Die Möglichkeiten der Behandlung von Symptomen der MS [Tab. 1] wurden in den vergangenen Jahren zwar deutlich verbessert. Diese Behandlung ist
allerdings aus mehreren Gründen noch immer nicht ausreichend:
-
einige Symptome sind immer noch wenig bekannt (z.B. Fatigue) oder werden von Patienten
und behandelnden Ärzten nicht in direkte Verbindung mit der MS gebracht (z.B. verschiedene
Schmerzarten bei MS)
-
viele der zur Verfügung stehenden Medikamente sind für die Indikation „Multiple Sklerose”
oder die Therapie spezieller Symptomenkomplexe nicht untersucht oder zugelassen
-
es besteht keine längere Zeiträume umfassende Dokumentation des individuellen Krankheitsverlaufes
und der ggf. bereits versuchten Therapien
-
bislang existierten nur für wenige Symptome evidenz-basierte oder im Rahmen eines
Expertenkonsensus entwickelte Behandlungsvorschläge.
Andererseits kann oftmals auf umfangreiche Erfahrungen von langjährig mit der Therapie
der MS vertrauten Ärzten und Kliniken zurückgegriffen werden. Kürzlich wurden deshalb
Leitlinien zur Symptomatischen Therapie der MS entwickelt, in dem die bestehenden
Evidenzen und die Therapieerfahrungen von langjährig mit der MS-Therapie befassten
Neurologen im Sinne einer Experten-Empfehlung zusammengestellt sind (42). Wichtig
ist es dabei zu vermeiden, dass viele offenkundig wirksame, jedoch nicht evidenz-basierte
Behandlungsmöglichkeiten im Rahmen von „off-label”-Regelungen künftig entfallen und
damit erhebliche therapeutische Lücken entstehen. Zu einer umfassenden symptomatischen
Therapie gehören auch eine effektive Rehabilitation sowie die palliative Therapie
schwerkranker MS-Patienten. Diese beiden Bereiche können hier aus Platzgründen jedoch
nicht dargestellt werden.
Spastik
Spastik
Spastik führt leicht zu einer ausgeprägten Beeinträchtigung körperlicher Funktionen
und damit von Alltagsfähigkeiten, insbesondere zu erheblicher Einschränkung der Mobilität.
Der Muskeltonus kann permanent (tonische Spastik) oder intermittierend (phasische
Spastik) gesteigert sein. Letztere ist zudem nicht selten sehr schmerzhaft. Folgen
der Spastik sind oft Kontrakturen sowie eine erschwerte Blasenentleerung und Intimpflege
(z.B. bei Adduktorenspastik).
Therapieziele sind das Erlernen spastikvermeidender Techniken in Bezug auf Haltung,
Lagerung und Transfer, die Verbesserung motorischer Funktionen unter Berücksichtigung
einer oft wichtigen Stützfunktion der Spastik, Schmerzreduktion, ggf. Erleichterung
pflegerischer Maßnahmen sowie die Vermeidung von Komplikationen (Kontrakturen, Dekubitalulzera).
Ihre Therapie umfasst - neben der Vermeidung und Behandlung spastikauslösender Faktoren
wie urogenitale Infekte, Störungen der Magen-Darm-Funktion, Schmerzen, etc. - zahlreiche
physiotherapeutische Techniken und orale sowie parenterale Medikamente. Als ultima
ratio kommen operative Methoden zum Einsatz, alternativmedizinische Methoden sind
kaum evaluiert.
Die Physiotherapie ist die Basis jeglicher Spastik-Therapie. Am häufigsten werden
die Verfahren nach Bobath, Vojta sowie die propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation
(PNF) angewandt. Wichtig sind dabei eine ausreichende Intensität und Häufigkeit (29).
Neben diesen „konventionellen” Physiotherapie-Techniken kommen zunehmend auch apparative
Methoden zur Anwendung, insbesondere Laufbandtraining mit Körpergewichtsentlastung
und motorgetriebene Fahrräder zur Durchführung passiver und aktiver Tretbewegungen
(24).
Passive Maßnahmen wie spezielle Lagerungen zur Dehnung spastischer Muskeln, regelmäßiges
Bewegen aller wichtigen Gelenke, Benutzung dynamischer oder statischer Schienen sowie
von Airsplints reduzieren den erhöhten Muskeltonus. Mit Eis- und Kältebehandlungen
ist ebenfalls eine Tonusverminderung möglich (34).
Bei der medikamentösen Therapie ist die flexible Gabe von Antispastika wichtig. Da
die Spastik gelegentlich paretische Extremitäten „stabilisieren” kann, sollte sie
in einem solchen Fall nicht gänzlich ausgeschaltet werden. Medikamentös werden vor
allem Baclofen und Tizanidin eingesetzt (u.a. 56, 62), seltener Dantrolen und Tolperison.
Benzodiazepine haben einen guten antispastischen Effekt, sind aber auf Grund ihrer
unerwünschten Wirkungen allenfalls Reservemedikamente (44, 60). Die Wirksamkeit von
Gabapentin insbesondere bei der phasischen Spastik ist ebenfalls belegt (8), die Substanz
ist in Deutschland allerdings nicht für diese Indikation zugelassen.
Cannabis-Präparate (siehe auch Beitrag von Neuhaus) können zu einer Besserung des
Gehvermögens sowie einer subjektiven Schmerzreduktion führen, ein direkter antispastischer
Effekt war bislang jedoch nicht sicher nachweisbar (70). Ihr Einsatz kann daher derzeit
nur im Rahmen von Studien oder in Einzelfällen durch MS-Therapeuten mit großer Erfahrung
empfohlen werden.
Botulinumtoxin A ist vor allem bei lokaler Spastik, z.B. ausgeprägter Adduktoren-Spastik
indiziert. Bisherige Studien haben den Wert dieser Therapie zweifelsfrei belegt (27,
63). Auch diese Behandlung ist zumindest derzeit in Deutschland „off label”, der Arbeitskreis
Botulinumtoxin e.V. der DGN empfiehlt sie auf Grund der vorliegenden Daten jedoch.
Auch die kontinuierliche Applikation von intrathekalem Baclofen mittels einer implantierbaren
Pumpe ist bei schwerer und ansonsten therapieresistenter Spastik wirksam. Die Therapie
führt zu einer deutlichen Reduktion des Muskeltonus sowie der Häufigkeit spontaner
Muskelspasmen (35). Auf Grund der Gefahr auch schwerwiegender Komplikationen wie Muskelschwäche,
Bewusstseinsstörungen, Infektionen oder Katheterdislokationen ist jedoch eine regelmäßige
fachkundige Betreuung erforderlich.
Die intrathekale Gabe von Triamcinolon-Acetonid-Kristallsuspension ist zukünftig eventuell
ein weiterer Weg zur Therapie einer spinalen Spastik, nachdem jüngst gezeigt werden
konnte, dass hiermit eine Verlängerung der Gehstrecke sowie eine Verbesserung im EDSS
nachweisbar sind und ernste Nebenwirkungen nicht auftraten (25). Auch diese Therapie
sollte allerdings nur innerhalb von Studien oder in Kliniken mit besonderer Erfahrung
erfolgen.
Müdigkeit („Fatigue”)
Müdigkeit („Fatigue”)
Als Fatigue wird die z. T. stark behindernde, abnorme körperliche und kognitive Ermüdbarkeit
bezeichnet, an der bis zu 75 % aller MS-Patienten im Krankheitsverlauf leiden. Wärme
verschlechtert die Beschwerden oft; sie können eine wesentliche Einschränkung der
Lebensqualität darstellen. Die Fatigue kann mit Hilfe mehrerer Skalen quantifiziert
werden (33). Die Behandlung zielt auf eine Minderung der subjektiven Behinderung und
die möglichst uneingeschränkte Teilnahme am Alltagsleben.
Die Behandlung der Fatigue umfasst vor allem Kühlung, körperliches Training, Rehabilitations-
sowie medikamentöse Maßnahmen. Auch sollten andere Ursachen des Symptoms, z.B. Depression,
Hypothyreose oder sedierende Medikamente, ausgeschlossen werden. Kühlung des Körpers
oder der Gliedmaßen durch Kühlelemente, kühle Bäder oder externe Klimatisierung ist
oft wirksam und rasch verfügbar. Entsprechende Untersuchungen berichten deutliche
Verminderungen der „Fatigue” nach Kühlung über ca. 30-45 Minuten mit einer Dauer der
Effekte über maximal wenige Stunden (43). Auch körperliches, insbesondere aerobes
Training bessert das subjektive Befinden deutlich und führt zu nachweisbaren körperlichen
Trainingseffekten (39).
Zur medikamentösen Therapie werden Amantadin, 4-Aminopyridin, 3,4-Diaminopyridin und
Modafinil eingesetzt. Amantadinsulfat führt dabei zu moderaten Verbesserungen der
subjektiven Ermüdbarkeit bei insgesamt guter Verträglichkeit, ist allerdings für diese
Indikation bislang nicht zugelassen. 4-Aminopyridin (4-AP) wurde gegenüber 3,4-Di-Aminopyridin
(3,4-DAP) als wirksamer bei der Verbesserung temperaturabhängiger MS-Symptome beschrieben
(47). Die therapeutische Breite ist eher gering. Handelspräparate sind in Deutschland
nicht verfügbar. 4-AP und 3,4-DAP-Kapseln können aber auf ärztliche Einzelverordnung
von einem Apotheker zur Therapie angefertigt werden, wobei die schriftliche Aufklärung
des Patienten erforderlich ist. 4-AP ist offenbar bei wärmeabhängigen motorischen
Funktionsstörungen wirksam, insbesondere bei hohen Serumspiegeln (>30 ng/ml) (53).
Auch für Modafinil, ein alpha-adrenerges Medikament zur Behandlung der Narkolepsie,
wurden erste positive Erfahrungen berichtet (50, 71).
Schmerzen
Schmerzen
Relevante Schmerzzustände sind bei MS-Patienten sehr häufig (29 %-86 %). Andererseits
werden sie von den Patienten oft nicht spontan berichtet, so dass sie gezielt erfragt
werden sollten. Schmerzen bei MS sind klinisch außerordentlich unterschiedlich und
lassen sich in vier Kategorien unterteilen:
-
Schmerz als direkte Folge der MS: akute Optikusneuritis, Kopfschmerz bei Herd im Hirnstamm
oder Halsmark; paroxysmale Syndrome (Trigeminus- u.a. Neuralgien, paroxysmale Dyskinesien
mit schmerzhafter Muskelverkrampfung: tonische Hirnstammanfälle, Lhermitte-Zeichen);
chronische schmerzhafte Dys- und Parästhesien, pseudoradikuläre Schmerzen, Thalamusschmerz
-
Schmerz als indirekte Folge von MS-Symptomen: Gelenk-/Muskelschmerzen infolge Fehlhaltung;
Spastik, Kontrakturen, chronisch-dystrophe Syndrome, Druckläsionen; Dekubitus; viszerale
Schmerzen (Blasenstörungen, Obstipation); periphere Nervenläsionen (Fehlhaltung, ungeeignete
Hilfsmittel)
-
Schmerzen unter medikamentöser Therapie: Beta-Interferone, Glatiramerazetat
-
MS-unabhängige Schmerzen: „Rückenschmerz” (multifaktoriell, oft indirekte MS-Folge);
degenerative Knochenerkrankungen; Osteoporose, periphere Neuropathien, primäre Kopfschmerzen.
Schmerzen sollten hinsichtlich Dauer, Intensität, Begleiterscheinungen, möglicher
Auslöser und angewandter Therapien dokumentiert werden, die Schmerzintensität kann
mittels einer visuellen Analogskala abgeschätzt werden. Ziel der Behandlung ist die
Reduktion der Schmerzen und der hierdurch bedingten Beeinträchtigung von Mobilität,
Leistungsvermögen und seelischer Belastung sowie Besserung der Lebensqualität.
Therapie der Schmerzen bei MS:
-
Schmerz als direkte Folge der MS: Bei der akuten Retrobulbärneuritis ist die hochdosierte
Kortikosteroid-Infusion nach den Empfehlungen der MSTKG Therapie der Wahl (41). Zur
symptomatischen Behandlung der Trigeminusneuralgie und der sekundären paroxysmalen
Dyskinesien mit schmerzhafter Verkrampfung der Extremitätenmuskulatur (tonische Hirnstammanfälle):
s. Abschnitt „Paroxysmale Symptome”. Chronische Schmerzen als direkte MS-Folge manifestieren
sich meist als unangenehme „brennende” Dysästhesien an Extremitäten und Rumpf, oft
bilateral und asymmetrisch. Diese neuropathischen Schmerzen werden am besten mit trizyklischen
Antidepressiva und Antikonvulsiva behandelt, während Serotonin-Reuptake hemmende Antidepressiva
(SSRI) eher schlecht wirksam sind (61). Positive Berichte liegen auch zu Lamotrigin
(7), ebenso für Topiramat, Amantadin und Gabapentin (55) vor. Für letzteres besteht
eine Zulassung bei neuropathischen Schmerzen. Morphin ist bei zentralen Schmerzen
zwar wirksam, wird aber von den Patienten nur selten als Langzeittherapie akzeptiert
(3). Auch eine lokale Anwendung von Capsaicin (61) kann erwogen werden
-
Schmerz als indirekte Folge der MS: Ursächlich handelt es sich vor allem um fehlhaltungsbedingte
Überlastungen von Gelenken und Muskeln, so dass eine intensive Physiotherapie zum
Erlernen alternativer Strategien sowie die Optimierung der Hilfsmittelversorgung bedeutsam
sind. Ergänzend kommt ggf. - vor allem bei Schulterschmerzen - die Ultraschallbehandlung
bei kalzifizierter Tendinitis in Betracht (46). Die medikamentöse Therapie dieser
Schmerzsyndrome erfolgt am besten nach den Empfehlungen der Arzneimittelkommission
der deutschen Ärzteschaft (AKDÄ) zur Behandlung der Schmerzen bei degenerativen Gelenkerkrankungen
(www.akdae.de /35/10Hefte/87_Gelenkerkran kungen_2001_2Auflage.pdf).
Bei Schmerzen und schmerzhaften Sensibilitätsstörungen in Folge peripherer Druckläsionen
ist ebenfalls die Anpassung vorhandener Hilfsmittel erforderlich. Zur Vorbeugung eines
Dekubitus müssen Fehlhaltungen vermieden sowie ggf. die Lagerung optimiert werden.
Schmerzen durch therapeutische Maßnahmen beziehen sich auf lokale Schmerzen nach subkutan
injizierten Beta-Interferonen bzw. Glatiramerazetat und können oft durch Kälte-Applikation
vor und nach Gabe sowie eine optimale Injektionstechnik gebessert werden. Grippeähnliche
Symptome bei der Interferontherapie mit Muskelschmerzen erfordern die Gabe von Paracetamol,
Ibuprofen, anderen nicht-steroidalen Antirheumatika oder niedrigdosiertem Cortison
(51). Bei Zunahme von Kopfschmerzen unter der Therapie erfolgt eine Optimierung der
Attackenkupierung bzw. die Einleitung einer Prophylaxe nach DGN-Leitlinien.
Primär MS-unabhängige Schmerzen und Zweiterkrankungen: „Rückenschmerzen” kommen multifaktoriell
bei bis zu 39 % der MS-Patienten in Folge von Immobilisation, Muskelverspannungen,
Fehlhaltungen, Spastik der Rückenstrecker und auch degenerativen Wirbelsäulenveränderungen
vor. Auch hier ist die Physiotherapie mit Haltungs- und Transferschulung sowie Tonusregulierung
und die Verordnung geeigneter Hilfsmittel besonders wichtig, ggf. ist auch die Akupunkturmassage
wirksam (16), während für die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) divergierende
Daten vorliegen (37). Bei pseudoradikulären Schmerzen ist zunächst die entsprechende
Differentialdiagnostik erforderlich. Nicht alle Schmerzen dürfen „automatisch” auf
die MS zurückgeführt werden.
Blasenfunktionsstörungen
Blasenfunktionsstörungen
Neurogene Blasenfunktionsstörungen (BFS) treten im Verlauf der Erkrankung bei bis
zu 80 % aller MS-Betroffenen auf und schränken deren Lebensqualität erheblich ein
(siehe auch Beitrag von Flachenecker). Selten einmal sind sie sogar erste oder einzige
Manifestation einer MS. Man unterscheidet
-
die Detrusor-Hyperreflexie (spastische Blase) mit eingeschränkter Speicherfunktion
und imperativem Harndrang, erhöhter Miktionsfrequenz und Inkontinenz als häufigster
Form
-
die Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie mit Harndrang, verzögerter Blasenentleerung, Harnretention
und Inkontinenz, sowie
-
die Blasen-Hyporeflexie mit unvollständiger Blasenentleerung und erhöhtem Restharn-Volumen.
BFS sind häufige Ursache rezidivierender Harnwegsinfekte sowie von Schlafstörungen
durch Nykturie, ebenso von Blasen- und Unterbauchschmerzen mit assoziierter Spastik.
Sie münden zumeist in eine Detrusorhyperreflexie mit obstruktiver Komponente.
Die Basisdiagnostik beinhaltet ein Miktionstagebuch, Retentionswerte, Urostix, Mikrobiologie,
regelmäßige Restharn-Bestimmungen, ergänzend die Uroflowmetrie und Urosonographie
der harnableitenden Organe, ggf. auch die Urodynamik. Diese ist vor allem bei der
Erstdiagnostik einer BFS mit Inkontinenz und/oder deutlich erhöhten Restharn-Werten,
bzw. auffälliger Uroflowmetrie, sowie zur Abschätzung des Risikos schon bestehender
oder zu erwartender Sekundärschäden indiziert. Immer sollte die enge Zusammenarbeit
mit einem erfahrenen Urologen angestrebt werden.
Therapieziele sind die Verbesserung der Speicherfunktion der Blase, ihre möglichst
vollständige Entleerung, die Normalisierung der Miktionsfrequenz und die Wiederherstellung
der Kontinenz und damit die Vermeidung von Komplikationen: rezidivierende Harnwegsinfekte,
Schädigung der oberen Harnwege wie Urosepsis, Nierensteinbildung, eingeschränkte Nierenfunktion.
Grundlagen der Therapie sind die Aufklärung des Patienten über die Art der BFS sowie
etwaige Komplikationsmöglichkeiten, die Notwendigkeit einer gleichmäßigen Verteilung
der Trinkmenge auf den Tag (²2L/Tag), individuell geplante Miktionsintervalle, Vermeidung
einer Verzögerung der Miktion bei Harndrang, ggf. Blasen- (52) oder Toilettentraining
(13), ebenso die Beratung über Hilfsmittel wie Einlagen, Tropfenfänger, Windeln, Kondomurinale,
etc.
Die Physiotherapie beinhaltet vor allem Beckenbodentraining, das eine Reduktion des
imperativen Harndrangs und der Inkontinenz, nicht jedoch eine Verbesserung urodynamischer
Untersuchungsparameter bewirkt (22). Auch die Kombination mit elektrischer Muskelstimulation
ist wirksam (66). Mehrmals tägliche sakrale Stimulation mit TENS-Geräten führt zu
einer deutlichen Reduktion von Harndrang und Inkontinenzepisoden. Auch mittels maximaler
intraanaler/vaginaler Elektrostimulation können deutliche klinische und urodynamische
Besserungen erzielt werden (48). Beim Vergleich TENS vs. Oxybutynin ist letzteres
wirksamer (64).
Zur medikamentösen Behandlung stehen Anticholinergika und Alpha-Blocker, das antidiuretische
Hormon zur Verringerung der Nykturie sowie Antibiotika zur Therapie akuter Harnwegsinfekte,
ebenso auch Substanzen zur Vermeidung von Infekt-Rezidiven zur Verfügung.
Die detrusordämpfende Wirkung von Oxybutynin und Tolterodin ist dabei gut belegt (22).
Anticholinerge Nebenwirkungen scheinen nach Tolterodin und Trospiumchlorid im Vergleich
zu Oxybutynin geringer ausgeprägt. Für Propiverin wurde bei Dosierungen bis 45 mg/d
ein positiver Effekt bei Detrusor-Hyperreflexie nachgewiesen, bei im Vergleich zu
Oxybutynin ebenfalls geringeren anticholinergen Nebenwirkungen. Auch ZNS-Nebenwirkungen
sind unter Trospiumchlorid und Tolterodin geringer als bei unretardiertem Oxybutynin.
Sphinkterhemmende Alphablocker wie Alfuzosin oder Tamsulosin können vor allem bei
gleichzeitiger Detrusorhyperreflexie einen erhöhten Blasenauslasswiderstand senken.
Die Datenlage ist hier allerdings widersprüchlich. Nur Phenoxybenzamin ist für die
Therapie neurogener BFS zugelassen. Antispastika wie Baclofen sind hier lediglich
Medikamente 2. Wahl.
Desmopressin, das antidiuretische Hormon, reduziert die Miktionsfrequenz bei Nykturie
(26). Allerdings müssen Nieren- und Herzfunktion auf Grund möglicher Volumenbelastung
intakt sein, eine Dosis von 20 μg intranasal sollte nicht überschritten werden. Die
Substanz ist für die primäre Enuresis nocturna zugelassen.
Harnwegsinfekte sollten, da zumeist chronisch rezidivierend, nach Antibiogramm und
ausreichend lange (mindestens 10 Tage) behandelt werden. Die Differenzierung einer
Bakteriurie von einem signifikanten Infekt ist oft nur mittels Nachweis von Leukozyturie,
Leukozytose oder Erhöhung der BSG und/oder des C-reaktiven Proteins möglich. Aufgrund
kurzer Urinverweildauer in der Blase kann das Nitrit falsch negativ sein. Bei rezidivierenden
Harnwegsinfekten ist eine Prophylaxe sinnvoll, z.B. mit Methenamin und Methionin,
eventuell auch Preiselbeersaft, während Vitamin C wohl unwirksam ist. Wesentlichstes
Risiko für komplizierte Harnwegsinfektionen bzw. ein Infektrezidiv ist die Dauerableitung
über einen Katheter. Die antibiotische Langzeittherapie ist auf Grund häufiger Keimselektion
umstritten (38). Wichtiger als die Antibiose ist die auf Dauer restharnarme Blasenentleerung.
Invasive und operative Therapiemaßnahmen: Bei hyperreflexiver Blase mit obstruktiver
Komponente, aber auch hypo/areflexiven Blasenstörungen sollte möglichst immer der
intermittierende Selbst-(Einmal)katheterismus (ISK) angestrebt werden, am ehesten
unter Verwendung von Gleitmittel und nicht traumatisierender Einmalkatheter. Der ISK
ist allerdings bei Visusstörungen, Ataxie mit feinmotorischen und sensiblen Defiziten
der Arme und Hände sowie kognitiven Störungen zumeist nicht möglich. Immer müssen
die Patienten intensiv angeleitet werden.
Eine intravesikale Therapie mit den Vanilloiden Capsaicin oder Resiniferatoxin ist
bei Unverträglichkeit oraler Anticholinergika möglich (18), bei Capsaicin allerdings
sehr schmerzhaft. Insgesamt reichen die bisherigen Erfahrungen noch nicht aus, um
eine Therapieempfehlung für die Vanilloide zu geben. Auch Oxybutynin und Trospiumchlorid
können intravesikal verabreicht werden und hemmen dort die unwillkürlichen Detrusorkontraktionen,
ohne dass systemische Nebenwirkungen zu befürchten sind. Dies ist vor allem bei Patienten,
die ohnehin regelmäßig den ISK durchführen, eine therapeutische Option. Insgesamt
sollten intravesikale Behandlungen nur in erfahrenen Zentren durchgeführt werden.
Dauerharnableitung: Die transurethrale Dauerableitung sollte auf Grund hoher langfristiger
Komplikationsraten (chronischer Infekt, Begünstigung eines vesikoureteralen Refluxes,
Steinbildung, erhöhtes Blasenkarzinomrisiko) vermieden werden. Alternative ist die
suprapubische Blasenfistel unter Verwendung geschlossener Systeme und optimaler Hygiene.
Bei fortbestehender Hyperreflexie ist gelegentlich weiterhin auch eine anticholinerge
Medikation erforderlich. Der Urin sollte angesäuert werden. Der Nutzen von Blasenspülungen
oder niedrig dosierter Antibiotika-Dauertherapie ist unsicher.
Botulinumtoxin A wird bei spastischem Blasensphinkter zunehmend eingesetzt (45), größere
Studien fehlen jedoch noch. Bei Detrusor-Hyperreflexie können Blasenvolumen, Compliance
und Kontinenz positiv beeinflusst werden, der Effekt hält bis zu neun Monate an.
Neuromodulation und operative Verfahren: Die chronische S3-Stimulation mit implantierten
Elektroden ist bei ansonsten therapieresistenten Patienten mit hyperreflexiver Blase
viel versprechend (6), sollte aber nur in erfahrenen und spezialisierten Zentren erfolgen.
Sphinkterotomien, Stent-Implantation bei Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie oder die Autoaugmentation
der Blase können auf Grund des nicht vorhersehbaren Verlaufes einer MS nicht generell
empfohlen werden, die Indikationsstellung sollte erfahrenen Zentren vorbehalten sein.
Darmfunktionsstörungen
Darmfunktionsstörungen
Therapieziele sind die Normalisierung der Entleerungsfrequenz und der Kontinenz sowie
die Vermeidung von Komplikationen: (Sub)-Ileus, Dekubitus.
Bei im Vordergrund stehender Obstipation sind ausreichende Flüssigkeitszufuhr (1,5
- 2 L/Tag), ballaststoffreiche Mischkost, Physiotherapie (Stehständer, fremdkraftbetriebener
Beintrainer, Kolonmassage, Beckenbodengymnastik zur gezielten Sphinkterrelaxation),
ggf. Biofeedback sinnvoll. Bei hartem Stuhl sollten Lactulose oder Macrogol (Cave
bei gleichzeitiger Inkontinenz!), zur Rektumentleerung auch Glycerinzäpfchen oder
Klistiere gegeben werden. In Einzelfällen kann nach Möglichkeiten einer „Reflexentleerung”
(Darmentleerung bei voller Blase, Suche nach perianalen Triggerpunkten, Vermeidung
einer gröberen Sphinkterdehnung) gesucht werden. Metoclopramid oder Domperidon sind
fraglich wirksam. Anticholinergika und Antispastika sollten möglichst vermieden werden.
Bei schmerzhafter Sphinkterspastik bzw. Hinweis für paradoxe Sphinkter-/Puborektalis-Kontraktionen
ist die Injektion von niedrigdosiertem Botulinumtoxin A möglich.
Bei im Vordergrund stehender Stuhlinkontinenz sollte ein regelmäßiges Abführen - z.
B Klistier jeden 3. oder 4. Tag (Cave Pseudodiarrhoe bei massiver Obstipation und
Kotsteinen) angestrebt werden. Bei Frauen mit Beckenbodenschwäche und noch partieller
Sphinkterkontrolle ist Beckenbodentraining, ggf. in Kombination mit intraanaler Elektrotherapie
gerechtfertigt. Ist eine wesentliche Beeinflussung der Inkontinenz nicht möglich,
sollten vor allem bei gehfähigen Patienten Hilfsmittel, z.B. intraanale Tampons verwendet
werden. In jedem Fall sind eine intensive Hautpflege und Dekubitusprophylaxe erforderlich.
Störungen der Sexualität
Störungen der Sexualität
Bei bis zu 80 % der MS-Patienten treten im Krankheitsverlauf sexuelle Dysfunktionen
auf. Neben den folgenden Therapiemöglichkeiten wird MS-Patienten auch die probatorische
Anwendung besonderer Sexualpraktiken empfohlen, bei denen die vordergründig beeinträchtigten
Funktionen (Spastik, Schmerz) ausgeschaltet werden.
Männliche Sexualstörungen: Die erektile Dysfunktion wird heute vor allem mit Sildenafil
behandelt. Dosierungen von 25, 50 und 100 mg Sildenafil ca. eine Stunde vor dem Geschlechtsverkehr
sind zumeist gut verträglich (15). Kontraindikationen mit eventuell lebensbedrohlichen
Komplikationen sind eine vorbestehende koronare Herzkrankheit, frische Herz- und Hirninfarkte
sowie eine Vormedikation mit Nitraten oder Molsidomin. Die neueren Phosphodiesterase-5-Inhibitoren
Vardenafil und Tadalafil werden möglicherweise hinsichtlich Wirkdauer und Nebenwirkungsprofil
vorteilhafter sein.
Bei Patienten mit kardialer Vorschädigung kann auch Apomorphin sublingual ca. 20 min.
vor dem Sexualverkehr genommen werden (40). Die Wirksamkeit ist geringer als diejenige
von Sildenafil, auch die potentiellen Nebenwirkungen wie Übelkeit und Müdigkeit limitieren
ggf. den Einsatz des Apomorphin. Yohimbin soll insbesondere bei Patienten mit überwiegend
psychogener erektiler Dysfunktion zu verbesserter Erektion führen (67).
Die Schwellkörper-Autoinjektions-Therapie (SKAT) mit Prostaglandinen (Alprostadil)
(31) und auch dessen transurethrale Applikation (SKIT) werden gelegentlich eingesetzt.
Nebenwirkungen sind vor allem Penisschmerzen, Schwindelsensationen und ein Priapismus.
Hierüber müssen die Patienten ausführlich informiert werden, ebenso über die genaue
Handhabung dieser Therapien. Es sollte mit niedrigen Dosierungen begonnen werden.
Weitere nichtmedikamentöse Alternativen sind trotz ihres den Sexualverkehr erheblich
störenden Charakters Vakuumpumpen, seltener noch Penisprothesen.
Bei weiblichen Sexualstörungen kann lediglich die Anwendung von Hormonpräparaten (Tibolon,
östrogenhaltige Salben) empfohlen werden (9).
Ataxie und Tremor
Ataxie und Tremor
Etwa 80 % der MS-Patienten leiden im Verlauf ihrer Erkrankung an ataktischen Symptomen.
Besonders behindernd ist die gliedkinetische Ataxie der Arme und Hände mit Intentionstremor.
Ihre Ausprägung variiert oft im Tagesverlauf und ist auch von der körperlichen und
seelischen Beanspruchung der Patienten abhängig. Therapieziel ist die Besserung der
Ataxie und dabei besonders deren Folgen auf alltags-, sozial- und berufsrelevante
Fähigkeiten.
Die spezifische Therapie umfasst Physio- und Ergotherapie, medikamentöse sowie - seltener
- operative Behandlungen. Inhalte der Physiotherapie und Ergotherapie sind u.a. die
Tonusregulation, der Abbau fixierender Kompensationsmechanismen, Rumpfstabilisierung
und Sensibilitätsschulung, das Erarbeiten koordinierter Bewegungsabläufe, die Arbeit
mit möglichst großen und dann allmählich reduzierten Unterstützungsflächen (58), sowie
eine adäquate Hilfsmittelversorgung, z.B. Besteck mit verdickten Griffen und verbreiterten
Auflageflächen. Bei zusätzlichen Armparesen und/oder Rumpfinstabilität werden propriozeptive
Fazilitationsverfahren zum gezielten Tonusaufbau eingesetzt. Der Einsatz von Handgelenksgewichten
z.B. beim Haltetremor ist unwirksam, während entspannende Verfahren, z.B. Autogenes
Training und Progressive Muskelrelaxation nach Jacobsen hilfreich sind. Eine deutliche
Reduktion des Intentionstremors ist durch kurzzeitige (1 Minute) lokale Kühlung (Eisanwendung)
zu erzielen (1), die als Eigentherapie gezielt vor Aktivitäten wie Einnahme einer
Mahlzeit, Ankleiden, Selbstkatheterismus etc. eingesetzt werden kann.
An medikamentösen Therapien stehen nur wenige Substanzen zur Verfügung, die zudem
häufig nicht ausreichend wirksam sind und z.T. erhebliche Nebenwirkungen nach sich
ziehen können. Bei einigen Patienten sind Betarezeptorenblocker wirksam, die insbesondere
den Tremor im Rahmen psychischer Anspannung lindern können. Das Antiepileptikum Primidon
führt gelegentlich zu einer Tremorreduktion, die Wirkung ist allerdings nur beim essentiellen
Tremor nachgewiesen, ebenso wie für Gabapentin. Carbamazepin zeigte einen positiven
Effekt bei zerebellären Tremorformen. In einigen Fallberichten wurde auch für Clonazepam
eine positive Wirkung beim zerebellären Tremor berichtet. Oxitriptan wirkt bei Stand-
und Gangataxie oft erst nach mehreren Wochen Behandlung mit suffizienten Dosen (3
x 300 mg/d) (65). Für Ondansetron und Isoniazid liegen widersprüchliche Ergebnisse
vor (4, 17, 20).
Operative Therapiemaßnahmen: Die chronische VIM-Stimulation nach Sondenimplantation
führt zu insgesamt besseren Ergebnissen als VIM-Thalamotomien. Allerdings müssen die
Stimulationsparameter häufiger optimiert werden. Peri- und postoperative Komplikationen
sind selten. Es gelingt vor allem eine Besserung des Tremors und der Aktivitäten des
täglichen Lebens (69). Am ehesten profitieren wahrscheinlich Patienten mit ausgeprägtem,
aber stabilen Armtremor und gleichzeitiger Rumpfataxie (2).
Kognitive Störungen
Kognitive Störungen
Einschränkungen der kognitiven Leistungen werden bei 40 % und mehr aller MS-Patienten
berichtet. Sie können sich in einigen Fällen bereits früh im Krankheitsverlauf entwickeln.
Betroffen sind vor allem Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfunktionen, exekutive Funktionen
und visuokonstruktive Fähigkeiten, in geringerem Maß auch implizite Funktionen oder
Sprache. Die Diagnose wird - neben einer spezifischen alltags- und berufsbezogenen
Leistungsanamnese - mittels differenzierter neuropsychologischer Testverfahren für
die verschiedenen kognitiven Domänen gestellt. Der inzwischen viel benutzte PASAT
(paced auditory serial addition test) kann erste Hinweise auf kognitive Einschränkungen
bringen. Therapieziele sind die Besserung bzw. der Erhalt neuropsychologischer Funktionen,
das Erlernen von Kompensationsstrategien und damit die Vermeidung sekundärer Partizipationsstörungen.
Nicht-medikamentöse Therapie: Meist müssen mehrere kognitive Bereiche und affektive
Störungen zugleich behandelt werden. Dies geschieht heute vor allem mit Hilfe computer-gestützter
Verfahren, z.B. zum Training selektiver Aufmerksamkeitskomponenten wie Daueraufmerksamkeit,
selektiver Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeitsaktivierung oder erhöhter Resistenz gegen
Störreize. Der Behandlungserfolg ist u.a. von der Häufigkeit des Trainings abhängig.
Ein unspezifisches „Gedächtnistraining” ist oft wirkungslos, ebenso rein repetitives
Üben von Lernaufgaben. Bei leicht betroffenen Patienten können Mnemotechniken hilfreich
sein, schwer Betroffene benötigen externe Gedächtnishilfen (Notizbücher, „NeuroPage”).
Sinnvoll ist auch die Kombination spezifischer neurokognitiver Therapien mit Entspannungsverfahren
und Kompensationsstrategien für verbleibende Defizite, ebenso die Einbeziehung von
Bezugspersonen.
Medikamentöse Therapie: Bislang wurden nur vereinzelte Untersuchungen u.a. mit Donepezil
an MS-Patienten durchgeführt (19), so dass gezielte Empfehlungen derzeit nicht gegeben
werden können. Erwähnt sei, dass während immunmodulatorischer Therapien nicht nur
eine Stabilisierung der Schubzahl oder der Behinderungsprogression, sondern auch von
kognitiven Funktionen beobachtet wurde. Die Ergebnisse sind jedoch uneinheitlich (14,
59).
Paroxysmale Störungen
Paroxysmale Störungen
Bei der MS werden zahlreiche paroxysmale sensorische und motorische Symptome beschrieben
[Tab. 2], die nicht immer leicht von epileptischen Phänomenen differenziert werden können.
Bekanntestes Symptom ist die Trigeminusneuralgie. Die oft stereotypen Symptome dauern
zumeist nur einige Sekunden bis zu wenigen Minuten und werden durch sensorische Reize,
Bewegung, Lageänderung oder Hyperventilation getriggert. Sie können sich bis zu mehreren
hundert mal täglich wiederholen. Angaben zur Häufigkeit variieren, je nachdem welche
Symptome erfasst werden. Die Diagnose ergibt sich durch Häufigkeit, Lokalisation,
Qualität, Dauer, Intensität, Triggerfaktoren und Begleitsymptome (z.B. Patiententagebuch).
Therapieziel ist die Vermeidung der jeweiligen Symptome ohne Beeinträchtigung durch
die Therapie.
Therapie: Soweit möglich, sollten Patienten wissen, wie sie auslösende Situationen
ihrer paroxysmalen Symptome vermeiden können, z.B. bestimmte Bewegungen, sensorische
Reize oder Hitze. Die medikamentöse Behandlung beinhaltet vor allem Antikonvulsiva,
speziell Carbamazepin und Gabapentin.
Für die Trigeminusneuralgie bei MS gelten ebenfalls die Empfehlungen nach Leitlinien
der DGN. Danach ist Carbamazepin (CBZ) weiterhin Mittel der 1. Wahl (68). Bei CBZ
sollte jedoch berücksichtigt werden, dass es gelegentlich MS-Symptome verstärken kann
(30). Bei Unwirksamkeit oder Unverträglichkeit von CBZ stehen Baclofen, Lamotrigin,
Gabapentin, Topiramat, Oxcarbazepin, Valproat und Phenytoin zur Verfügung, letzteres
ggf. auch parenteral. Lamotrigin ist auch in Kombination mit Carbamazepin wirksam,
muss jedoch langsam aufdosiert werden. Misoprostol, ein Prostaglandin E 1-Analogon
ist in einer Dosierung von 600 μg/d eine mögliche Behandlungsalternative (11). Die
genannten Therapien gehören fast ausnahmslos zur „off-label”-Kategorie. Auf Grund
der bei MS oft erheblichen Schmerzen sind immer wieder auch Kombinationsbehandlungen
erforderlich.
Bei nicht ausreichender Wirkung sind ggf. operative Therapien wie die Thermokoagulation
und die Glyzerolinstillation ins Cavum Meckeli indiziert (28). Auch die mikrovaskuläre
Dekompression ist schon erfolgreich durchgeführt worden, z.T. jedoch nur bei gleichzeitiger
Durchtrennung des Nervs (5). Die Radiochirurgie ist ebenfalls wirksam und verursacht
nur in ca. 10 % Hyp-/Dysästhesien.
Andere paroxysmale Symptome: Paroxysmale Parästhesien und Schmerzen betreffen in der
Regel einen Teil einer Extremität, dauern oft mehrere Minuten und reagieren schlechter
auf CBZ, wobei diese Substanz weiterhin das am häufigsten verwendete Medikament ist,
zumeist in Dosierungen bis 300 mg/d. Alternativen sind Gabapentin, Lamotrigin, Phenytoin
oder Valproat. Auch für Clonazepam und Lidocain wurden bei verschiedenen motorischen
und sensorischen paroxysmalen Symptomen gute Ergebnisse berichtet (54).
Beim Uhthoff-Phänomen sollte - nach Ausschluss eines MS-Schubes - Wärme möglichst
vermieden werden, oft sind kühlende Maßnahmen sowie 4-Aminopyridin wirksam. Beim Hemispasmus
facialis ist Botulinumtoxin A die Therapie der Wahl.
Augenbewegungsstörungen
Augenbewegungsstörungen
Auch Störungen der Okulomotorik sind häufig, oft sogar erstes MS-Symptom, z.B. bei
einem Schub. Des weiteren treten eine internukleäre Ophthalmoplegie sowie verschiedene
Formen von Nystagmus auf, insbesondere der Upbeat-/Downbeat-Nystagmus sowie der Fixationspendelnystagmus
(FPN), die Oszillopsien und Verschwommensehen hervorrufen.
Therapie: Beim Auftreten von Okulomotorikstörungen im Schub erfolgt die hochdosierte
intravenöse Steroidtherapie, 1 Auge sollte jeweils abgedeckt werden. Ein FPN kann
mit Memantine (40-60 mg/d) oder Gabapentin (900-1200 mg/d) behandelt werden, während
Scopolaminpflaster oder Baclofen nicht wirksam sind. Auch Injektionen von Botulinumtoxin
A in die Augenmuskeln sowie Cannabis wurden versucht (23,57). Beim Upbeat-/Downbeat-Nystagmus
ist ein Versuch mit Baclofen (z.B. 3 x 5 mg/d) gerechtfertigt (10). Bei der internukleären
Ophthalmoplegie werden Doppelbilder oft nicht störend wahrgenommen.
Dysarthrie und Dysphonie
Dysarthrie und Dysphonie
Eine Dysarthrie kann von der kaum wahrnehmbaren Sprechstörung bis zur kompletten Unverständlichkeit
reichen. Teilsymptome sind u.a. die gestörte Lautstärkesteuerung, eine Rauhigkeit
der Stimme, Artikulationsstörungen und eine verminderte Vitalkapazität. Die Diagnose
erfolgt mittels verschiedener Tests, u.a. dem Münchner Verständlichkeits-Profil. Behandlungsziele
sind die Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit durch Maximierung kompensatorischer
sprechmotorischer Fähigkeiten sowie die Verbesserung der Atmungskoordination. Eine
Behandlung ist immer dann angezeigt, wenn Sprech- und Stimmstörung von der übermittelten
Botschaft ablenken, Sprechfähigkeit und Stimme die Kommunikationsfähigkeit behindern
und damit die Lebensqualität einschränken oder von Patient oder seiner Familie als
belastend empfunden werden.
Die Therapie, an der Neurologe, HNO-Arzt und Sprechtherapeut (Logopäde/Neurophonetiker/Linguist)
beteiligt sind, beinhaltet:
-
verhaltensmodifizierende Maßnahmen: Steuerung der Sprechgeschwindigkeit, des Stimmtons,
der Phrasenübergänge, Reduktion der Phrasenlänge und Verstärkung der Stimme, u.a.
über Feedbacktechniken oder PC- Programme
-
medikamentöse Behandlung entsprechend dem der Dysarthrie zu Grunde liegenden Hauptcharakteristikum
Spastik, Ataxie, Stimmtremor oder Fatigue
-
Kommunikationshilfen: bei <50 % Verstehbarkeit Einsatz von Kommunikationstafeln, Stimmverstärkern,
Sprech- und anderen Computern; zuvor Überprüfung der kognitiven, motorischen, visuellen
und akustischen Fähigkeiten des Patienten.
Dysphagie
Dysphagie
Folgen klinisch manifester Schluckstörungen sind Hustenreiz, Speichelfluss, ggf. Dehydratation,
Mangelernährung, (stille) Aspiration sowie z.T. schwere Aspirationspneumonien, ebenso
die Einschränkung der Lebensqualität durch Verlust des Ess- und Trinkgenusses. Dysphagien
treten insbesondere bei schwer behinderten Patienten in bis zu 65 % der Fälle, seltener
auch bei nur geringer Behinderung auf. Die Diagnostik umfasst eine ausführliche Anamnese
zu spezifischen Dysphagiesymptomen, eine neurologische und HNO-ärztliche Untersuchung,
einen funktionellen Schlucktest sowie die Videofluoroskopie und/oder Pharyngolaryngoskopie.
Der Schweregrad wird nach klinischen und radiologisch-endoskopischen Kriterien eingestuft
(21) eingestuft. Durch die Therapie sollen eine ausreichende Aufnahme von Nahrung
und Flüssigkeit gesichert, eine Aspiration vermieden und gleichzeitig die Lebensqualität
wieder erhöht werden.
Eine Therapie ist immer bei Exsikkose, Mangelernährung, nachgewiesener Aspiration
bzw. rezidivierender Aspirationspneumonie erforderlich und besteht aus funktionellen,
medikamentösen und palliativen Maßnahmen.
Funktionelle Therapie (Schlucktherapie): Fazilitation oder Hemmung von Bewegungsfunktionen:
Haltungsänderungen des Kopfes, verschiedene Schlucktechniken, Optimierung der Nahrung
wie Pürierung, Andicken von Flüssigkeiten, Änderung der Nahrungstemperatur, Ansäuerung
des Speisebolus, Ess- und Trinkhilfen, Verhaltensregeln (49).
Medikamentöse Therapie: anticholinerge Medikamente bei ausgeprägter Hypersalivation
(36).
Palliative Therapie: Bei schwerer und irreversibler Dysphagie perkutane endoskopische
Gastrostomie (PEG), insbesondere bei mangelhafter Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme
und Aspirationen trotz konservativer therapeutischer Maßnahmen (32). Im Einzelfall
müssen bei dieser Maßnahme jedoch immer potentielle Komplikationen berücksichtigt
werden: leichte Komplikationen in 13 % bis 43 % der Fälle, schwere Komplikationen
bei 0,4 % bis 8,4 % mit einer Mortalität von 0 % bis 2 % (12). Eine transnasale Magensonde
ist nur bei zu erwartender rascher Rückbildung der Dysphagie, etwa im Rahmen eines
MS-Schubes, sinnvoll.
Epileptische Anfälle
Epileptische Anfälle
Bis zu ca. 7,5 % der MS-Patienten leiden an epileptischen Anfällen, sie treten in
jedem Krankheitsstadium auf und können auch Symptom eines akuten Schubes sein. Häufigste
Anfallstypen sind generalisierte tonisch-klonische sowie komplex-partielle Anfälle.
Auch epileptische Status im Rahmen der MS wurden beschrieben. Anfälle können sowohl
Erstmanifestation als auch alleiniges Symptom einer MS sein. Therapieziel ist die
vollständige oder weitgehende Anfallsfreiheit.
Therapie: Studien zur antiepileptischen Therapie bei Patienten mit MS liegen nicht
vor. Tritt ein einzelner Anfall im Rahmen eines gesicherten Schubes auf, kann - nach
Schubtherapie - ggf. auf eine Dauertherapie verzichtet werden. Ansonsten wird entsprechend
den Empfehlungen der DGN für Patienten mit multiplen zerebralen Läsionen geraten,
nach dem ersten Anfall mit einer antiepileptischen Therapie zu beginnen, unabhängig
davon, ob es sich um einen provozierten oder unprovozierten Anfall handelte (DGN-Leitlinien
„Erstmaliger epileptischer Anfall”: www.dgn.org/54.0. html). Auch die Langzeitbehandlung folgt den DGN-Leitlinien ( www.dgn.org/50.0.html?&no_cache =1&sword_list[]=epilepsie). Bei einem späteren Absetzversuch ist zu berücksichtigen, dass die zerebralen Veränderungen
im Krankheitsverlauf zumeist zunehmen und MS-Patienten aufgrund ihrer zusätzlichen
Funktionsstörungen, insbesondere Gangstörungen, kognitive Störungen, Osteoporose beim
Auftreten eines Anfalls einer deutlich erhöhten Verletzungsgefahr ausgesetzt sind.
Mitglieder und Autoren der MSTKG Symptomatische Therapie
Mitglieder und Autoren der MSTKG Symptomatische Therapie
H. Albrecht (Berg), W. Feneberg (Berg) J. Haas (Berlin), M. Haupts (Bochum), T. Henze
(Nittenau), C. Kabus (Berlin), J. Kesselring (Valens), N. König (Berg), W. Kristoferitsch
(Wien), K.H. Mauritz (Berlin), M. Pette (Dresden), W. Pöllmann (Berg), P. Rieckmann
(Würzburg), D. Seidel (Isselburg), M. Starck (Berg), A. Steinbrecher (Regensburg),
R. Voltz (München), U. K. Zettl (Rostock), K.V. Toyka (Würzburg)
Tab. 1 Symptome der MS
-
Störungen der Motorik und Koordination (Spastik, Muskelschwäche, Ataxie, Tremor)
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Störungen im Bereich der Hirnnerven (Augenbewegungsstörungen, Dysarthrie, Dysphagie)
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Vegetative Funktionsstörungen (Blasen- und Darmentleerungsstörungen, Störungen der
Sexualität)
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Neuropsychologische Symptome (kognitive Defizite, Fatigue, Depression)
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Schmerzen und paroxysmale Symptome, epileptische Anfälle
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Tab. 2 Paroxysmale Symptome
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Trigeminus-, Glossopharyngeus- und andere Neuralgien
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Sensible Symptome: Parästhesien, Dysästhesien, Lhermitte-Zeichen
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Paroxysmale Ataxie und Dysarthrie
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Dyskinesien: Dystonie (früher: tonische Hirnstammanfälle) incl. Hemispasmus facialis,
Tremor, Akinese
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Faziale Myokymien, Myoklonien, Singultus
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Doppelbilder und Oszillopsien: Konvergenzspasmus u.a., ocular flutter
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Uhthoff Phänomen
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