Ausgangssituation
Ausgangssituation
Das deutsche Gesundheitswesen ist durch eine mangelnde Integration der Versorgungsabläufe
gekennzeichnet - speziell bei Patienten mit komplexen Behandlungsabläufen und chronischen
Erkrankungen. Zurückzuführen ist dies insbesondere auf die streng sektorale und damit
höchst artifizielle Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung. Eine zusätzliche
Barriere für die Realisierung kontinuierlicher Diagnostik- und Behandlungsabläufe
bildet die historisch begründete örtliche und budgetäre Trennung von Akut- und Rehabilitationsmedizin
[4]. Zudem werden Rehabilitationsleistungen noch überwiegend in meist wohnortfernen,
stationären Einrichtungen angeboten. Auch die rigide Vertrags- und Vergütungsstruktur
für die Versorgung von Patienten mit Arzneimitteln und anderen Heil- und Hilfsmitteln
steht den ökonomischen Anforderungen entgegen, die eine integrierte Versorgung ohne
zeitliche und inhaltliche Brüche ermöglichen sollen [4].
Strikt getrennte Behandlungssektoren orientieren sich selten am konkreten Versorgungsproblem.
Sie verursachen eine ausgabenintensive Doppelversorgung mit Personal (z. B. ambulante
und stationäre Facharztstruktur), mit Sachmitteln und Investitionsgütern (z. B. Großgeräte
in Krankenhaus und Praxis). Auch besteht ein vermehrter Raumbedarf. Sektorale Budgetvorgaben
und Wirtschaftlichkeitsprüfungen in den einzelnen Versorgungsebenen induzieren außerdem
kräftige ökonomische Anreize für die Entwicklung von Auslastungsstrategien, die einen
medizinisch sinnvollen Einsatz der immer knapper werdenden Ressourcen verhindern.
Das oft langjährige Einzelkämpfertum und insbesondere die im Zusammenhang mit komplexen
Erkrankungen zu geringe Erfahrung und zu niedrige Untersuchungsfrequenz wirken sich
nachteilig auf die Effizienz und Qualität der fachärztlichen Vorsorgung aus [1]
[4].
Neue Versorgungsformen
Neue Versorgungsformen
Grundsätzliches Anliegen der neuen Gesundheitsreformgesetze, die ab 1. 1. 2004 gelten,
ist die Etablierung potenziell sektorübergreifender Versorgungsstrukturen mit Sicherstellung
einer effizienten und qualitätsgesicherten Behandlung aus einer Hand [2]. Der Gesetzgeber hat damit die rechtlichen Rahmenbedingungen für neue Versorgungsangebote
geschaffen, die eine Flexibilisierung von Versorgungsstrukturen gestatten, Schnittstellenprobleme
minimieren und kontinuierliche Behandlungsabläufe und -pläne ermöglichen. Damit werden
Anreize gesetzt, die zu mehr Wettbewerb, Gestaltungsspielraum, Wirtschaftlichkeit
und Qualität führen sollen - aber auch zu völlig neuen Organisationsstrukturen, Beteiligungskonzepten
und einer Intensivierung der Fort- und Weiterbildung. Im Kern hat der Gesetzgeber
die Rahmenbedingungen für folgende Versorgungsformen definiert [2]
[3]
[4]:
-
Hausarztzentrierte Versorgung (§ 73b SGB V)
-
Förderung der Qualität in der ärztlichen Versorgung (§ 73c SGB V)
-
Medizinische Versorgungszentren (§ 95 SGB V)
-
Teilöffnung der Krankenhäuser (§ 116b SGB V)
-
Integrierte Versorgung (§ 140a-d SGB V)
Ziele und Rahmenbedingungen der Integrierten Versorgung
Ziele und Rahmenbedingungen der Integrierten Versorgung
Der Gesetzgeber versteht unter der Integrierten Versorgung (IV) eine übergreifende
Versorgungsstruktur mit verschiedenen Leistungssektoren (z. B. ambulant, stationär,
poststationär), die zusätzlich oder alternativ eine interdisziplinär übergreifende
Versorgung (z. B. Hausarzt, Kardiologe, Pneumologe) beinhalten [2]. Im Vordergrund steht dabei die standardisierte Versorgung vornehmlich chronisch
Kranker mit mehr Qualität, verbesserten Abläufen, weniger Schnittstellen und geringeren
Kosten. Die Einbindung der IV in den Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigung
entfällt. Dadurch bietet sich Krankenhäusern die Chance der Weiterentwicklung von
einer ausschließlich stationär handelnden Einrichtung zu einem medizinischen Dienstleistungszentrum
mit übergreifendem Versorgungsangebot [1]
[4].
Verträge zur IV
Verträge zur IV
Ein Schwerpunkt der IV ist, Schnittstellenprobleme zu überwinden und die Organisation
sektorübergreifend sicherzustellen. Ferner soll die Beteiligung im Hinblick auf Leistungen,
qualitativ hochwertige und wirtschaftliche Erbringung und optimale Inanspruchnahme
unterstützt werden [5]. Um die Versorgung aus einer Hand zu gewährleisten, ermöglicht die IV die Schließung
von Einzelverträgen zwischen Kostenträgeren (z. B. eine oder mehrere Krankenkassen
gemeinsam) und Leistungserbringern (z. B. Vertragsärzte, Praxisgemeinschaften, Medizinische
Versorgungszentren, Krankenhäuser, Physiotherapeuten) sowie Managementgesellschaften
(z. B. für die Fallsteuerung, Koordination, Dokumentation, Evaluation, Abrechnung)
als Auftragnehmer der Kostenträger oder Auftraggeber der Leistungserbringer. Ebenfalls
neu ist, dass Leistungserbringer auch außerhalb des regulären Zulassungs- oder Ermächtigungsverfahrens
über Direktverträge an der IV partizipieren können. Vertragsgegenstand dürfen nur
solche Leistungen sein, über deren Eignung der gemeinsame Bundesausschuss keine ablehnende
Entscheidung getroffen hat. Nach Abschluss eines Vertrages zur IV besteht Gewährleistungspflicht
für die Patientenversorgung durch die Vertragspartner. Diese beinhaltet auch die gebotene
Qualität, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit. Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsvorteile
der IV gegenüber der Regelversorgung müssen konkret definiert und nachvollziehbar
kalkuliert sein. Steuerung, Dokumentation und Evaluation müssen auf der Basis vorstrukturierter
Mindeststandards geregelt sein. Jeder Vertrag beinhaltet mindestens ein medizinisches
und ein ökonomisches Modell, das den Status quo des Versorgungsproblems mit den Möglichkeiten
der „neuen” Integrationsversorgung in Beziehung setzt [4]. Alle IV-Verträge werden zentral registriert. Als gemeinsame Registrierstelle fungiert
die Bundesgeschäftstelle Qualitätssicherung GmbH (BQS) in Düsseldorf (www.bgs-register 140d.de), die auf Anfrage über registrierte Anträge Auskunft erteilt.
Freie Arztwahl und IV
Freie Arztwahl und IV
Die Teilnahme des Versicherten an IV-Programmen ist freiwillig. Hat der Patient sich
jedoch einmal eingeschrieben, darf er nur die vorgegebenen Leistungserbringer in Anspruch
nehmen. Wer für die Einschreibung verantwortlich ist, wird im IV-Vertrag klar geregelt.
Anreize zur Einschreibung bieten Boni für gesundheitsbewusstes Verhalten, Zuzahlungs-
und Beitragsrabatte, wie sie von den privaten Krankenversicherungen bekannt sind.
Anschubfinanzierung, Wettbewerbsrecht und IV
Anschubfinanzierung, Wettbewerbsrecht und IV
Die Anschubfinanzierung der IV erfolgt durch Rechnungskürzung. Jede Krankenkasse hat
das Recht, die Gesamtvergütung für die Kassenärztliche Vereinigung und die stationären
und teilstationären Krankenhausrechnungen von Anfang 2004 bis Ende 2006 um maximal
1 % zu kürzen, sofern diese Mittel tatsächlich zur Umsetzung der IV benötigt werden.
Die einbehaltenen Mittel werden für Leistungserbringer extrabudgetär zur Verfügung
gestellt, die sich an der IV beteiligen. IV-Verträge sind als Konzessionsverträge
- zumindest nach Auffassung der GKV - vom Vergaberecht ausgenommen. Sie fallen somit
nicht unter das Gesetz gegen die Wettbewerbsbeschränkung (GWB). Wenn die IV-Verträge
dagegen nicht nur den Preis (Vergütungshöhe) garantieren, sondern auch bestimmte Mengen
(Fallzahl), unterliegen sie als öffentliche Aufträge dem GWB und müssen bei Überschreitung
definierter Schwellenwerte ausgeschrieben werden.
Risiken und Chancen der IV für die Pneumologie
Risiken und Chancen der IV für die Pneumologie
Welche Krankheitsbilder sind geeignet?
Grundsätzlich werden Modelle zur IV nur dann erfolgreich sein, wenn diese sich für
alle (Patient, Krankenhaus, Arztpraxis, sonstige Anbieter, Krankenkasse) lohnen. Zwar
würde eine populationsbezogene IV stärkere Impulse für eine gesundheitsökonomisch
sinnvolle und zielgerichtete Umgestaltung der existierenden Versorgungsstrukturen
setzen als indikationsbezogene Integrationsmodelle, doch ist diese nur schrittweise
und mit wesentlich größeren Risiken für Leistungsanbieter und Krankenkassen umsetzbar.
Soll das Konzept der IV bereits mittelfristig zum Erfolg führen, stehen indikationsbezogene
IV-Modelle ganz im Vordergrund. Aus Sicht der Pneumologie bieten sich IV-Modelle hauptsächlich
für folgende Krankheitsbilder an:
-
Chronisch obstruktive Atemwegserkrankungen (COPD, Asthma bronchiale)
-
Bronchialkarzinom (Lungenkrebs)
-
Schlafapnoe
-
Mukoviszidose
-
Lungentransplantation
-
Respiratorische Insuffizienz
Chancen der pneumologischen Klinik
Chancen der pneumologischen Klinik
Die stärkste medizinische Stellung und das höchste Vertrauen der Patienten in die
lokalen Versorgungsstrukturen haben zweifellos die Kliniken. Das Modell der IV setzt
keine Anreize zum weiteren Ausbau der flächendeckenden fachärztlichen Versorgung in
Einzelpraxen, sondern motiviert zur Etablierung kreativer Betreuungskonzepte in Kooperationsverbünden
mit Krankenhäusern. Die Ausgangssituation der pneumologischen Klinik ist schon deshalb
günstig, weil das Zentrum der IV gewöhnlich dort liegt, wo für die potenziell intensivste
medizinische Intervention die Vorhaltung der personellen, funktionalen und technisch-apparativen
Infrastruktur unabdingbar ist. Die medizinische und betriebswirtschaftliche Infrastruktur
erlaubt es der pneumologischen Klinik, mit leistungsfähigen und kompetenten Kooperationspartnern
durchgängige Versorgungskonzepte zu gestalten, diese zu koordinieren und erfolgreich
umzusetzen. Das gesetzliche Regelwerk der IV gestattet ferner die Einbeziehung von
Leistungsanbietern in DMP-Programmen und von medizinischen Versorgungszentren sowie
die Beteiligung von Dritten (z. B. für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel). Auch diese
Form der Integration dient eindeutig dem Ziel der übergreifenden Steuerung des Versorgungsauftrages
im Rahmen der IV und eröffnet pneumologischen Kliniken (Abteilungen) damit zusätzliche
Perspektiven. Durch die arbeitsteilige Vernetzung resultiert für die koordinierende
Klinik zwar nicht selten eine Fallzahlreduktion bei leichten Erkrankungen, doch nimmt
die Zahl und Intensität der schweren Fälle anteilig zu. Das Krankenhaus muss diese
Leistungsverdichtung pro Patient zukünftig nicht fürchten, da im DRG-System ein dem
Schweregrad angepasster Erlös erzielt wird. Durch schrittweise Implementierung von
Leitlinien zur Steuerung der Diagnose- und Behandlungsabläufe kann die Erlössituation
überdies entscheidend verbessert werden [1]
[2]
[3]
[4]. Alle Initiativen erfordern Management. Auch hier sind Krankenhäuser regional am
ehesten in der Lage, Kapazitäten zu mobilisieren [5].
Chancen für pneumologische Praxen
Die Beteiligung an Modellen der IV bietet dem niedergelassenen Facharztes für Lungen-
und Bronchialheilkunde und dem spezialisierten Pneumologen (Schlafmedizin, Allergologie)
attraktive Gestaltungsspielräume, die über die Hoffnung auf Rückgewinnung verlorener
Budgetanteile durch Beteiligung an integrierten Leistungsangeboten hinausgehen. Durch
Übernahme konkreter Verantwortlichkeiten und Mitgestaltung der zweckmäßigsten Abläufe
und Mindestanforderungen an die Qualität wird das Schnittstellenmanagement zwischen
ambulantem und stationärem Sektor nachhaltig verbessert [1]. Dank vertraglich geregelter Kooperation mit dem Krankenhaus kann der niedergelassene
Pneumologe die vor- und nachgelagerte Versorgung stationärer Patienten übernehmen,
so dass sich Leistungen innerhalb und außerhalb des Krankenhauses bestmöglich ergänzen.
In Versorgungspfaden ist vorab zu klären, welche zusätzlich vergüteten Aufträge der
niedergelassene Facharzt unter welchen Rahmenbedingungen übernimmt. Infrage kommen
zahlreiche auf Krankheitsbild und Stadium der Erkrankung abgestimmte Maßnahmen in
der Prävention, Diagnostik, Therapie, Rehabilitation und Schulung der eingeschriebenen
Patienten. Diese Maßnahmen sind mit einer leistungs- und qualitätsdefinierten extrabudgetären,
auf medizinische Endpunkte bezogenen Vergütung gekoppelt. Je nach Krankheitsbild und
Definition im IV-Vertrag übernimmt der niedergelassene Arzt des Weiteren die Einschreibung
der Patienten und ist damit maßgeblich an der Mengensteuerung beteiligt. Ein nicht
zu unterschätzender ökonomischer Anreiz der IV für niedergelassene Pneumologen ergibt
sich aus der vertraglich geregelten Einbindung in intensive Kooperationsverbünde mit
anderen spezialisierten Einzelpraxen und Praxisnetzen und der vertraglich geregelten
Nutzung von Räumlichkeiten und Einrichtungen des Krankenhauses. Schließlich eröffnet
die IV allen Beteiligten die Chance zur strukturierten Fort- und Weiterbildung in
einem Ärzteteam mit professionellem Management, das im Idealfall Behandlungsprozesse
etabliert und weiterentwickelt, die evidenzbasiert und leitlinienorientiert sind.
Chancen aus der Sicht von DGP und BdP
Zwar hängt der Erfolg der IV maßgeblich vom Motivationsgrad und dem Willen zur Zusammenarbeit
der regional kooperierenden Leistungserbringer ab. Eine gemeinsame Kommission von
Deutscher Gesellschaft für Pneumologie und Bundesverband der Pneumologen könnte jedoch
überregionale Impulse zur Gestaltung von IV-Verträgen geben, Musterverträge bereitstellen
und fach- und sachkompetente Beratungsmöglichkeiten organisieren.
Risiken der IV
Reale Gefahren in der erfolgreichen Umsetzung integrierter Versorgungsleistungen durch
Überwindung hinderlicher Sektorengrenzen und Ausbildung bedarfsgerechter, zukunftsorientierter
Angebotsstrukturen bestehen sowohl für Leistungsanbieter wie Kostenträger. Risiken
ergeben sich unter anderem dadurch, dass sich Leistungen innerhalb und außerhalb des
Krankenhauses breit überlappen, anstatt sich zu ergänzen. Ohne Zweifel sind alle IV-Programme
gefährdet, deren kostenneutrale Fortsetzung nach Ablauf der Anschubfinanzierung Ende
2006 unrealistisch erscheint. Aus Sicht der Pneumologen als Anbieter integrierter
Versorgungsleistungen besteht ein nicht zu unterschätzendes Risiko darin, dass sich
die Unterdeckung eines Programms erst langfristig abzeichnen könnte. Gründe dafür
sind eine fehlerhafte Einschätzung der Teilnehmerzahl, der Risikostruktur und der
Morbiditätsentwicklung des Kollektivs oder die Vereinbarung unrealistischer Gewährleistungen
und Boni. Auch die bislang vom Gesetzgeber nicht ausreichend definierten Anforderungen
und Bewertungskriterien für Modelle der IV stellen für alle Akteure ein nicht zu unterschätzendes
Gefährdungspotenzial dar. So sind beispielsweise die rechtlichen und organisatorischen
Anforderungen an das interne und externe Controlling und die Art und Umsetzung von
geeigneten Sanktionsmechanismen weitgehend unklar. Werden IV-Verträge mit kleinen
oder nur regional operierenden Krankenkassen abgeschlossen, besitzen diese Konzepte
im Regelfall keine das Gesundheitssystem dauerhaft verändernde Gestaltungskraft. Die
größte Gefahr für die Pneumologie besteht aber ohne Zweifel darin, dass wir nicht
konzertiert versuchen, flächendeckend zukunftsweisende IV-Modelle zu verankern. Diese
garantieren nämlich sektorenübergreifend eine effiziente, kostengünstige und qualitätsgesicherte
Versorgung von Patienten mit pneumologischen Erkrankungen, die entweder aufgrund der
Epidemiologie oder ihres komplexen Charakters bestens dazu geeignet sind.