Muskulatur, Kiefergelenk) berücksichtigt und
den Schweregrad der Erkrankung (akut/chronisch) mit einbezieht.
Reflexschienen (Interzeptor, Abb. [19 ], [32 ], Miniplastschienen, anteriores Plateau) sind Okklusionsschienen, die den habituellen
Zahnkontakt aufheben und damit Knirschen und Pressen verhindern und dadurch bestehende
Zahn- und Muskelbeschwerden positiv beeinflussen. Reflexschienen sind indiziert bei
akuten Beschwerden, die auf Überlastungen der beteiligten Gewebe zurückzuführen sind.
Reflexschienen sind Kurzzeitschienen, da sie über die Aufhebung des Zahnkontaktes
(therapeutischer Vorkontakt) selbst wieder Parafunktionen auslösen können. Deshalb
ist ihre Tragezeit auf 8 - 14 Tage zu begrenzen.
Abb. 19 Interzeptor nach Schulte.
Äquilibrierungsschienen (Michigan-Schiene [48 ], Stabilisierungsschiene, Abb. [20 ], Zentrikschiene) sind Schienen, die eine ideale okklusale Beziehung herstellen,
d. h. allseitiger, gleichmäßiger und gleichzeitiger Zahnkontakt in physiologischer
Kondylenposition (Zentrik) in statischer Okklusion und eine Frontzahnführung mit Disklusion
im Seitenzahngebiet in dynamischer Okklusion. Durch diese ideale Beziehung sollen
Okklusionsstörungen, die zur Parafunktion geführt haben, ausgeschaltet werden, die
Belastung für die beteiligten Gewebe minimiert werden und Stellungs- und Belastungsänderungen
in den Kiefergelenken ausgeglichen werden. Äquilibrierungsschienen sind Kurzzeit-
oder auch Langzeitschienen, sie können bei akuten und chronischen Beschwerden auch
bei psychischen und physischen Überlastungsreaktionen eingesetzt werden. Je nach Ausgangssituation
ist die Änderung der Kieferrelation durch diesen Schienentyp, auch nach längerer Tragezeit,
gering. Die Äquilibrierungsschiene ist die am häufigsten zur Anwendung kommende Okklusionsschiene
in der funktionellen Therapie.
Abb. 20 Äquilibrierte Oberkiefer-Stabilisierungsschiene.
Positionierungschienen (Repositionierungsschiene, Abb. [21 ], Dekompressionsschiene) sind Schienen, die zur Therapie von Kiefergelenkserkrankungen,
wie einer anterior medialen Diskusverlagerung mit und ohne Reposition, Kiefergelenkkompression,
Retralverlagerungen und Osteoarthrose eingesetzt werden [25 ]
[49 ]. Das Kiefergelenk oder beide Kiefergelenke wird bzw. werden durch die Schiene in
einer therapeutischen Position eingestellt, um eine Heilung zu unterstützen und eine
symptom- und beschwerdefreie Gelenkbeziehung zu erhalten. Positionierungsschienen
können als Kurz- oder Langzeittherapeutikum eingesetzt werden. Im Falle einer Kurzzeittherapie
(bis zu 8 Wochen) wird die Schiene getragen bis eine deutliche Symptomlinderung eintritt.
Sie wird danach in eine Äquilibrierungsschiene umgewandelt. Im Falle einer Langzeittherapie
wird die Schiene getragen bis sich stabile Kiefergelenksfunktionen eingestellt haben.
Sie sollte täglich 24 Stunden getragen werden was über mehrere Monate erforderlich
sein kann. Speziell nach einer Langzeit-Positionierungstherapie ist immer eine Rekonstruktion
der okklusalen Kontaktbeziehung, sei es durch kieferorthopädische, prothetische oder
kieferchirurgische Maßnahmen notwendig. Aus diesem Grunde muss die Indikation und
Durchführung einer solchen Therapie besonders sorgfältig geplant und mit dem Patienten
detailliert besprochen werden. Die Positionierungsschiene ist in der Kiefergelenktherapie
allerdings oft das einzige Mittel, intrakapsuläre Verlagerungen auszugleichen und
zu stabilisieren und somit die zugrunde liegenden pathologischen Veränderungen zu
behandeln. Die Langzeitergebnisse hinsichtlich einer Behandlung von Schmerzen sind
gut. Hingegen wird die Prognose für eine dauerhafte Beseitigung eines Gelenkknackens
aufgrund einer anterioren Diskusverlagerung kontrovers beurteilt.
Abb. 21 Positionierungsschiene.
4.8 Okklusale Therapie
Als definitive funktionstherapeutische Maßnahmen werden das Einschleifen der Okklusion
und die restaurative Versorgung zur Wiederherstellung harmonischer Zahnkontaktbeziehung
angesehen [42 ]
[50 ]. Diese Maßnahmen sollten aber erst dann durchgeführt werden, wenn nach entsprechender
Vorbehandlung stabile Verhältnisse, z. B. mit einer Äquilibrierungsschiene, hergestellt
wurden. Die okklusale Korrektur (Einschleifen) natürlicher Zähne sollte nur dann vorgenommen
werden, wenn Störungen sowohl klinisch als auch in der instrumentellen Okklusionsdiagnostik
eindeutig verifiziert wurden. Das Einschleifen sollte schrittweise mit Sorgfalt durchgeführt
werden und sich bei natürlichen Zähnen auf den Schmelz beschränken. Auch ist zu beachten,
dass die Vertikaldimension durch die okklusale Adjustierung nicht zu stark abgesenkt
wird. Ziel ist es, eine stabile Kontaktbeziehung in statischer Okklusion herzustellen.
In dynamischer Okklusion sollte eine Front-Eckzahn-geschützte Okklusion oder Gruppenführung
angestrebt werden. Restaurative Maßnahmen werden immer dann nach funktioneller Vorbehandlung
notwendig, wenn Zähne fehlen, die habituelle Okklusion und/oder die Vertikaldimension
verloren gegangen sind und wenn bestehende Störungen in statischer Okklusion nicht
subtraktiv, also durch Einschleifmaßnahmen auszugleichen sind (Abb. [22 ]
[23 ]
[24 ]
[25 ]) [25 ]. Oft ist die Indikation erst nach Auswertung der individuellen Situation über eine
instrumentelle Okklusionsanalyse zu stellen. Ziel ist, wie beim Einschleifen, eine
stabile Lagebeziehung zwischen Ober- und Unterkiefer in zentrischer Kondylenposition
herzustellen. Es hat sich dabei klinisch gezeigt, dass es bei umfangreichen Versorgungen
sinnvoll ist, die Rekonstruktionen 4 bis 6 Wochen Probe tragen zu lassen, um bei möglichen
Lageverschiebungen des Unterkiefers zum Oberkiefer eine Neubeurteilung mittels einer
erneuten Übertragung der neuen, zuvor probeweise getragenen Restaurationen in einen
Kausimulator („Remontage”) durchführen zu können. Zu berücksichtigen ist, dass die
Durchführung derartig restaurativ-funktionstherapeutischer Maßnahmen weit über den
Schwierigkeitsgrad und Aufwand für „normale” restaurative Behandlungen hinausgeht.
Grundsätzlich sollte die Restauration regelmäßig kontrolliert werden und zudem nach
Eingliederung der Restaurationen zu deren Schutz besonders bei weitergehenden Parafunktionen
eine Äquilibrierungsschiene als Langzeitschiene eingegliedert werden.
Abb. 22 Patientin mit Symptomen einer craniomandibulären Dysfunktion und einer Malokklusion.
Abb. 23 Äquilibrierte Oberkiefer-Stabilisierungsschiene.
Abb. 24 Patientin während der kieferorthopädischen Behandlung.
Abb. 25 Prothetische Neuversorgung und Wiederherstellung der Okklusion.
5 Schlussfolgerung
5 Schlussfolgerung
Abschließend kann gesagt werden, dass craniomandibuläre Dysfunktionen eine Gruppe
von Erkrankungen darstellen, die oft vorübergehend und selbst limitierend sind und
dabei meist keine gravierenden Auswirkungen im Hinblick auf Funktionseinschränkungen
hinterlassen. Dies zeigt sich auch in epidemiologischen Untersuchungen, die eine Häufung
der Erkrankung bei Patienten zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr ermittelten. Danach
scheint die Häufigkeit stark zurückzugehen. Vielleicht treten die Probleme durch schwerwiegendere
Erkrankungen in den Hintergrund oder die beeinflussenden, uns heute noch vielfach
unbekannten Faktoren nehmen ab. In jedem Fall sollte dieser Umstand dazu leiten, konservative
und reversible Therapieformen, die der großen Mehrheit der Patienten innerhalb kurzer
Zeit und auch für lange Zeit helfen, invasiveren und irreversiblen Therapien (Chirurgie,
umfangreiche Rekonstruktionen etc.) vorzuziehen. Je früher eine adäquate Therapie
beginnt, desto größer sind die Chancen auf einen raschen und dauerhaften Behandlungserfolg
und desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit der Entstehung therapieresistenter,
chronischer Schmerzen.