Cannabis ist seit gut einem Jahrzehnt die Substanz, die in Deutschland die mitunter
emotionalsten drogenpolitischen Diskussionen und Kontroversen auslöst. Mit der Lübecker
Vorlage zum „Recht auf Rausch” und dem darauf folgenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts
wurde 1994 eine Überprüfung und gegebenenfalls Neubewertung bislang als gesichert
geltender Wissensbestände zu Cannabis angeschoben. Dies geschah mit der Hoffnung,
einen gewinnbringenden Diskurs auf einer sachorientierten Basis zu fördern.
Trotz erhöhten Forschungsaufkommens zum Konsum von Cannabis seit Mitte der neunziger
Jahre dominieren jedoch ideologiegeleitete statt sachorientierte Argumente den gesundheitspolitischen
und teilweise auch den wissenschaftlichen Diskurs. Seit Beginn dieses Jahrtausends
wird gar seitens der politischen Vertreterinnen und Vertreter eine neue Risikodebatte
gefordert und geführt, wonach Cannabiskonsum gar nicht so ungefährlich sei, wie dies
bislang angenommen wurde, sondern einer differenzierten Neueinschätzung der Gefahren,
die mit dem Konsum von Cannabis einhergehen, bedürfe. Ungeachtet der Expertisen, die
in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre national und international erstellt wurden
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[4], wurde dazu übergegangen, einzelne Befunde hochzustilisieren und somit die Risikoseite
des Konsums zu akzentuieren.
Unterschiedlich breit angelegte Expertisen und Metaanalysen zu den psychosozialen
Folgen von Cannabis, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen [1]
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[7], werden in Anhängigkeit der ideologischen Heimat jeweils unterschiedlich interpretiert.
Nicht selten werden weitere Forschungsbemühungen zum Phänomen Cannabis gefordert,
vorwiegend mit dem Ziel, die Frage der Gefährlichkeit oder der Risiken des Konsums
von Cannabis am besten abschließend zu klären. Ätiologische Forschungsansätze sind
diesen Risikobewertungsstudien sowie einer epidemiologischen Betrachtung fast ausschließlich
gewichen.
Da der Konsum von Drogen jedoch ein äußerst komplexes Geschehen darstellt, ist er
weder einfach noch allgemein zu beschreiben und vor allem zu erklären. Vielmehr bedarf
es einer differenzierten, an Zielgruppen orientierten Sicht, die spezifische Präventionsziele
und -botschaften formuliert, statt generalpräventive und dadurch möglicherweise unglaubwürdige
und ineffiziente Ansätze zu verfolgen.
Dieses Schwerpunktheft fokussiert Anforderungen und Konsequenzen, die sich aus unterschiedlichen
Perspektiven für die Suchthilfe und damit für die Prävention, Beratung und Therapie
ableiten lassen. Es soll somit einen handlungsorientierten Beitrag in der Diskussion
um Cannabisprävention leisten, zum Nach- und Überdenken alter Handlungsgrundsätze
anregen sowie, wo möglich, neue Wege aufzeigen.
Die öffentliche Cannabisdiskussion in Deutschland aus der Perspektive der Suchthilfe
und Prävention wird von Raphael Gaßmann nachgezeichnet. Er plädiert in Anlehnung an
die Cannabisurteile des Bundesverfassungsgerichts für mehr Sachlichkeit im Umgang
mit der Substanz Cannabis, um Möglichkeiten von Prävention, Frühintervention und Therapie
zu fördern. Weiterhin sollte die vorherrschende, rein epidemiologische Betrachtung
des Phänomens durch Ursachenanalysen ergänzt werden, die Ansatzpunkte für individuelle
Präventionsangebote liefern können.
Auch die psychiatrische Perspektive auf das Jugendphänomen Cannabiskonsum ist vertreten.
Oliver Bilke stellt in seinem Beitrag die Diagnostik cannabisspezifischer Störungen
in den Vordergrund und betont die Notwendigkeit einer gründlichen multiaxialen Diagnostik,
bei der cannabisspezifische Störungen lediglich einen Teil darstellen. Insbesondere
der Diagnostik komorbider Störungen komme bei der Gesamtbehandlungsplanung zentrale
Bedeutung zu. Er plädiert für eine interdisziplinäre Herangehensweise im Umgang mit
dem komplexen Phänomen Cannabiskonsum.
Jens Kalke, Uwe Verthein und Heino Stöver nehmen neuere epidemiologische Studien unter
die Lupe und diskutieren diese vor einem empirischen sowie methodischen Hintergrund.
Sie kommen zu dem Schluss, dass von einer „Cannabis-Seuche”, wie sie in einzelnen
Veröffentlichungen und teilweise auch in der Fachöffentlichkeit behauptet wird, aus
epidemiologischer Sicht nicht die Rede sein kann. Eine glaubwürdige Präventionspolitik
sollte berücksichtigen, dass der Cannabiskonsum im Wesentlichen ein passageres Phänomen
der Adoleszenzphase ist, und neben einer abstinenzorientierten auch schadensminimierende
Perspektiven berücksichtigen.
Renate Soellner und Dieter Kleiber beleuchten Präventionsansätze aus historischer,
wissenschaftlicher und gesundheitspolitischer Perspektive. Fragen wie „Welche Anforderungen
an Präventionsprojekte lassen sich aus Studien über die Wirksamkeit von Präventionsmaßnahmen
und aus Theorien zur Entwicklung problematischen Konsumverhaltens ableiten?”, „Welche
Präventionsziele werden aus der Sicht von Gesundheitspolitikerinnen und -politikern
formuliert?” und „Wie werden diese in cannabisspezifischen Präventionsangeboten umgesetzt?”
werden in ihrem Beitrag angesprochen. Um konsistente und glaubwürdige Prävention umsetzen
zu können, muss ihrer Meinung nach neben schädlichem Konsum auch festgelegt werden,
was als unschädlich gelten kann. Eine überzeugende Präventionspolitik sollte Präventionsstrategien
an der gesellschaftlichen Realität orientieren und zur Kenntnis nehmen, dass Cannabis
für einen großen Teil Jugendlicher bereits den Status einer Alltagsdroge besitzt.
Hierbei schließen sie sich dem von der Drogenbeauftragten der Bundesregierung formulierten
Präventionsziel an, „den gesundheitsschädlichen Konsum von Suchtmitteln von vornherein zu verhindern”.
Cannabiskonsum in der Schweiz wird von Martin Neuenschwander, Ulrich Frick, Gerhard
Gmel und Jürgen Rehm beleuchtet. Auf der Grundlage einer Risikofaktorenanalyse plädieren
sie für die Entwicklung eines Screeninginstruments zur Früherkennung problematischen
Cannabiskonsums sowie speziell auf die Bedürfnisse von gefährdeten Jugendlichen ausgerichtete
Informations-, Beratungs- und Behandlungsangebote.
Der Drogen- und Suchtkommission der Bundesregierung zufolge sollte in der Cannabisprävention
im Zweifel der Grundsatz „Prävention vor Repression” gelten [8]. Dies umzusetzen erscheint aus jeder der hier eingenommenen Perspektiven empfehlens-
und vor allem lohnenswert.