Z Orthop Ihre Grenzgeb 2004; 142(5): 507-510
DOI: 10.1055/s-2004-835149
Orthopädie aktuell

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Integrierte Versorgung bei Hüftendoprothesen - Finanzierungsmodell der Zukunft?

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Publikationsdatum:
12. Oktober 2004 (online)

 
Inhaltsübersicht

Im deutschen Ärtzteblatt 4/2004 wurde die Integrierte Versorgung nach §140 a-h SGB V und die Medizinischen Versorgungszentren als zentrale Strukturelemente des GKV Modernisierungsgesetzes bezeichnet. Der Geschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Jörg Robbers, bezeichnete die Integrierte Versorgung als Modell der Zukunft. Daneben finden sich auch kritische Stimmen, die vor einer Auflösung der bisherigen Versorgungsstrukturen warnen oder die Integrierte Versorgung als "Mogelpackung" bezeichnen. Welche Chancen und Gefahren ergeben sich aus der Integrierten Versorgung für Orthopädische Kliniken?

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Wettlauf um "Win-Win-Verträge"

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Dr. med. Holger Haas

Besondere Brisanz erhält das Thema Integrierte Versorgung durch die Möglichkeit, diese Projekte durch den Einbehalt von 1% des Budgets der Krankenhäuser und der Kassenärztlichen Vereinigungen zu fördern ("Anschubfinanzierung"). Hiermit steht ein mögliches Volumen von 680 Mio 8 zur (Um-)Verteilung zur Verfügung. Jeder Leistungsanbieter ist daher zunächst daran interessiert, drohende Budgetkürzungen abzuwenden. So ist zwischenzeitlich ein "Wettlauf um Win-Win-Verträge" (Dt. Ärzteblatt, 2. August 2004) entstanden.

Die primäre Zielsetzung des Gesetzgebers war es, die durch die sektorale Ausrichtung des deutschen Gesundheitswesens bestehenden Probleme bei der Versorgung der Patienten zu reduzieren. Hierdurch sollten vor allem Hausarztmodelle und Netzwerkstrukturen in der Primärversorgung der Patienten unterstützt werden. Die Übernahme einer umfassenden (primär-) ärztlichen Versorgung für eine gesamte Patientengruppe (z.B. die Patienten einer Krankenkasse in einer Region) würde zu einem Capitation Modell führen, bei dem auch die Übernahme der Budgetverantwortung für dieses Patientenkollektiv möglich ist.

Erste Anwendungen Integrierter Versorgungsverträge entstanden jedoch bei definierten Krankheitsbildern. Besonders geeignet erschien hierbei auf orthopädischem Gebiet die Endoprothetik, bei der ein hohes Standardisierungspotential zu erwarten ist.

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Gesetzliche Voraussetzungen

Zentrales Merkmal und Voraussetzung für die Etablierung einer Integrierten Versorgung ist das Prinzip der sektorübergreifenden oder interdisziplinären Kooperation. Die Teilnahme an einem solchen Modell steht aufgrund des Gesetzes den bisherigen Leistungserbringern im Gesundheitswesen offen. Daneben können jedoch auch Gemeinschaften von Ärzten und Medizinische Versorgungszentren (nach §95 Abs. 1 SGB V) sowie sonstige, bisher nicht zur kassenärztlichen Versorgung ermächtigte Anbieter eingebunden werden. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ergibt sich somit die Möglichkeit einer Make-or-Buy-Strategie, durch die der Leistungserbringer in die Lage versetzt wird, Leistungen, die er selbst nicht oder nur unwirtschaftlich erstellen kann, einzukaufen und im Rahmen der Integrierten Versorgung dem Patienten zur Verfügung zu stellen. Daneben besteht eine Verpflichtung zur qualitätsgesicherten, wirksamen, ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung. Zudem muss sie dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen. Für den Patienten ist die Teilnahme an einem Modell der Integrierten Versorgung freiwillig.

Als minimale Variante einer Integrierten Versorgung ist somit die Behandlung von Patienten mit einer Erkrankung (indikationsbezogen) unter Einbeziehung zweier Sektoren (z.B. Akutkrankenhaus und Rehabilitations-Einrichtung) denkbar. Diesem Modell sind die ersten Verträge zur Integrierten Versorgung entsprechend einer Komplexpauschale gefolgt.

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Motive

Die Motive für die Teilnahme an der Integrierten Versorgung sind vielschichtig und vom Blickwinkel des Vertragspartners abhängig. Mit der vom Gesetzgeber angestrebten Verbesserung der sektorübergreifenden Versorgung soll es natürlich auch zu einer Kostenreduktion kommen. Hierin besteht hohe Übereinstimmung mit den Krankenkassen. Zur Erreichung dieses Ziels ist aus Sicht der Kassen die Auflösung bestehender Strukturen und damit die Initiierung eines Wettbewerbs zwischen den Leistungsanbietern erforderlich.

Die Kassenärztlichen Vereinigungen wollen die Interessen der niedergelassenen ärztlichen Kolleginnen und Kollegen durch Wahrung des vorhandenen Gesamtvertretungsanspruchs schützen. So sind es in der Regel nicht die KVen, die den Einstieg in entsprechende Modelle der Integrierten Versorgung suchen.

Der Einzelbetrieb Arztpraxis ist jedoch vor allem an einer Erhaltung der eigenen Einkommenssituation interessiert, die aus Sicht der Praxis durch die Bildung von Partnerschaften mit anderen Leistungsanbietern erhalten oder ausgebaut werden kann.

Das Krankenhaus als zentraler Partner sieht sich derzeit in der Notwendigkeit, je nach Größe des Hauses ein Überleben bzw. eine Sicherung der Marktposition zu erreichen. Durch Etablierung strukturierter Versorgungsformen in der Integrierten Versorgung können Beziehungen zu Zuweisern und den anderen Partnern gefestigt werden. Daneben kann durch Nutzung der Entwicklungsmöglichkeiten eine Verbesserung der Erlössituation des Krankenhauses angestrebt und damit wiederum eine Sicherung der Marktposition erreicht werden. Optimal aus Sicht des Krankenhauses wäre die Ausweitung der bisherigen Mengenbeschränkung durch Umlenkung der Patientenströme bei verbesserter Kostenstruktur durch Einführung optimierter Behandlungsabläufe und der Nutzung von Skaleneffekten z.B. beim Einkauf von Prothesen.

Der Patient ist an einer Optimierung der Behandlung und einer Verkürzung der Liegedauer interessiert, evtl. verbunden mit einer Verringerung des von ihm zu leistenden finanziellen Aufwands. Auch bisher nicht direkt an der Versorgung teilnehmende Anbieter können Interesse an einer Teilnahme an der Integrierten Versorgung haben, allerdings mit sehr unterschiedlichen Motiven.

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Integrierte Versorgung am Universitätsklinikum Gießen

An der Orthopädischen Universitätsklinik in Gießen wurde bereits in den Jahren 2000 und 2001 kurz nach Einführung der gesetzlichen Grundlage an einem Komplexpauschalenmodell für die Hüftendoprothetik gearbeitet. Zusammen mit dem Institut für Integrative Versorgung in der Medizin (IVM), einer am Universitätsklinikum Gießen etablierten GmbH, konnte die Umsetzung im Jahr 2003 erfolgen. Wesentliche Tätigkeiten in der Vorbereitungsphase betrafen die Kalkulation der Komplexpauschale, wobei durch die - wie an der Mehrzahl der deutschen Krankenhäuser - fehlende Möglichkeit einer Kostenträgerrechnung deutliche Schwierigkeiten bestanden. Weiterhin wurde ein ausführliches, durch aktuelle Literatur unterlegtes Behandlungsmanual erarbeitet. Schließlich erfolgte die Gestaltung des Vertrages zwischen der Verwaltung des Klinikums und der AOK.

Aufgrund dieser Vereinbarung wurden im Jahr 2003 an Patienten der AOK Hessen nach Berücksichtigung von Ein- und Ausschlusskriterien primäre Hüftendoprothesenimplantationen durchgeführt. Partner dieser Integrierten Versorgung waren als Akutkrankenhaus die Orthopädische Klinik des Universitätsklinikums Gießen sowie zwei Rehakliniken der Region. Neben der zu einem Festpreis ("Komplexpauschale") erbrachten präoperativen Vorbereitung, der akutstationären Behandlung und der Rehabilitation (i.d.R. 3 Wochen) waren Nachuntersuchungen und eine Gewährleistung im Hinblick auf aseptische Prothesenlockerungen Bestandteil des Vertrages. Besondere Schwierigkeiten bestanden in der Handhabung der Budgetierung, die zu ungewollten internen Effekten führte.

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Tab. 1 Bestehende und potenzielle Vor- und Nachteile der Integrierten Versorgung

Die Gewährung einer Garantie setzt die Anwendung von Ausschlusskriterien bei der Patientenauswahl zwingend voraus, da ansonsten das finanzielle Risiko für den Gewährleistungserbringer nicht kalkulierbar ist. Hierdurch droht aber in Abhängigkeit von der zu versorgenden Patientengruppe eine Beschränkung der Fallzahl für das Projekt. Gerade Universitätskliniken mit ihrem potenziell risikoreicheren Patientenkollektiv drohen hier Nachteile.

Ein weiterer wichtiger Aspekt besteht in der fehlenden Kalkulierbarkeit von für die Gewährleistung notwendiger Rückstellungen aufgrund der großen Auswirkungen statistischer Streuungen bei nur geringen Fallzahlen. So kann ein einzelner Fall die Komplikationsrate prozentual deutlich erhöhen und damit die finanzielle Belastung aus der Gewährleistung massiv ansteigen lassen. Zudem muss die Vergleichbarkeit lokaler Patientenkollektive mit den großen, zur Verfügung stehenden Statistiken ("Schwedenregister") zumindest noch belegt werden.

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Vertragsmodifikation nach Einführung der DRG

Die gewonnenen Erfahrungen aus dem Jahr 2003 und die geänderten Bedingungen durch die Umstellung auf die Abrechnung der Krankenausleistungen nach DRG wurden in einen modifizierten Vertrag für das Jahr 2004 und folgende eingearbeitet. Kernpunkte der Vertragsmodifikation sind die Aufgabe der Ausschlusskriterien unter Verzicht auf eine Gewährleistung und die Nut-zung der Anschubfinanzierung zur Weiterentwicklung des Modells. Insbesondere ist es das Ziel, auch niedergelassene Orthopäden und ambulante Rehaeinrichtungen in das Modell zu integrieren. An die Stelle der formalen Gewährleistung ist ein Sonderkündigungsrecht bei Qualitätsmängeln und die Verpflichtung zur umfassenden Auswertung und Bewertung der erzielten Ergebnisse getreten. Insbesondere sollen Einflüsse durch lokale Unterschiede im Patientenkollektiv Berücksichtigung finden. Gerade im Punkt der Gewährleistung ist auf Seiten der Verhandlungspartner der Krankenkasse eine Änderung der Einstellung zu verzeichnen gewesen. So wurde die für industrielle Fertigungsprozesse durchaus richtige Vorstellung, dass eine Garantiegewährung zu einer höherwertigen Leistung führt, zumindest für die medizinische Leistungserstellung aufgegeben.

Damit werden an der Orthopädischen Klinik der Universität Gießen alle Patienten der AOK Hessen, die entsprechend des Grouping Prozesses in eine DRG der Hauptgruppe I03 fallen und einer Teilnahme zustimmen, im Rahmen der Integrierten Versorgung behandelt. Dies bedeutet, dass auch Wechseloperationen in das Projekt eingeschlossen sind. Zudem ist es gelungen, die Vereinbarung auf die Knieendoprothetik auszuweiten.

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Wertung

Aus einem Modell der Integrierten Versorgung, wie es hier beschrieben wurde, ergeben sich zwangsläufig Vor- und Nachteile für die beteiligten Gruppen. Als größter Nachteil wird häufig die Aufweichung der vorhandenen Strukturen angeführt, durch den es zu einem Wettbewerb der Anbieter kommen kann, der letztlich zu einem Verfall der zu erzielenden Preise führen kann. Somit würde die Reduktion der Integrierten Versorgung zu einem Einkaufsmodell mit der Ausbildung von Dumpingpreisen drohen.

Die Freiwilligkeit der Teilnahme auf Seiten der Patienten und ein auf der Qualitätsebene zu führender Wettbewerb mit Herausarbeitung von Alleinstellungsmerkmalen auf Anbieterseite stehen diesen Befürchtungen entgegen. Auch kann es nicht im Interesse der beteiligten Krankenkassen sein, aus Sicht der Patienten eine "Billigversorgung" anzubieten. Gerade die erreichten Einsparungen auf der Kostenseite sollen es auch in Zukunft ermöglichen, die Verwendung aufwändiger Implantate und die individualisierte Versorgung der Patienten zu gewährleisten.

Die offene Kommunikation des Modells nach innen und außen führt zu einer erhöhten Transparenz, die ja gerade auch im Hinblick auf die Darstellung der Medizin und ihrer Einrichtungen in der Öffentlichkeit nur von Vorteil sein kann.

Bei der Vertragsgestaltung liegt derzeit der Informationsvorteil sicher bei den Kassen, die über eine zentrale Stelle zur Auswertung der Verträge verfügen. Die Krankenhäuser und niedergelassenen Ärzte sehen sich als Individuum dieser Übermacht häufig wehrlos ausgesetzt und bemängeln eine gewisse Willkür in der Entscheidung über die Annahme oder die Ablehnung eines Vertragsmodells durch die Kassen.

Die Einräumung einer Gewährleistung ist aus unserer Sicht bei begrenzter Fallzahl ein betriebswirtschaftlich nicht zu kalkulierender Faktor. Hinzu kommt, dass wie bereits ausgeführt, verlässliche und gültige Vergleichszahlen noch nicht vorliegen. Die Erarbeitung valider Zahlen für ein Benchmarking ist daher von großer Bedeutung für die zukünftige Weiterentwicklung der Integrierten Versorgung. Die Heranziehung von externen Daten, wie sie z.B. von der BQS erhoben werden, erscheint aus verschiedenen Gründen nicht vollständig zu befriedigen.

Mögliche Probleme bei der technischen Umsetzung der Abrechnung im Hinblick auf das Krankenhausbudget und die von anderer Seite angemahnte Notwendigkeit zur öffentlichen Ausschreibung sind derzeit ebenfalls im Fokus der Diskussion.

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Ausblick

Neue Modelle in der Kooperation zwischen den Anbietern im Gesundheitswesen und den Krankenkassen als Träger der Kosten werden zunehmende Bedeutung erlangen. Entscheidend ist es aus unserer Sicht hierbei, den angestoßenen Prozess mitzugestalten, um nicht dem Entwicklungsprozess hinterherzuschauen, sondern als aktiver Partner die Interessen der eigenen Gruppe zu wahren. Zudem kann durch eine Optimierung der Prozesse zum einen die vom Patienten wahrgenommene Behandlungsqualität gesteigert und andererseits Kosten gesenkt werden. Zu einer endgültigen betriebs- und volkswirtschaftlichen Bewertung der Modelle müssen jedoch noch große Anstrengungen unternommen werden. Als Vorbereitung für ein Projekt der Integrierten Versorgung dient die Erstellung eines ausführlichen Geschäftsplans, aus dem die Einzelheiten der Vertragsgestaltung und die strategischen Ziele der Unternehmung hervorgehen.

Die geführten Verhandlungen zeigen, dass es gerade zwischen den beteiligten internen wie externen Partnern zu kreativen Gesprächen und praktikablen Problemlösungen kommen kann.

Literatur beim Verfasser.

Dr. med. Holger Haas, Leitender Oberarzt der Orthopädischen Universitätsklinik Gießen

Facharzt für Orthopädie und Spezielle Orthopädische Chirurgie, Gesundheitsökonom (ebs)

 
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Dr. med. Holger Haas

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Tab. 1 Bestehende und potenzielle Vor- und Nachteile der Integrierten Versorgung