Anmerkung
Das diesem Bericht zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums
für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie unter dem Förderkennzeichen FKZ01EB9411
gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den
Autoren.
Einleitung
Einleitung
Angesichts der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit und der Verschärfung der sozialen
Situation der Arbeitslosen durch die Hartz-IV-Reform gewinnt die Frage nach einem
möglichen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheitsbeeinträchtigungen
an Bedeutung. Insbesondere hinsichtlich des Alkoholismus ist dieser Zusammenhang schon
seit langem kontrovers diskutiert worden [1 ]. Die Befundlage ist in hohem Maße durch Widersprüchlichkeiten gekennzeichnet, die
eine einheitliche Interpretation der Studien erschweren [2 ]
[3 ]
[4 ]
[5 ]
[6 ]
[7 ]
[8 ]
[9 ]
[10 ]
[11 ]. Einige dieser Studien deuten darauf hin, dass Arbeitslosigkeit nicht oder sogar
negativ mit Alkoholgebrauch assoziiert ist [12 ]
[13 ]
[14 ]
[15 ]
[16 ]
[17 ]
[18 ]
[19 ]
[20 ]
[21 ]. Andererseits existiert eine Fülle von empirischen Befunden für eine positive Relation
zu Trinkgewohnheiten und Konsumraten [4 ]
[22 ]
[23 ]
[24 ]
[25 ]
[26 ]
[27 ], zu Verhaltensproblemen als Folge des Alkoholkonsums [4 ]
[26 ]
[28 ], zu so genannten Alkoholerkrankungen [29 ]
[30 ] sowie zu Verhaltensstörungen als Folge von Alkoholkonsum [3 ]
[26 ]
[31 ]. In manchen Studien konnten Zusammenhänge nur für bestimmte Subgruppen aufgewiesen
werden, z. B. für allein stehende Personen [32 ].
Insgesamt scheint es sich bei der Verursachung des Alkoholkonsums durch Arbeitslosigkeit
um einen komplexen Prozess zu handeln, der durch zahlreiche Faktoren moderiert wird
und sich der Reduktion auf einen einfachen formelhaften Zusammenhang entzieht. Henkel
fordert deshalb, „Veränderungen beim Alkoholkonsum nicht wie bisher allein nach quantitativen
Merkmalen (z. B. Menge, Frequenz) zu erfassen, sondern auch die Motive, Erwartungen
und Intentionen, die dem Alkoholtrinken zugrunde liegen, mit einzubeziehen” [7 ].
Theoretischer Bezugsrahmen
Theoretischer Bezugsrahmen
Um die widersprüchlichen Ergebnisse der oben genannten Untersuchungen erklären zu
können, erscheint der Bezug auf komplexere Modellvorstellungen notwendig [5 ]
[9 ]
[27 ]
[33 ]. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist in Anlehnung an Peirce et al. die
„affect regulation theory” ([9 ], vgl. [34 ]), die man als spezifische Variante stresstheoretischer Erklärungsansätze des Alkoholkonsums
interpretieren kann [35 ]
. In dieser theoretischen Perspektive wird Alkohol u. a. zur Reduktion und Bewältigung
negativer Emotionen - insbesondere von Depressivität - verwendet. Der Nachweis von
Entstehungsbedingungen der Depressivität bildet deshalb ein Kernstück des Modells.
Depressivität, die eine Operationalisierung negativer Emotionen darstellt, soll neben
persönlichen Ressourcen und sozialer Unterstützung insbesondere durch die finanziellen
Belastungen verursacht werden. Negative Gefühle fördern die Bereitschaft, Alkohol
zur Stressbewältigung einzusetzen. Die Depressivität selber ist einerseits die Folge
ungünstiger Lebensbedingungen (soziale Konflikte, fehlende soziale Unterstützung,
chronische finanzielle Probleme), andererseits ist jedoch auch eine geringe Selbstwirksamkeit
von hoher Bedeutung.
Material und Methoden
Material und Methoden
Stichprobe
In der hier durchgeführten Studie wurde eine Stichprobe älterer arbeitsloser Metallarbeiter
untersucht, da hier aufgrund der sozioökonomischen Kontextbedingungen oder der individuellen
Bewältigungskompetenzen eine besonders hohe Belastung durch die Arbeitslosigkeit vermutet
werden kann.[2 ] Riskanter bzw. gefährlicher Konsum wird vor allem von Männern in den Altersgruppen
zwischen 40 und 59 betrieben [37 ]. Durch die Arbeitslosigkeit müsste diese ohnehin schon relativ ungünstige Ausgangslage
weiter verschlechtert werden.
Das Anschreiben der Arbeitslosen für die Befragung musste - aus datenschutzrechtlichen
Gründen - von zwei Arbeitsämtern vorgenommen werden, in denen ein hoher Anteil arbeitsloser
Metallarbeiter registriert war.[3 ] Die Bruttostichprobe umfasste männliche, deutsche Arbeitslose in der Altersspanne
zwischen 20 bis 60 Jahren und mit einer mindestens sechsmonatigen Dauer der Arbeitslosigkeit.
Von den im Jahr 1996 durch die Arbeitsämter angeschriebenen arbeitslosen 3353 Metallarbeitern
nahmen fast 20,61 % (n = 691) an der schriftlichen Befragung teil. Die Unterschiede
zwischen den Arbeitsamtbezirken waren marginal (Arbeitsamtbezirk West: Bruttostichprobe:
1500; Nettostichprobe: 320; Arbeitsamtbezirk Ost: Bruttostichprobe: 1853; Nettostichprobe:
371). Für eine Befragung von Arbeitslosen kann dies als eine zufriedenstellende Ausschöpfungsquote
bewertet werden. Hess et al. konnten bei einem Einsatz von Interviewern mit vergleichbarer
Rekrutierung eine Ausschöpfung von 30 % erreichen [38 ].
Die Nettostichprobe weicht in den Bereichen Familienstand, berufliche Ausbildung und
Dauer der Arbeitslosigkeit - wie Überprüfungen mithilfe des χ2 -Tests zeigten - signifikant von der Bruttostichprobe ab. Es haben vor allem verheiratete,
höher qualifizierte und Personen mit längerer Arbeitslosigkeit an der Befragung teilgenommen.
In Tab. [1 ] ist die realisierte Nettostichprobe hinsichtlich ihrer soziodemografischen Merkmale
zum Zeitpunkt t1 dargestellt.
Tab. 1 Soziodemografische Merkmale: arbeitslose Metallarbeiter der Arbeitsamtsbezirke Ost
und West zum Zeitpunkt t1
Arbeitsamt-Ost
Arbeitsamt-West
gesamt
Anzahl
%
Anzahl
%
Anzahl
%
Alter von ... bis
unter 20
4
1,1
3
0,9
7
1,0
21 - 24
25
6,8
12
3,8
37
5,4
25 - 29
30
8,1
31
9,7
61
8,8
30 - 39
108
29,2
63
19,7
171
24,8
40 - 49
80
21,6
57
17,8
137
19,9
50 - 60
123
33,2
154
48,2
277
40,1
berufliche Ausbildung (Mehrfachantworten)
ohne Ausbildung
12
4,5
13
5,5
25
5,0
Anlern-Ausbildung
22
7,7
23
10,6
45
9,2
betriebliche Ausbildung (Lehre)
242
84,3
175
80,3
417
82,6
Fachschule, Fachhochschule
126
20,9
108
18,3
234
19,7
letzte berufliche Stellung
Arbeiter
91
24,7
72
22,7
163
23,8
Facharbeiter
241
65,3
195
61,5
436
63,6
einfacher Angestellter
8
2,2
8
2,5
16
2,3
Angestellter (Sachbearbeiter)
6
1,6
9
2,8
15
2,2
Angestellter (hochqualifiziert)
21
5,7
30
9,5
51
7,4
Angestellter (leitend)
2
0,5
3
0,9
5
0,7
Dauer der Arbeitslosigkeit
bis 12 Monate
155
43,9
80
26,5
235
35,9
13 bis 24 Monate
108
30,6
84
27,8
192
29,3
mehr als 24 Monate
90
25,5
138
45,7
228
34,8
Befragungsinstrumente
Zum Test des Modells von Peirce et al. wurden Messungen zum Alkoholkonsum, den Problemen
mit Alkohol, dem Ausmaß der Trinkmotivation, zur Depressivität, der wahrgenommenen
sozialen Unterstützung und sozialen Konflikten, den persönlichen Ressourcen zur Bewältigung
von Lebenskrisen und Problemen sowie den finanziellen Belastungen, die sich durch
die Arbeitslosigkeit ergeben, durchgeführt [9 ].
Da die theoretische Grundlage der Konstrukte, die Form der Operationalisierung und
die teststatischen Gütekriterien bereits an anderer Stelle ausführlich dargestellt
worden sind, soll auf diese Aspekte an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden
[39 ]
[40 ]. Hier muss der Hinweis genügen, dass die Überprüfung der teststatischen Gütekriterien
für eine Survey-Studie zufriedenstellende Ergebnisse ergeben hat [39 ]
[40 ].
Auswertungsmethoden
Es wurden - wie auch von Peirce et al. [9 ] - die Varianzen und Kovarianzen der Skalen als Datenbasis verwendet und das Modell
mit dem LISREL-Ansatz getestet. Die Skalen entsprechen den additiven Indizes der einzelnen
Items. Die Kovarianzstrukturanalyse wurde mit der Maximum-Likelihood-(ML-)Schätzung
des Programms LISREL 8.0 [41 ] durchgeführt. Da unterschiedliche Skalierungen der Variablen bzw. Skalen vorliegen,
konnte die Methode „Unweighted Least Squares” nicht verwendet werden [42 ]. Eine Schätzung der Modelle nach der angemesseneren Methode „Weighted Least Squares”
[43 ], die die Schiefe der Skalen über den Einbezug der asymptotischen Varianz-Kovarianz-Matrix
hinreichend berücksichtigt, konnte aufgrund der nicht ausreichenden Fallzahlen nicht
erfolgen [44 ]. Eine inhaltliche Interpretation der ML-Parameter ist aufgrund der Stichprobengröße
(n > 200) trotz vorliegender Verteilungsschiefe der Daten vertretbar [45 ].
Der LISREL-Ansatz bietet ferner die Möglichkeit, Pfadmodelle gleichzeitig in unterschiedlichen
Stichproben zu testen. Jöreskog und Sörbom bezeichnen diese Verwendung des LISREL-Ansatzes
als multiplen Gruppenvergleich [41 ]. Dabei werden zunächst Restriktionen definiert, die gleichzeitig für alle zu analysierenden
Gruppen gelten sollten. In einem zweiten Schritt schätzt LISREL dann die Modelle simultan
für alle Gruppen unter den zuvor gesetzten Restriktionen. Sämtliche Maße zur Beurteilung
des Modellfits beziehen sich auf alle betrachteten Gruppen (hier die weiterhin Arbeitslosen
und Personen mit erneuter Beschäftigung) gleichzeitig. Auf diese Weise ist es möglich,
die Annahme, dass die ermittelte Kausalstruktur für beide Gruppen gilt, zu testen.
Ergebnisse
Ergebnisse
Deskriptive Befunde
Bei einem Vergleich der gemessenen Alkoholkonsummengen mit den Ergebnissen der repräsentativen
Stichprobe von Herbst et al. zeigt sich, dass die konsumierten Alkoholmengen der Arbeitslosen
in Ost- wie in Westdeutschland erheblich darüber liegen (Tab. [2 ]) [46 ].
Tab. 2 Alkoholmengen der Arbeitslosenstichprobe und einer repräsentativen Stichprobe der
Normalbevölkerung im Ost-West-Vergleich [46 ]
tägliche Alkoholmenge in Gramm[* ]
Arbeitslose Ost
Arbeitslose West
Vergleich männliche Befragte 1996
Erstbefragung (t1 ) Nachbefragung (t2 )
t1
t2
t1
t2
Ostdeutsche
Westdeutsche
kein Konsum
19,3 %
17,7 %
24,9 %
21,4 %
12,8 %
16,3 %
1 - 10 Gramm
11,0 %
9,8 %
10,5 %
14,6 %
23,6 %
31,5 %
11 - 20 Gramm
14,8 %
13,6 %
14,8 %
14,1 %
20,1 %
19,3 %
21 - 40 Gramm
23,1 %
25,7 %
21,5 %
24,8 %
23,1 %
17,8 %
41 - 60 Gramm
13,3 %
15,8 %
8,6 %
11,6 %
11,3 %
7,7 %
61 Gramm und mehr
18,5 %
17,4 %
19,6 %
13,6 %
9,2 %
7,4 %
Anmerkung: Signifikanz der Veränderung überprüft durch den t-Test bei gepaarten Stichproben
Bezirk Ost: t = - 1,73; df = 257; p = 0,085 (2-seitig) Bezirk West: t =,97; df = 203;
p = 0,332 (2-seitig)
Sowohl die Arbeitslosen als auch die Befragten der repräsentativen Stichprobe nennen
in Ostdeutschland höhere konsumierte Alkoholmengen als in Westdeutschland. Bemerkenswerterweise
ist auch der Anteil Abstinenter in der Arbeitslosenstichprobe im Vergleich zur repräsentativen
Stichprobe der Normalbevölkerung erhöht. Dies bestätigt die Befunde von Lee et al.,
die eine stärkere Polarisierung des Konsums von Alkohol bei Arbeitslosen im Vergleich
zur Normalbevölkerung feststellen konnten [25 ].
Insgesamt lassen die Befunde den Schluss zu, dass ein deutlich erhöhtes Risiko hinsichtlich
der Entwicklung einer Alkoholabhängigkeit bei Teilen der untersuchten Stichprobe arbeitsloser
Personen im Vergleich zur Normalbevölkerung besteht. Dieses Resultat stimmt mit zahlreichen
anderen Studien überein [6 ]
[33 ].
Überprüfung des Modells zur Erklärung von Alkoholkonsum und alkoholbedingten Problemen
Die Längsschnittanalyse basiert auf der Analyse der Kovarianzen des ersten und zweiten
Messzeitpunktes unter Einbezug der Kovarianzen zwischen beiden Zeitpunkten. Die Interkorrelationen
der unabhängigen Variablen (Variablen 5 bis 8) und der abhängigen Variablen (Variablen
1 bis 4) stellt Tab. [3 ] dar.
Tab. 3 Wiederholungsbefragung: Korrelationen zwischen den Skalen
Befragung zu:[* ]
Zeitpunkt t1
Zeitpunkt t2
Depressivität
Trinkmotive
Alkoholprobleme
Alkoholkonsum
soz. Unterstützung
soz. Konflikte
chron. finanz. Belastung
mangelnde Ressourcen
(1) Depressivität
0,612
0,347
0,303
0,184
- 0,161
0,353
0,294
0,496
(2) Trinkmotive
0,359
0,682
0,535
0,420
- 0,056
0,266
0,196
0,393
(3) Alkoholprobleme
0,249
0,480
0,753
0,431
- 0,029
0,232
0,143
0,297
(4) Alkoholkonsum
0,165
0,400
0,501
0,851
0,004
0,095
0,099
0,133
(5) soz. Unterstützung
- 0,133
- 0,074
- 0,093
0,035
0,514
- 0,103
- 0,068
- 0,037
(6) soz. Konflikte
0,390
0,289
0,262
0,159
- 0,102
0,571
0,272
0,462
(7) chron. finanz. Belastung
0,333
0,164
0,194
0,109
- 0,137
0,304
0,679
0,412
(8) mangelnde Ressourcen
0,483
0,395
0,336
0,165
- 0,120
0,380
0,354
0,619
Anmerkung: Alle Korrelationen mit einem Wert über r = 0,15 sind auf dem Niveau von
p < 0,05 signifikant, alle Korrelationen mit einem Wert über r = 0,18 sind auf dem
Niveau von p < 0,01 signifikant.
Auf der Hauptdiagonalen sind die Korrelationen der Messwiederholung dargestellt. Die
relativ geringsten Zusammenhänge bestehen bei der Messung der sozialen Unterstützung
und der sozialen Konflikte. Höchste Stabilität besteht bei dem Alkoholkonsum und den
Alkoholproblemen.
Die Überprüfung der durch das theoretische Modell nach Peirce et al. [9 ] vorgegebenen Beziehungen führt sowohl im Quer- wie im Längsschnitt zunächst zu einer
wenig zufriedenstellenden Anpassung der erhobenen Daten an das Modell (df = 65; χ2 = 236,46; GFI = 0,94; RMSEA = 0,072; RMR = 0,09). Durch Aufnahme zusätzlicher direkter
Effekte und Entfernung der Variablen „finanzielle Belastung” und „chronische finanzielle
Probleme” (nur beim zweiten Messzeitpunkt) wird eine gute Modellanpassung erreicht
(df = 58; χ2 = 112,44; GFI = 0,92; RMSEA = 0,043; RMR = 0,04). Abb. [1 ] zeigt die Ergebnisse des modifizierten Kausalmodells. Die Abweichungen vom theoretischen
Modell betreffen zusätzliche, auch von Peirce et al. [9 ] spezifizierte Beziehungen auf die Trinkmotive: Mangelnde persönliche Ressourcen
und soziale Konflikte haben hier direkte positive Effekte. Es musste allerdings auch
eine weitere Beziehung zwischen mangelnden persönlichen Ressourcen und den Alkoholproblemen
aufgenommen werden. Diese drei zusätzlichen Spezifikationen führen zu signifikanten
Modellverbesserungen. Die Messwiederholung wurde über direkte Spezifikation der abhängigen
Variablen modelliert. Zusätzlich wird eine Modellverbesserung durch einen Cross-Lag-Effekt
erreicht: Der Alkoholkonsum des ersten Messzeitpunktes wirkt sich zeitverzögert signifikant
auf die Trinkmotive der Wiederholungsbefragung aus. Die Gütekriterien der Modellvarianten
belegen deutlich, dass (in beiden Querschnitten) zusätzlich zum hypothetischen Modell
direkte Effekte zwischen den unabhängigen Variablen „Ressourcen” und „soziale Konflikte”
auf die „Trinkmotivation” sowie zwischen „Ressourcen” und „Alkoholproblemen” bestehen.
Abb. 1 Längsschnittmodell zum Konsum von Alkohol bei Arbeitslosigkeit.
Anhand der erklärten Varianzen wird deutlich, dass die Stärke des Modells in der Vorhersage
von Depressivität (49 % zu t1 und 46 % zu t2 ) und Alkoholproblemen (44 % zu t1 und 42 % zu t2 ) liegt, wobei die Stabilitätsbeziehungen der Variablen keine Berücksichtigung finden.
Von der Varianz des Alkoholkonsums können nur 16 bzw. 20 % aufgeklärt werden. Die
Varianzaufklärung der Trinkmotive über die direkten Beziehungen von Depressivität,
sozialen Konflikten und - am stärksten - durch mangelnde Ressourcen ist im zweiten
Messzeitpunkt mit 33 % zufriedenstellend.
Die Frage, ob die Ergebnisse der Längsschnittanalyse bei unterschiedlichen Gruppen
bestehen bleiben, wird anhand eines Vergleichs der Gruppe der durchgängig Arbeitslosen
und der Personen, die zwischenzeitlich eine Beschäftigung gefunden haben, untersucht.
Zwischen diesen beiden Gruppen können strukturelle Unterschiede erwartet werden. Der
Einbezug der berenteten Personen in den multiplen Gruppenvergleich verbietet sich
darüber hinaus durch die geringe Fallzahl.
Eine Überprüfung der Ergebnisse erfolgt durch den Vergleich der beiden Gruppen mit
dem in Abb. [1 ] dargestellten modifizierten Längsschnittmodell. Zusätzlich wurde für die Gruppe
der durchgängig Arbeitslosen die Skala „finanzielle Belastung durch Arbeitslosigkeit”
im zweiten Messzeitpunkt hinzugenommen.
Der Effekt der finanziellen Belastung auf die Depressivität für die durchgängig Arbeitslosen
beträgt zum zweiten Erhebungszeitpunkt 0,07 (standardisierter Koeffizient). Im Vergleich
zum ersten Messzeitpunkt hat sich die Bedeutung dieses Stressors in seiner depressionserzeugenden
Wirkung nicht verändert.
Ausgangspunkt der Berechnungen ist die Annahme, dass beide Gruppen identische Kausalstrukturen
aufweisen, die durch eine Gleichsetzung aller Parameter für die Kovarianzen der Skalen
der durchgängig Arbeitslosen und der Personen, die wieder beschäftigt sind, erfolgte.
Variationen zwischen beiden Gruppen wurden systematisch durch getrennte Schätzung
1. der Mittelwertunterschiede der abhängigen Variablen, 2. der Stabilität der abhängigen
Variablen und 3. des Cross-Lag-Effektes überprüft.
Eine (geringe) Modellverbesserung anhand unterschiedlicher Mittelwerte in den abhängigen
Variablen besteht allein für die Messung des Alkoholkonsums im ersten Messzeitpunkt.
Darüber hinaus führte die Annahme gleicher Mittelwerte der abhängigen Variablen zu
vergleichbaren Modellanpassungen wie unter der Annahme, dass die Mittelwerte variieren.
Die Stabilitätsbeziehungen der abhängigen Variablen differieren kaum zwischen beiden
Gruppen. Selbst für die Beziehung zwischen der Depressivität der ersten und zweiten
Erhebung, die bei den durchgängig Arbeitslosen über den Erhebungszeitraum unverändert
und bei den wieder Beschäftigten gesunken ist, wird keine Modellverbesserung durch
getrennte Schätzung erreicht. Die unstandardisierten Pfadkoeffizienten betragen bei
getrennter Schätzung 0,36 für die Gruppe der durchgängig Arbeitslosen und 0,34 für
die wieder Beschäftigten. Die größte Abweichung findet sich in der Stabilitätsbeziehung
der Trinkmotive: Bei durchgängig Arbeitslosen fällt die Stabilität der Trinkmotive
mit 0,48 geringer aus als bei Personen, die zwischenzeitlich beschäftigt sind. Hier
beträgt die Stabilität 0,54 (unstandardisierter Pfadkoeffizient).
Die getrennte Schätzung des Cross-Lag-Effekts weist ebenfalls darauf hin, dass die
vorgegebene Modellstruktur bei beiden Gruppen identisch ist. Die Auswirkung des Alkoholkonsums
auf die ein Jahr später erhobene Trinkmotivation beträgt bei den durchgängig Arbeitslosen
0,008, bei den wieder Beschäftigten 0,011 (unstandardisierte Koeffizienten).
Der multiple Gruppenvergleich bestätigt die Gültigkeit des Modells für die Gruppe
der durchgängig Arbeitslosen und der Personen, die wieder beschäftigt sind.
Diskussion
Diskussion
Das zentrale Ergebnis der Studie besteht 1. darin, dass sich das Modell sowohl auf
die Gruppe der Arbeitslosen wie auch der Beschäftigten anwenden lässt, und 2. ist
hervorzuheben, dass ein hoher Alkoholkonsum - mit zeitverzögerter Wirkung - zu einer
stärkeren Trinkmotivation (siehe Abb. [1 ]) führt. Ferner konnte 3. kein Effekt der Depressivität zu t1 auf den Alkoholkonsum zu t2 nachgewiesen werden, sondern vielmehr bewirkt der Konsum zu t1 eine Stabilisierung der Motive zu t2.
Die Ergebnisse stellen deshalb die vermutete starke Abhängigkeit negativer Emotionen
von finanziellen Einschränkungen und sozialen Unterstützungen im Zuge der Arbeitslosigkeit
infrage. Dieses Resultat findet sich ebenfalls in der Untersuchung von Peirce et al.
[9 ]. Dies kann man so interpretieren, dass im Rahmen des hier untersuchten Zeitfensters
weniger die nachteiligen Umstände selbst (hier bedingt durch die Arbeitslosigkeit),
sondern die individuelle Bewältigungskompetenz von Problemen einen wesentlicheren
Einfluss auf den Konsum von Alkohol hat.
Depressive Verstimmungen verfestigen offenbar nur in begrenztem Umfang die Motive,
Alkohol zum Coping zu verwenden. Der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Alkoholkonsum
ist vermutlich weniger Folge spezifischer Belastungen im Zuge der Arbeitslosigkeit,
sondern wahrscheinlich war die Prävalenz vor dem Eintritt der Arbeitslosigkeit gegenüber
dem Bundesdurchschnitt erhöht. Welche Gründe können hierfür maßgeblich sein?
Man kann vermuten, dass ein Teil der Befragten bereits im Zuge der Entlassung seinen
Konsum gesteigert hat. Hierfür kann zunächst angeführt werden, dass Arbeitsplatzunsicherheit
starke Effekte auf die psychische Befindlichkeit hat [47 ] und möglicherweise indirekt auch den Alkoholkonsum beeinflusst. Diese Sichtweise
wird durch den Befund gestützt, dass berufliche Gratifikationskrisen, die z. B. durch
drohenden Arbeitsplatzverlust ausgelöst werden können, das Risiko für Alkoholmissbrauch
drastisch erhöhen [48 ]
[49 ]. Auch in anderen Studien konnte gezeigt werden, dass der Verlust des Arbeitsplatzes
stärker als anhaltende Arbeitslosigkeit zum missbräuchlichen Konsum von Alkohol disponiert
[50 ]. Dooley, Catalano und Hough kamen bei der Analyse des „Epidemiologic Catchment Area
(ECA) survey” (n = 10 534) zu dem Ergebnis, dass insbesondere der Verlust der Arbeit
einen sehr deutlichen Anstieg des Risikos von alkoholbedingten Störungen bewirkt [31 ].
Die hier skizzierten Befunde stützen die Annahme, dass der Konsum bereits im Vorfeld
der drohenden Arbeitslosigkeit ansteigt und dies partiell zu einem Deckeneffekt führt,
d. h. durch die Chronifizierung der Belastungen im Zuge der Arbeitslosigkeit tritt
kein bedeutsamer weiterer Anstieg des Konsums ein. Für eine Gesundheitsförderung,
die die Belastungen durch Arbeitslosigkeit mindern will, bedeutet dies, dass die Interventionen
- um wirksam zu sein - früher beginnen müssen, d. h. in diesem Fall, dass die Stabilisierung
der Selbstwirksamkeit und des kontrollierten Konsums von psychoaktiven Substanzen
bereits erfolgt sein muss, bevor diese spezifischen Belastungen durch drohenden Arbeitsplatzverlust
oder durch die Arbeitslosigkeit einsetzen [51 ].
Parallel zur Untersuchung der arbeitslosen Metallarbeiter wurde deshalb eine Studie
in Betrieben der metallverarbeitenden Industrie durchgeführt, in denen betriebsbedingte
Kündigungen drohten [48 ]. Gegenstand war die Untersuchung von drohendem Arbeitsplatzverlust bzw. Arbeitslosigkeit,
die damit verbundenen Stresswahrnehmungen und die Konsequenzen dieser Wahrnehmungen
auf den Konsum von Alkohol, Zigaretten und psychoaktiven Medikamenten. Es konnte gezeigt
werden, dass die Theorie der Gratifikationskrise von Siegrist [52 ], die ursprünglich und mit Erfolg zur Erklärung von kardiovaskulären Erkrankungen
entwickelt worden war, auch geeignet ist, den stressbedingten Konsum von Alkohol partiell
aufzuklären, der im Zuge betrieblicher Umbruchprozesse zu erwarten ist [10 ].
In einer Interventionsstudie - die zum Teil in Werken durchgeführt wurde, in denen
betriebsbedingte Kündigungen drohten - wurde die suchtpräventive Wirkung eines spezifischen
Stressbewältigungsprogramms überprüft, das von der Theorie der Gratifikationskrise
abgleitet worden ist [53 ] und um Komponenten aus dem Programm von Schelp, Gravemeier und Maluck [54 ] ergänzt wurde. Das Programm zielte insbesondere a) auf den Abbau übersteigerter
Kontrollambitionen, b) die Veränderung der Wirkungserwartungen an den Alkoholkonsum
(Trinkfunktionen) und c) den Alkoholkonsum selbst [55 ]. Die Überprüfung des Programms erfolgte auf der Grundlage einer längsschnittlichen
Interventionsstudie mit drei Messzeitpunkten, an der 105 Beschäftigte teilnahmen,
die zu Beginn der Studie randomisiert wurden. Im Rahmen der Follow-up-Untersuchung
zeigte sich nach drei Monaten eine signifikante Reduzierung des Alkoholkonsums, der
Kontrollambitionen und spezifischer Wirkungserwartungen an den Alkoholkonsum [56 ]
[57 ].
Daraus kann abschließend die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Interventionen
vor dem Eintritt der Arbeitslosigkeit einsetzen sollten, möglicherweise als Angebote
im Rahmen von Outplacement/Replacement-Konzepten, die u. a. den psychosozialen Stress
in der beginnenden Arbeitslosigkeit abzumildern versuchen [58 ]. Haben sich die Bewältigungsstrategien (z. B. riskanter Alkoholkonsum) wie in der
hier untersuchten Stichprobe habitualisiert, dann sind Veränderungen - wenn überhaupt
- nur noch durch sehr aufwändige sozialpolitische und personenbezogene Interventionen
erreichbar [8 ].