Z Orthop Ihre Grenzgeb 2004; 142(5): 510-514
DOI: 10.1055/s-2004-835150
Orthopädie aktuell

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sind der aufrechte Gang und die Wirbelsäule eine Fehlkonstruktion der Evolution?

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Publikationsdatum:
12. Oktober 2004 (online)

 
Inhaltsübersicht

Im deutschen Ärtzteblatt 4/2004 wurde die Integrierte Versorgung nach §140 a-h SGB V und die Medizinischen Versorgungszentren als zentrale Strukturelemente des GKV Modernisierungsgesetzes bezeichnet. Der Geschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Jörg Robbers, bezeichnete die Integrierte Versorgung als Modell der Zukunft. Daneben finden sich auch kritische Stimmen, die vor einer Auflösung der bisherigen Versorgungsstrukturen warnen oder die Integrierte Versorgung als "Mogelpackung" bezeichnen. Welche Chancen und Gefahren ergeben sich aus der Integrierten Versorgung für Orthopädische Kliniken?

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Dr. Iris Reuter

Der aufrechte Gang und die Konstruktion der Wirbelsäule werden oft als Ursache für Rückenschmerzen und Beschwerden im Bereich der unteren Extremität angesehen. Während der Entwicklung vom Vierfüßler zum Zweifüßler hat sich der menschliche Körper sowohl im Skelett- als auch im Muskelsystem verändert, um sowohl biomechanisch als auch energetisch den aufrechten Gang zu ermöglichen. Dabei mussten zwei Gegensätze vereint werden, Stabilität und Beweglichkeit. Die Wirbelsäule des Menschen als auch die großen Gelenke sind im Wesentlichen muskulär gesichert. Wird die Muskulatur unzureichend trainiert, kommt es zu einer raschen Ermüdung und Rumpf und Becken können nicht mehr stabil gehalten werden. Es kommt zu Haltungsverfall und Fehlbelastungen. Untersuchungen an chronischen Rückenkranken haben diesen Zusammenhang bestätigt. Nicht der aufrechte Gang oder die Konstruktion der Wirbelsäule per se sind schuld am Anstieg der Rücken- und Gelenkerkrankungen, sondern der mangelnde Trainingszustand und die Bewegungsarmut der Bevölkerung tragen dazu bei.

Rückenschmerzen und arthrotische Veränderungen der Gelenke der unteren Extremität zählen zu den häufigsten Erkrankungen und stellen oft Berentungsgründe dar. Nach neuesten Statistiken leiden 5 Millionen Deutsche unter Arthrose von mindestem einem Gelenk, weitere 15 Millionen zeigen präarthrotische Veränderungen. Bei der Darstellung der Pathogenese von Gelenk-und Bandscheibenschäden wird nicht selten die Konstruktion der Wirbelsäule als inadäquat für die Belastung des aufrechten Gangs angesehen und der Mensch als ein "nicht-perfekter" Zweifüßler bezeichnet (Caselli & Alchermes, 1988). Allerdings gibt es auch Autoren, welche die Wirbelsäule des Primaten als gut geeignet für den aufrechten Gang ansehen (Putz und Müller-Gerbl, 1996).

Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob, angesichts der hohen Erkrankungsrate, der aufrechte Gang des Menschen ein Irrtum der Evolution ist? Man könnte pragmatisch darauf antworten, da der aufrechte Gang dem Selektionsdruck standgehalten hat, können durch ihn keine wesentlichen Nachteile entstanden sein. Diese Antwort ist aber sicher zu einfach.

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Entwicklung des aufrechten Gangs

Der aufrechte Gang hat sich vor ca. 4 Millionen Jahren entwickelt. 1976 fanden die Forscher Mary Lea-key und Richard Hay in Tansania die ältesten Spuren zweier aufrecht laufender Hominiden (Leakey M & Walker A., 1997). Durch den bipedalen Gang wurde es möglich, in der Savanne eine bessere Sicht zu haben, auf Bäume zu klettern, Gegenstände zu tragen und in der Hand zu manipulieren. Kritiker wenden jedoch ein, dass es keinen zwingenden Grund für die Zweifüßigkeit gab (Preuschoft, 2004). Wurde dieser Vorteil mit dem Nachteil einer Verletzungsanfälligkeit des Skeletts eingekauft?

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Adaptation des Körpers an den bipedalen Gang

Das Skelett- und Muskelsystems hat sich während der Entwicklung vom Vierfüßler zum Zweifüßler deutlich verändert. Vergleicht man Vierfüßler, Primaten, die zeitweise auf zwei Füßen laufen und permanente Zweifüßler, finden sich in der Knochenform und der Verteilung und Funktion der Muskeln erhebliche Unterschiede. Der Windhund hat als Vierfüßler einen Körperbau, der an die Erfordernisse des schnellen Laufens angepasst ist. Er hat ein schmales Becken und starke Rumpfmuskeln, jedoch keine Muskeln an den Pfoten, dadurch sind die Pfoten leicht und ermöglichen eine längere Flugphase. Macaquen, die zeitweise aufrecht gehen, aber mit stark gebeugten Knie- und Hüftgelenken laufen, haben wesentliche muskulösere Hände und Füße als der Vierfüßler. Die Beine sind doppelt so schwer wie die obere Extremität, um den aufrechten Stand und Gang zu ermöglichen. In der weiteren Entwicklung zum bipedalen Gehen kann der Schimpanse angesehen werden, der jedoch zeitweise die obere Extremität zum Laufen einsetzt (Knöchellaufen). Der Schimpanse hat bereits einen weiteren Thorax als ein Vierfüßler, der Schwerpunkt der Rückenmuskulatur liegt aber im Schulterbereich. Schimpansen sind damit Allrounder und können die obere Extremität sowohl zum Klettern als auch zum Laufen benutzen. Menschen sind spezialisierter, der Mensch unterscheidet sich als permanent auf zwei Beinen laufendes Wesen von allen anderen Primaten. Um den aufrechten Gang erhalten zu können und auch energetisch umzusetzen, waren einige Adaptionen im Körperbau notwendig (Preuschoft, 2004).

Die Wirbelsäule nahm eine geschwungene Form an. Die Biegungen der Wirbelsäule waren notwendig, um die beim aufrechten Gehen entstehenden Kräfte abzufangen, und den Körperschwerpunkt zentral in der Vertikalen zu halten. Die Halswirbelsäule bildete eine Kyphose und war damit unter dem Kopf lokalisiert. Die lumbale Lordose entwickelte sich mit aufrechtem Gehen, um das Gewicht des Brustkorbes besser abzustützen und die kinematische Kette zu erhalten. Preuschoft et al. (1988) trainierten junge japanische Affen, aufrecht zu gehen und zeigten, dass sich bei den Tieren eine verstärkte Lendenlordose ausbildete.

Durch den Anstieg der axialen Belastung muss die Wirbelsäule über eine beachtliche Stabilität verfügen. Die Form der einzelnen Wirbelkörper sowie die Stellung der Wirbelbogengelenke veränderten sich durch die erforderliche Anpassung an die größere axiale Belastung bei der Entwicklung zum Bipedalismus. Zur Verbesserung der Stabilität vergrößerte sich die Endplattenoberfläche der Lendenwirbelkörper. Die Gelenkfortsätze des 5. Lendenwirbelkörpers sind beim Menschen frontal gestellt, um ein Abgleiten der Lendenwirbelsäule (LWS) gegen das Becken zu verhindern. Der Mensch hat zur Verbesserung der Stabilität auch die weiteste Distanz zwischen den unteren Gelenkfortsätzen des 5. Lendenwirbelkörpers (Boszcyk BM, Boszcyk A, Putz R, 2001). Weiterhin steuern das breitere Becken und die seitlich ausgerichteten Schultern sowie ein geringeres Rumpf/Extremitäten- Verhältnis (Vaughan, 2003) zur Stabilität bei.

Die Wirbelsäule muss gleichzeitig aber auch flexibel sein, um Bewegungen zu ermöglichen. Die Beweglichkeit der Wirbelsäule ist durch eine spezielle Konstruktion der Bewegungssegmente garantiert, jeweils 2 Wirbel und eine Bandscheibe bilden ein Bewegungssegment. Die dazwischenliegende Bandscheibe dient als hydraulischer Puffer und besteht aus einem Faserring und einem Gallertkern. Die Spezialisierung der einzelnen Wirbelsäulenabschnitte auf unterschiedliche Bewegungsrichtungen wird den Anforderungen nach Stabilität und Flexibilität gerecht. Die Wirbelbogengelenke sind im Bereich der Halswirbelsäule (HWS), Brustwirbelsäule (BWS) und Lendenwirbelsäule (LWS) unterschiedlich geformt und gestellt, um die unterschiedlichen Bewegungen zu ermöglichen. Die Gelenkflächen sind im Bereich der HWS nach dorsal gerichtet, so dass neben Extension und Flexion, Dreh- und Lateralbewegungen möglich sind, im Bereich der BWS sehr steil gestellt und abgewinkelt, so dass neben Extension auch Torsionsbewegungen möglich und im Bereich der LWS sagittal gerichtet sind. Durch diese Verzahnung sind Rotationsbewegungen kaum möglich und Extension und Flexion die Hauptbewegungsebene.

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Bedeutung der Bänder und Muskulatur

Obwohl die Wirbelsäule beim Zweifüßler stärker ist als beim Vierfüßler, ist sie ohne die Stabilisation durch Bänder und Muskeln relativ instabil und hält nur wenigen kg Gewicht stand. Damit die Wirbelsäule 100 kg und mehr tragen kann, benötigt sie die Stabilisation durch Bänder und Muskeln. Zur statischen Unterstützung dienen das Lig. flavum, welches die benachbarten Wirbelbögen verbindet, das Lig. longitudinale anterior und posterior, letzteres ist an der Hinterfläche der Bandscheiben verankert. Die Ligamente sind zur Verbesserung der Belastungsfähigkeit miteinander verwoben. Die Lig. supraspinale, interspinalia und intertransversaria dienen der Führung der Wirbelbogengelenke. Die weitere Stabilisation der Wirbelsäule erfolgt muskulär.

Beim Menschen findet sich die Hauptmuskelmasse des Rückens im Bereich der Lendenwirbelsäule, um die aufrechte Haltung zu unterstützen. Der Körperschwerpunkt liegt tiefer als z.B. beim Affen, der zeitweise die obere Extremität zum Laufen einsetzt. Rücken-, Bauch- und Hüftmuskulatur stabilisieren Lendenwirbelsäule und Becken. Stabilisierend auf Rumpf und Becken wirken antero-lateral der M. iliopsoas, M. quadratus, M. lumborum, und die Bauchmuskulatur. Der M. iliopsoas kontrolliert die Bewegung in der frontalen Ebene. Die schrägen Bauchmuskeln absorbieren die Energie beim Gehen durch Vor- und Rückschwingen des Bauches. Wesentlich verantwortlich für die Aufrechterhaltung der Lendenlordose ist die Rückenmuskulatur, der M. multifidus stabilisiert den Rumpf in der sagittalen Ebene, der M. longissimus sowohl in der frontalen als auch in der sagittalen Ebene. Beim bipedalen Gang treten entgegengesetzte Becken- und Schulterbewegungen auf, zur Stabilisation der Lendenlordose bei Bewegung sind daher auch gut entwickelte Außenrotatoren der Hüfte, eine gut ausgebildete Schultermuskulatur und ein stark entwickelter M.pectoralis notwendig.

Bei Versagen der Muskulatur kippt das Becken nach vorn und die Gewichtsbelastung auf die Bandscheiben LWK 4/5 und LWK5/SWK1 steigt an. Daher kommt es in dieser Höhe häufig zu Bandscheibenvorfällen, obwohl die degenerativen Veränderungen der Bandscheiben in dieser Höhe nicht stärker sind als in anderen Höhen.

Die Muskelaktivierung und -architektur des Menschen ist der des Vierfüßlers überlegen. Lage und Funktion verschiedener Muskeln insbesondere im Bereich der Hüfte haben sich während der Entwicklung zum Zweifüßler geändert. Der M. glutaeus maximus ist der größte Muskel des Körpers und sitzt beim Menschen mit seinem Muskelbauch am Po, beim Schimpansen am Oberschenkel neben den Oberschenkelbeugern. Der M. glutaeus maximus stabilisiert das Becken und den Rumpf über dem Standbein und streckt in der Hüfte. Er ist hauptverantwortlich für das Aufrichten des vorgebeugten Oberkörpers durch Extension des Beckens im Hüftgelenk. Er ist während des Laufens permanent aktiv.

Eine Schwäche des M. glutaeus maximus schwächt die Hüftstreckung und reduziert die Stabilität des Hüftgelenks in der Standphase. Eine Verkürzung des M. glutaeus maximus bewirkt eine vermehrte Streckung der Lendenwirbelsäule beim Versuch der Hüftstreckung.

Durch die sagittale Orientierung der Crista iliaca veränderte sich die Lage des M. glutaeus medius und M. glutaeus minimus und ließ diese zu Rotatoren im Hüftgelenk werden. Beide Muskeln stabilisieren das Becken auf der Standbeinseite. Eine Schwäche des M. glutaeus medius lässt das Becken auf der betroffenen Seite absinken, eine Schwäche des M. glutaeus minimus bewirkt eine Schwäche der Innenrotation und Abduktion, während eine Verkürzung des Muskels das Hüftgelenk in Abduktions- und Innenrotationsstellung bringt, welche eine Innenrotation des Oberschenkels und eine Valgusstellung der Kniegelenke bewirkt.

Im Vergleich zum Vierfüßler und Affen sind beim Menschen die Beine länger und die Oberschenkelstrecker viel stärker ausgebildet als die Oberschenkelbeuger, denn sie müssen das Gewicht beim Aufsetzen des Fußes abbremsen. Der Vierfüßler gewinnt den stärksten Antrieb aus der Beugenmuskulatur. Die starke axiale Belastung als auch die kräftige Muskulatur wirken beim Menschen als starker Stimulus für Knochenwachstum und -dicke (Sumner und Andriacchi 1996) (Schmitt, 2003), der Femur ist daher beim Zweifüßler stärker als beim Affen und Vierfüßler ausgebildet.

Die Wadenmuskulatur nimmt beim Menschen einen höheren Platz am Unterschenkel ein und mündet in die Achillessehne, damit wird das Gewicht des distalen Unterschenkels reduziert. Auch der Fuß des Menschen unterscheidet sich sowohl erheblich vom Vierfüßler als auch vom Affen. Der menschliche Fuß ist durch ein Fußgewölbe ausgezeichnet, eine schmale Ferse und eine nach innen rotierte Großzehe, der erste Metatarsalknochen ist kräftig ausgebildet, da auf diesen erhebliche Kräfte einwirken. Beim Schimpansen ist der Fuß flach, die Zehen lang und die große Zehe weist nach außen.

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Energieverbrauch des bipedalen Gangs

Der Energieverbrauch des bipedalen Gangs wird im Vergleich zum Vierfüßler als mindestens 30% höher angesehen. Training und ein individuell abgestimmtes Bewegungsmuster verringern den Energieverbrauch. Beckenrotation, Beckenkippung, seitliche Beckenverschiebung und das Zusammenspiel von Knie- und Sprunggelenk verleihen dem Gang ein sinusoidales Muster (Vaughan 2001), welches energetisch günstig ist. Schrittlänge, Schrittfrequenz und Gelenkwinkel stellen ebenfalls ein Maß für Muskelaktivität und Energieverbrauch dar (Saunders 1953). Jeder Mensch hat daher ein individuelles Gangmuster, mit einem charakteristischen Verhältnis zwischen Schrittlänge und Schrittfrequenz, um den Energieverbrauch niedrig zu halten (Zarrugh 1974). Der Energieaustausch ist durch eine verbesserte Beweglichkeit der Knie- und Sprunggelenke und die Abrollbewegung des Fußes beim Menschen verbessert und die Bodenreaktionskräfte durch die geringere Verschiebung des Körperschwerpunktes vermindert (Farley et al. 1998). Bei eingeschränkter Knie- und Fußbeweglichkeit bewegt sich das Zentrum der Masse stärker auf und ab und die Bodenreaktionskräfte nehmen zu. Bei Ermüdung der Muskulatur und bei höherer Laufgeschwindigkeit bewegt sich das Massenzentrum um ca. 26% stärker.

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Auswirkung von Muskelermüdung

Menschen, die man in selbst gewähltem Tempo gehen ließ, zeigten eine beginnende Ermüdung nach 30-50 min Gehen, wobei ältere Versuchspersonen früher als jüngere ermüdeten. Das EMG-Signal nahm deutlich ab und die mittlere Zeit für einen Gehzyklus nahm ebenso wie die Variabilität des Gehzyklus zu. Muskelmüdigkeit verringert außerdem die Bewegungskontrolle (Yoshino et al. 2004). Ermüdungszustände wirken sich stärker auf Extensoren als auf Flexoren aus, so dass es bei Ermüdung zu vermehrter Hüftbeugung mit einer sitzenden Haltung beim Laufen kommt, was durch eine schwächere Kniestreckung in der hinteren Stützphase unterstützt wird. Die Ermüdung der Rücken- und Bauchmuskulatur lässt das Becken nach vorn absinken und kann eine vermehrte Innenrotation des Oberschenkels bewirken. Nach Voloshin (1998) kann ein ermüdetes Muskelsystem den Aufprall beim Aufsetzen der Ferse nicht mehr entsprechend abfangen. Eine Reduktion des Geh- und Lauftempos hilft zunächst, Becken und Rumpf stabil zu halten (Mizrahi et al (2000 a,b) und die Belastung der Gelenke beim Aufsetzen der Ferse zu reduzieren (Voloshin 1998).

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Besteht ein Zusammenhang zwischen Muskelfunktion und Rückenschmerzen

Bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen wird häufig eine Schwäche der Rumpfstrecker gefunden (Iwai 2004). Der M. multifidus ist bei Menschen mit Rückenschmerzen wesentlich leichter ermüdbar als bei Menschen ohne Rückenschmerzen. Patienten mit chronischen Rückenschmerzen haben ein signifikant geringeres Volumens des M. multifidus und des M. transversus abdominis und zeigen eine reduzierte (Hides et al. 1994) bzw. zeitlich verzögerte Aktivierung dieser Muskeln (Hodges et al. 1996, 1998). Neben Muskelinsuffizienzen finden sich bei Patienten mit Rückenproblemen auch gehäuft Muskelverkürzungen im Bereich des M. erector spinae, des M. psoas, der Hüftaußenrotatoren, der Oberschenkelbeuger, des M.rectus femoris und des M. gastrocnemius. Eine Verkürzung des M. glutaeus minimus bewirkt nicht nur eine Abduktionsstellung der Hüfte, sondern begünstigt auch eine Innenrotation des Oberschenkels und eine Valgusstellung im Kniegelenk. An diesem Beispiel sieht man, dass bei Zweifüßlern Hüft- Knie- und Sprunggelenk eine kinematische Kette bilden und somit ein Gelenk das andere beeinflusst. Damit haben Muskelermüdung als auch Muskelverkürzungen im Bereich eines Gelenkes erhebliche Auswirkungen auf die Nachbargelenke.

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Die Bedeutung der Muskulatur für die Stabilität des Rumpfes bei Zweifüßlern

Die vorherigen Ausführungen ha-ben gezeigt, dass das Skelett- und Muskelsystem des Menschen während der Entwicklung zum aufrechten Gang erhebliche Veränderungen erfahren hat. Die Stabilität der Wirbelsäule und der Gelenke ist weit gehend durch Bänder und Muskeln gesichert. Das bedeutet, dass Muskelschwäche und frühzeitige Ermüdung der Muskulatur durch mangelndes Training einen Verfall der Haltung und eine Destabilisation von Rumpf und Becken unter Belastung verursachen. Damit wird eine unphysiologische Belastung der Sehnen und knöcherne Strukturen erzeugt.

Die Befunde bei chronisch Rückenkranken zeigen, dass ein enger Zusammenhang zwischen Muskelschwäche und Rückenerkrankungen besteht. Durch den Wandel der Lebensweise ist die Bevölkerung zunehmend weniger trainiert und leidet unter Muskelinsuffizienzen. Der Mensch wurde nicht nur sesshaft sondern "sitzhaft". Eine schwache Rücken- und Bauchmuskulatur lässt schnell aus der Lendenlordose eine Kyphose mit Verkürzung der Beugemuskulatur werden. Um dem entgegenzuwirken, wäre es notwendig, das Muskelkorsett zu trainieren.

Vor 100 Jahren erzeugte menschliche Muskelkraft 90% des Gesamtenergieaufkommens der Volkswirtschaft, heute liegt dieser Anteil unter 1%. 60% der Erwachsenen bewegen sich zu wenig. Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung bewegen sich deutsche Schulkinder ca. eine Stunde pro Tag. Nach einer amerikanischen Studie verbringen Kinder pro Woche im Durchschnitt 15-20 Stunden vor dem Fernseher und treiben 5 Stunden Sport. 1977 liefen 6-10-jährige in 6 Minuten noch 1150 m, während sie heute nur noch 550 m bewältigen. Kinder der ostafrikanischen Hochebene laufen ca. 60-70 km in der Woche, deutsche Kinder im Schnitt 6 km. Jedes 5. Kind in Deutschland leidet an Adipositas und jedes 10. Kind an Haltungsschwäche. Mangelndes Training schwächt jedoch nicht nur die Muskelkraft, sondern auch die Koordination und das Gleichgewicht. 1975 konnten 12-jährige im Durchschnitt 55 s mit geschlossenen Augen auf einem Bein stehen, heute sind es im Durchschnitt 20 s. Koordinationsstörungen behindern auch das harmonische Zusammenspiel der Muskulatur bei komplexen Bewegungsabläufen.

Im Alter macht sich mangelndes Muskeltraining noch stärker bemerkbar, da der Körper ab dem 30. Lebensjahr ohne Muskeltraining ca. 3 kg Muskelmasse pro Jahrzehnt verliert! Ungünstigerweise atrophieren die Muskeln, die Becken und Rumpf stabilisieren und aufrichten, besonders rasch. Dies sind die Bauchmuskulatur, M. pectoralis, M. glutaes, M. rhomboidei und der M. multifidus. Daher ist es nicht verwunderlich, dass ältere Menschen häufiger unter Rückenschmerzen leiden.

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Bewegung ist auch für die Gelenke und die Bandscheiben notwendig

Bewegung fördert die Ernährung der Knorpelsubstanz und die Durchblutung der Synovia. Auch die Bandscheibe, die avaskulär ist, braucht Druck und Bewegung zur Flüssigkeitsaufnahme und Ernährung. Die Bandscheibe wird am besten beim Schwimmen und Liegen ernährt, am schlechtesten ist Sitzen insbesondere in Kyphosestellung. Bewegungsmangel reduziert den Blutfluss zu den Wirbeln, senkt die metabolische Rate und die Sauerstoffversorgung. Rauchen verschlechtert die Durchblutung und die Bandscheibenernährung zusätzlich.

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Auswirkungen des Trainingsmangels

Leider gilt das Prinzip der Adaptation auch für eine Unterforderung des Körpers und nicht nur für die Anpassung an Trainingsreize. Muskulatur, die nicht trainiert wird, atrophiert, sehr gut ist dies nach Gipsimmobilisation zu sehen. Zusätzlich sinkt bei mangelnder Belastung die Knochendichte. Treten Schmerzen auf, werden vom Körper zum Schutz der Strukturen die Muskeln, die schmerzhafte Bewegungen auslösen, zentral weniger angesteuert, was zu weiterer Muskelatrophie führt. Bei fehlender zentraler Aktivierung ist die Muskelatrophie zudem größer als bei einer reinen Inaktivitätsatrophie (Engelhardt& Freiwald, 1997). Übungsmangel führt zu einem insgesamt geschwächten Muskel-Knochen-Sehnen-System. Eine schlechte Haltung und mangelnde Stabilität sind die Folge. Langes Sitzen mit nach vorn gebeugtem Kopf und kyphotischer Lendenwirbelsäule wie beim Fernsehschauen und Computerarbeit belasten die Wirbelsäule maximal. Übergewicht mit entsprechend schlaffer Bauchmuskulatur verlagert zusätzlich den Körperschwerpunkt nach vorn, der normalerweise direkt hinter den Wirbelkörpern und vor dem Rückenmark liegt und erhöht die Belastung der Lendenwirbelsäule. Bandscheibenschädigungen, welche zu einer Höhenminderung führen, verändern die Biomechanik der Wirbelsäule, so dass die Gelenkflächen zwischen den Wirbeln nicht mehr exakt zusammen passen.

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Warum sind Überlastungen des Bewegungsapparates auch bei Sportlern so häufig?

37-56% der Läufer sind jedes Jahr verletzt. Neben Rückenschmerzen klagen Läufer über Schmerzen an Achillessehne, Sprung- und Kniegelenk. Sportler haben sicher keinen Bewegungsmangel und meistens auch eine gesunde Lebens- und Ernährungsweise. Hochleistungssport ist jedoch eine Erfindung des Menschen. Um Höchstleistungen in einer Disziplin zu erbringen wird auf eine Spezialisierung der Muskulatur hintrainiert, d.h. um die Leistung zu bringen, wird eine Muskeldysbalance in Kauf genommen. Bei Leistungssportlern steht oft eine spezifische Muskelhypertrophie einer relativen Muskelatrophie in anderen spezifischen Muskelgruppen gegenüber. Besteht zum Beispiel ein Ungleichgewicht zwischen Hüftabduktoren und Hüftadduktoren kommt es zu einer schaukelnden Bewegung der Hüfte mit Absinken der Hüfte während der Schwungphase (Pseudo-Trendelenburg-Zeichen). Eine instabile Hüfte ruft Überlastungen der lateralen Hüft- und Kniestrukturen hervor. Die vermehrte Beckenkippung macht eine stärkere Kniebeugung notwendig, welche die Patella härter gegen den Femur presst. Problemen im patellofemoralen Gelenk wird somit der Weg gebahnt. Sowohl bei Leistungssportlern als auch bei leistungsorientierten Breitensportlern wird allerdings ein allgemeines Athletiktraining oft vernachlässigt. Hochleistungssportler gehen zudem an Belastungsgrenzen, und kleine biomechanische Abnormalitäten wie Achsenfehler oder Beinlängendifferenzen können zu bestimmten Verletzungsarten prädisponieren. Im Leistungssport zählen aber auch traningsmethodische Fehler und Technikfehler zu den Verletzungsursachen (Agosta, 2002; Neely 1998).

Zusammenfassend kann geschlossen werden: das Skelett- und Muskelsystem des Menschen sind gut an den aufrechten Gang adaptiert. Der Mensch braucht aber eine intakte, trainierte Muskulatur, um die Körperhaltung zu stabilisieren und die Belastung der Gelenke zu reduzieren. Durch nicht- oder ungenügend trainierte Muskulatur kann die Körperhaltung insbesondere unter Belastung nicht aufrechterhalten werden oder geht durch frühzeitige Ermüdung verloren. Veränderungen in einem Gelenk wirken sich beim aufrechten Gang auch auf die Nachbargelenke aus (kinematische Kette). Übergewicht erhöht die Belastung der Lendenwirbelsäule und der Gelenke durch Erhöhung der axialen Belastung und Verlagerung des Körperschwer-punktes nach ventral. Die Entwicklung des aufrechten Gangs und die Konstruktion der Wirbelsäule sind keine Fehlentwicklungen, aber unser Lebensstil ist nicht mehr geeignet, die muskuläre Stabilisation aufrechtzuerhalten. Schmerzen des Rückens und der unteren Extremität sind nicht das Schicksal der Zweibeiner, sondern nach Bronowski muss man sagen, die Rückkehr zur Funktion ist wichtig, nicht Schonung. Wirkliche Evolution ist die Aneignung neuer Verhaltensweisen, in diesem Fall würde es bedeuten, die Aneignung eines aktiven Lebenstils mit entsprechendem Training der Muskulatur.

Literatur bei der Verfasserin.

Dr. Iris Reuter

Neurologische Klinik Justus-Liebig Universität Gießen

 
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Dr. Iris Reuter