Pneumologie 2005; 59(3): 213-217
DOI: 10.1055/s-2004-830085
Historisches Kaleidoskop
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Athanasius Kirchers Pestschrift von 1658 und seine Einstellung zur Lungenpest

Athanasius Kircher's Plague Treatise of 1658 and His Views of the Pulmonary PlagueG.  F.  Strasser1
  • 1Dept. of Germanic & Slavic Languages & Literatures
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Gerhard F. Strasser

Dept. of Germanic & Slavic Languages & Literatures · The Pennsylvania State University

University Park

PA 16802

USA

Email: gfs1@psu.edu

Publication History

Publication Date:
08 March 2005 (online)

Table of Contents #

Athanasius Kircher, ein Universalgelehrter des 17. Jahrhunderts

Als viertes von sieben Kindern wurde Athanasius 1602 in Geisa/Rhön in eine gebildete Familie hinein geboren und erhielt neben frühzeitigem Unterricht durch seinen Vater in den Fächern Musik, Mathematik und Geographie auf dessen Veranlassung hin Unterweisung im Hebräischen, die 1612 bis 1618 während des Studiums des jungen Athanasius am Fuldaer Jesuitengymnasium fortgesetzt wurde. An den Kollegien in Paderborn, Köln und Mainz erwarb er in den kommenden zehn Jahren eine weit gefächerte Ausbildung, die es ihm ermöglichte, nach der Priesterweihe in Mainz 1628 und dem dritten Probejahr in der Gesellschaft Jesu schon 1629 die Professur für die Fächer Moralphilosophie, Mathematik und orientalische Sprachen an der Universität Würzburg zu übernehmen. Durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges vertrieben, gelangte er 1631 nach Avignon, wo er am Jesuitenkolleg wiederum diese Disziplinen lehrte und - angeregt durch wichtige Kontakte mit bedeutenden Gelehrten in dieser Universitätsstadt - insbesondere naturwissenschaftlichen Fragen nachging. Obwohl Kaiser Ferdinand II. ihn 1633 als Hofmathematiker nach Wien berief, wurde er nach Rom beordert und zum Professor der Mathematik, Physik und der orientalischen Sprachen am Collegium Romanum, der Jesuiten-Universität, ernannt.

In den fast 50 Jahren, die ihm dort verblieben, ehe er 1682 starb, veröffentlichte der bald von Unterrichtsverpflichtungen befreite Jesuitenpater über dreißig teilweise prachtvoll ausgestattete Werke, die jedoch über seine drei universitären Fachgebiete weit hinaus gingen. Dabei ist hier von besonderem Interesse, dass er 1646 erstmals neu erfundene Mikroskope in seiner Ars magna Lvcis et Vmbræ beschrieb, unter ihnen das einfache Kügelchenmikroskop, das er kurz zuvor von einem seiner Gönner, Kardinal Carlo de' Medici, erhalten hatte. [1]

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Kirchers medizinische Veröffentlichungen in allgemeinen Werken

Noch vor der Illustration der bei Kirchers weiteren medizinischen Untersuchungen grundlegenden Mikroskope hatte der Jesuit 1641 seine Theorie des Magnetismus in der mehrmals aufgelegten Magnes siue de Arte Magnetica [2] dargelegt. Zeit seines Lebens ging er davon aus, dass Gott der zentrale Magnet aller Dinge sei, woraus er die magnetische Harmonie der gesamten Natur und des Menschen ableitete, eine Überzeugung, die er 1667 in dem bestens illustrierten Werk Magneticvm natvræ regnvm, sive, Disceptatio physiologica [3] erneut auf die göttlich-magnetischen Beziehungen innerhalb eines Universums anwandte, in dem sich die Dreieinigkeit der gottgeschaffenen Natur widerspiegelt, wie Werner E. Gerabek es ausdrückte. Schon 1641 hatte er klar gelegt, dass Krankheiten mit Hilfe des Magnetismus therapiert werden könnten, eine Anwendung, die letztlich 1781 von Franz Anton Mesmer verblüffend weiter geführt wurde.

Auch auf einem ganz anderen Gebiet spielte bei Kircher Magnetismus eine große Rolle, nämlich beim sog. Schlangenstein [4]. Um 1656 dürfte der Gelehrte - bei dem damals fast die gesamte Post der Jesuitenmissionare einlief - aus Indien von diesem Wunderpräparat gehört haben, über dessen Wirksamkeit viele Patres berichteten. 1663 schließlich stellte er seinen Versuch mit Schlangensteinen an, wobei er „vor erstaunten Zeugen” einen Hund von einer Viper beißen ließ. Der Stein, so berichtete er 1667 in seinem Sammelwerk über den Fernen Osten, China (...) illustrata, und im gleichen Jahr in erweiterter Form im 5. Kapitel des schon erwähnten Magneticvm natvræ regnvm [5], hätte beim Auflegen an der Bissstelle gehaftet und wäre dort längere Zeit verblieben, was Kircher wiederum mit Magnetismus in Beziehung setzte. Als dieser Lapis serpentis schließlich das Gift ausgesaugt hatte, sei er von selbst abgefallen wie ein praller Blutegel. Der Hund, vom Gift befreit, hätte zwar noch eine Zeitlang Fieber gezeigt, sei in einem Tag aber völlig gesundet.

Auf einem anderen, wiederum unerwarteten Gebiet dokumentierte Athanasius Kircher therapeutische Anwendungen des Magnetismus, nämlich der Musikologie. Schon 1641 hatte er dies in De Arte Magnetica theoretisch und praktisch diskutiert [6] und griff das Thema in seinem musikologischen Standardwerk, der Mvsvrgia vniversalis von 1650, erneut auf [7]. Er erklärte, dass organische Krankheiten mit Hilfe der Musik überhaupt nicht behandelt werden könnten; Erfolg verspräche iatromusikalische Therapie nur bei Gemütserkrankungen, zu denen er auch den Biss der Tarantel zählte. Gleichsam zum Austreiben dieses Gifts nun wurden die meist in Apulien anzutreffenden „Besessenen” zum Tanz gezwungen, wobei Kircher erstmals eine als „Antidotum Tarantulae” bezeichnete achttaktige Weise aufzeichnete, die bei Patienten ein Ausschwitzen des Gifts bewirken sollte.

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Kirchers einziges spezifisch medizinisches Werk, die Pestschrift von 1658

Zu einer Zeit, als der Gelehrte mit Arbeit auf den Gebieten der Kosmologie, Geologie oder Hydrologie beschäftigt war, mag die Veröffentlichung des Scrvtinivm Physico-Medicvm Contagiosæ Luis, quæ Pestis dicitur von 1658 überraschen [8] (Abb. [1] [2]). Sicherlich hatte Kircher sich seit 1641 bei der schon angedeuteten Beschäftigung mit Mikroskopen mit verschiedenen Krankheiten befasst und etwa das Blut „fiebriger Kranker” untersucht, doch war es der plötzliche Ausbruch einer Pestepidemie in Neapel im Jahre 1656, die medizinisch nicht in den Griff zu bekommen war und auf Rom übergriff, der Kircher auf den Plan rief. Obwohl medizinisch nicht ausgebildet, erhielt er Zugang zu Siechenhäusern und wurde bei seinen Beobachtungen von einigen der besten römischen Ärzte unterstützt, wie er im Vorwort erwähnt.

Nach der Widmung an Papst Alexander II beginnt das Buch mit einer Diskussion „Von Ursprung / Ursach / und Würckungen der Pest”, wobei Kircher nach der pflichtgemäßen Einstufung der Pest als „Geisel Gottes” (S. 1) sehr schnell dazu übergeht, „auch ihre natürliche Ursach” zu untersuchen (S. 4 ff). Dabei spielen verschiedene Arten von „Verfäulung” eine große Rolle, wie sie aus irdischen Stoffen, aber auch aus der Luft und Erde komme - die Miasma-Theorie wird nicht übergangen. Doch schon im 4. Kapitel erscheint die Vermutung, „daß die Pest selbsten durch Anzündung und Contagion fortgepflanzet und propagiret werde” (S. 20). Im Anschluss daran taucht erstmals die Theorie auf, dass eine Ansteckung „durch den Außguß kleiner vergifften Corpusculorum” geschehe. Ohne Girolamo Fracastoro oder dessen einschlägiges Werk aus dem Jahre 1546 zu erwähnen, De Contagionibus et Contagiosis Morbis et Eorum Curatione Libri III, definiert er schließlich das 7. Kapitel so: „Daß aus der Verfaulung immerdar kleine und unsichtbare vergiffte Corpuscula in die umbligende und nächste Leiber außgeblasen werden / welch Auß= und Anblasungen der Samen der Pestilentz genennet wird” (S. 34 - 58). Er kommt zu folgender Überlegung: „Weilen aber dise Corpuscula gemeiniglich noch kein Leben haben / wann doch darzu kommt die äusserliche Hitz deß schon zuvor verderbten und angezündeten Luffts / so werden auß denen Corpu(s)culis unzahlbarlich vil unsichtbare Würmlein / daß so vil zuvor Corpuscula gewesen / so vil hernach Würm erwachsen; also daß man disen Außfluß der gifftigen Exhalation nicht mehr eine todte / sondern ein lebendige Effluenz nennen kan” (S. 45). Diese Vorstellung von lebendigen Effluvia (animata effluvia) habe er mit Hilfe der Mikroskope in vielen Versuchen gewonnen, von denen er sechs beschreibt, führt der Gelehrte aus [9]. In medizinischer Fachliteratur wird dieser Abschnitt als Kirchers wichtigster Beitrag zur Geschichte der Disziplin gesehen: „Im Rahmen der Pestschriften des 17. Jahrhunderts”, so etwa referiert Antoinette Stettler, „war es tatsächlich ein Novum, dass (Kircher) bei seiner Pestbetrachtung nun die größte Emphase eben auf die Vorstellung der Fäulnis und des Parasitenbefalls legte” [10]. Im verbleibenden Kapitel expliziert der Jesuit seine Theorie weiter („Daß aber dise Corpuscula lebendig seyndt”, S. 61); diese Krankheitserreger würden durch die Poren der Haut eindringen und könnten sich auf dem Luftweg in einer Entfernung von nicht mehr als fünf oder sechs Fuß ausbreiten, führt er unter den zwölf verschiedenen Ansteckungsarten später auf - unter denen auch Haustiere sowie Mücken sein könnten. Im Übrigen kennt Kircher neben der Infektion über den Luftweg auch die durch direkten Kontakt oder durch Ansteckungsträger wie etwa Wäsche, Kleidung und Schuhe. Wie so oft in bei seinen Forschungen, übernimmt er aber auch kritiklos tradiertes Wissen und referiert, wie die Seuche künstlich erzeugt werden könnte, wobei er Gründe wie die mittelalterlichen Brunnenvergiftungen der Juden oder den verheerenden Einfluss von Planetenkonstellationen aufführt.

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Kirchers Ansichten von der Lungenpest

Obwohl von ihm nicht klar unterschieden, kann man aus heutiger Sicht bei Kircher die (primäre) Lungenpest an erster Stelle erwähnt sehen, da sie für die damaligen Ärzte am schwierigsten diagnostizierbar war und in kürzester Zeit zum Tode führte: „Weilen dann die äusserliche verfaulte Lufft ein Ursach der Pest ist / dahero komt / daß wann dise äusserliche vergiffte Wärme deß Lufts durch den Athem in den Leib und in die Lungen hinein gezogen / und durch Außdähnung der Lungen auch von dem Hertzen angenommen / und in die innerliche Glieder außgetheilet wird”, würde von „innen her der Streit angehen,” was zum Tode führe. „Dahero geschicht / daß etliche Menschen dem Schein nach gesund / zu Anfang der Pest / gleich Steintodt darnider fallen / als wären sie von dem Schlag getroffen”, folgert Kircher (S. 38). Die von ihm später beschriebene „Miraculosische Pest” scheint einen ähnlichen Verlauf zu nehmen, wenn er meint: „Endlich / daß etliche gesunde und starcke zu Zeit der Pest als von dem Blitz getroffen / gähling tod nidergefallen / ist kein andere Ursach / als weil das Pestilentzische Gifft / so eintweders von verderbtem Lufft oder von Evaporation eines Todten=Cörpers herkommen / innerlich in sie und auch gähling hinein getrungen / durch dessen Häfftigkeit das Hertz verstecket ihnen den augenblicklichen Tod verursachet” (S. 167). Es ist denkbar, dass die im Verhältnis zur bubonischen Pest rapide verlaufende Lungenpest mit der Todesursache Herzversagen „miraculos” in Verbindung gebracht worden war.

Diesem abrupten Verlauf der Seuche stellt Kircher den langsameren und sichtbareren der bubonischen Pest gegenüber, von der er im Allgemeinen spricht, da er sie in Rom am meisten antraf und untersuchte, und deren Symptome für ihn am klarsten zu erkennen waren (S. 126 - 128). Galen folgend unterscheidet er an anderer Stelle zwischen „äusserlicher” (bubonischer) und „innerlicher” Pest (S. 226 - 227), wobei letztere wiederum am ehesten der Lungenpest zuzuordnen wäre. „Die innerliche Pest,” so referiert der Gelehrte, „wird auf zweyerley Weis curiret / erstlich wann man das empfangene Gift mit Bezoar vertreibet und hinauß jaget. Zum andern / wann man die Symptomata oder Würckungen der Pest / als da seyn Ohnmacht / Hitz / Angina, Seiten=stechen / schwerer Athem / Unsinnigkeit / Magen=brechen / Bauch=Fluss / mit ihren absonderlich zuständig und eigenen Mitteln curiret / welches ansehnlich zu lesen ist in Ternario Bezoarticorum”, einem Buch des Arztes Angelo Sala. Für die Beulenpest aber sieht er „eine Physica” vor, die „die innerliche Theil” dieser wiederum zweigestaltigen Krankheitsform angehen solle, während „die Barbierer und Wund=Artzt” den damaligen Gepflogenheiten entsprechend „mit der Cur der äusserlichen Geschwären und Blatern” betraut waren. Letztlich kennt Kircher auch eine Meningitis hervorrufende Art der Krankheit, deren Beschreibung er „nach der Lehr der Araber und Avicennæ” wiedergibt (S. 40 - 41).

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Schlussbetrachtungen

Obwohl selbst kein Arzt, hat gerade Athanasius Kircher in seinem Pesttraktat die vielen seiner Zeitgenossen als ketzerisch erscheinende Integration neuester technischer Hilfsmittel nie in Frage gestellt. In Kirchers Briefwechsel schlägt sich noch vor dem Erscheinen der Pestschrift reges Interesse seitens seiner Korrespondenten, allem voran von Ärzten, nieder: Der Dresdner Mediziner August Hauptmann, selbst Vertreter der Doktrin der Fäulnistheorie bzw. der verminosa, sprach sich schon am 20. Februar 1657 über „vermibus minutissimis sanguinem maligne febricantium” aus, die er durch die „ars smicroscopia” entdeckt hätte [11]. Nach Erhalt des Scrvtinivm (...) Pestis war er dann voll des Lobes über dessen Autor. Johann Marcus Marci, Professor für Medizin in Prag und Leibarzt des Königs von Böhmen, las das Scrvtinivm „avidissime” auf einer Reise nach Frankfurt [12]. Johann Schega, zwanzig Jahre lang Beichtvater Erzherzog Leopold Wilhelms von Österreich, erbat Ende 1657 Exemplare für seinen Herrn und berichtete zehn Monate später, wie bekannt das Werk in Wien und Deutschland sei [13]. Werner Rolfinck, Professor der Anatomie in Jena, der später eines seiner eigenen Werke Kircher widmete [14], teilte ihm 1664 mit, wie sehr er dessen Traktat über die „causas morborum animatas”, die lebendigen Grundlagen von Krankheiten, in seinen Jenenser Vorlesungen benutze. Und noch 1675 erkundigte sich Udalreich Gering, ein Münchner Jesuit, nach Kirchers „vermes”, wobei er von der ihn beunruhigenden Hypothese ausging, „supposito, pestem esse animatum” [15] - ich muss also annehmen, die Pest sei von Lebewesen hervorgerufen.

Soviel zu einigen sich in der Korrespondenz Kirchers widerspiegelnden unmittelbaren Reaktionen. Die weitere Rezeptionsgeschichte des Scrvtinivm ist hinlänglich untersucht worden; die vielleicht bekanntesten Stationen waren Macasio und vor allem sein Lehrer und Leipziger Herausgeber der Kircherschen Pestschrift, Christian Lange, in dessen Pathologia animata [16]. Der holländische Arzt Isbrand van Diemerbroeck unterstützte in der zweiten Auflage seines Werks über die Pest von Nimwegen, De Peste Neomagensi, im Jahre 1665 die Lehre vom contagium vivum [17], dem lebendigen Ansteckungsmittel. Der Züricher Stadtarzt und Chirurg Johann von Muralt, der nach deutlichem Widerstand der Stadtväter 1677 doch die Erlaubnis erhielt, Sektionen - zuerst ohne seine Anatomieschüler - durchzuführen, stellte Kirchers Ideen 1721 nochmals in einer Pestschrift vor und hob wiederum die „unbestreitbahre Ansteckung” der Seuche hervor, wenn er schrieb: „Der berühmte Pater Jesuit Kircher wil vermittelst des Microscopii gewüsse kleine geflügelte insecta entdeckt haben, welche auss Dingen, die mit der Pest angesteckt sind, entstehen und dieselbige weiters communiciren, wann sie in die Leiber der Persohnen, welche nach zu ihnen kommen, einschleichen” [18]. Doch auch dieser fruchtbare Denkanstoß ging rasch verloren. In seiner neunten Auflage des Discourse on the Plague von 1744 etwa tat Richard Mead, Mitglied der Royal Society und Leibarzt des Königs von England, die irrig aufgefasste Theorie Kirchers ab, wenn er schrieb: „It has been thought so difficult to explain the manner how Goods (das wäre also Kirchers Pestzunder) retain the Seeds of Contagion, that some (Fußnote bei Mead: Kircher, Langius, & c) have imagined Infection to be performed by the Means of Insects; the Eggs of which may be conveyed from Place to Place, and make the Disease when they come to be hatched” [19] - dass also die Infektion durch Insekten übertragen werde, deren Eier von einem Ort zum anderen getragen würden und die Pest hervorriefen, wenn diese Eier ausgebrütet würden.

Es war somit das Schicksal Kirchers, dass seine tatsächlich neuen Erkenntnisse Jahrhunderte lang mit Scharlatanerie abgetan wurden, was vor allem im Falle Kirchers geschah, da es zumindest seit dem frühen 19. Jahrhundert und der Entwicklung der achromatischen Linsen klar war, dass die Auflösung seiner Mikroskope die Sichtung von Pestbazillen nicht zuließ. Erst vor etwa 40 Jahren konnte der italienische Medizinhistoriker Luigi Belloni mit Hilfe einiger authentischer Instrumente nachweisen [20], dass Kircher jedoch in der Tat täuschende Bilder „von faserig-netzartigem Aussehen” vor sich hatte - und dies „unabhängig von dem beobachteten Objekt” oder von den Belichtungsbedingungen. Er konnte somit sehr wohl von „Anhäufungen von Würmchen” sprechen - was einer visionären Schlussfolgerung gleich kommt, die aus falsch interpretierter Beobachtung resultierte. Dass er den Pestbazillus trotz aller Einlassungen mit seinen Mikroskopen nicht wahrnehmen konnte, sollte seiner Denkleistung keinen Abbruch tun [21]. Auch die Tatsache, dass Kircher das von van Helmont angepriesene, mit getrockneten, zerriebenen Kröten gefüllte Amulett als wirkungsvolles Präservativ vor Pest-Infektionen akzeptierte (obwohl er an sich gegen jegliche Art von magisch-„diabolischen” Amuletten eingestellt war), zeigt wiederum nur, wie er bei all seinen Neuerungsgedanken auch traditionelle - und höchst problematische - Abwehrmaßnahmen übernahm.

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Abb. 1 Kirchers lateinische Pestschrift von 1658

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Abb. 2 Portrait Kirchers von 1664.

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Abb. 3 Deutsche Übersetzung von Kirchers Pestschrift aus dem Jahre 1680. (Alle Abbildungen Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel.)

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Anmerkungen

  • 1 Die folgenden Ausführungen beziehen zum Teil Material des Verfassers ein: Ein Polyhistor als Pathologe. Athanasius Kirchers Durchgründung der laidigen ansteckenden (...) Pestilentz, in: ars medica. Verlorene Einheit der Medizin? Festschrift für Richard Toellner. Hrsg. von Peter Kröner u. a. Stuttgart: Fischer 1995, S. 55 - 64, sowie ders.: Science and Pseudoscience. Athanasius Kircher's Mundus Subterraneus and His Scrvtinivm ... Pestis, in: Knowledge, Science, and Literature in Early Modern Germany. Hrsg. von Gerhild Scholz Williams und Stephan K. Schindler. Chapel Hill, London: Univ. of North Carolina Press 1996 (Studies in the Germanic Languages and Literatures, Bd. 116), S. 219 - 240, insbesondere Teil III, „Kircher's Notion of a contagium animatum in His Scrvtinivm (...) Pestis”. 229-236
  • 2 Rom: Scheus 1641. Weitere Auflagen Köln 1643, Rom 1654 sowie eine holländische Übersetzung 1681 und nochmals 1697. Zum Folgenden siehe den Überblick von Werner E. Gerabek: Athanasius Kircher und die Medizin, in: Magie des Wissens. Athanasius Kircher 1602 - 1680. Hrsg. von Horst Beinlich u. a., Dettelbach: Röll 2002 (Ausstellungskatalog Würzburg und Fulda). 176-182
  • 3 Rom: de Lazaris;. Amsterdam: Jansson & Weyerstraet 1667
  • 4 Dazu Verf.: Der ‚Schlangenstein’ - eine umstrittene Therapie gegen Vipernbisse vom 17. Jahrhundert bis in unsere Tage, in: Geschichte der Pharmazie. 54 (2003). 6-9
  • 5 China Monumentis: Qva Sacris qua Profanis, Nec non Variis Naturæ & Artis Spectaculis, Aliarumque rerum memorabilium Argumentis Illustrata (...). Amsterdam: Jansson & Weyerstraet 1667. Kap. V im zweiten Werk ist betitelt: „De Magnete venenorum noviter detecto”. 58-71
  • 6 Siehe Anm. 2, S. 840 - 891. Kircher diskutierte zunächst die Macht der Musik bei der Behandlung affektiver Störungen und demonstrierte dies dann am Beispiel der musiktherapeutischen Behandlung von Tarantelbissen. Dazu Verf.: ‚Wie von der Tarantel gebissen’: Tarantismus und Musiktherapie im Barock, in: Barocker Lust-Spiegel. Festschrift für Blake Lee Spahr. Chloe (Beihefte zum Daphnis), Bd. 3. Hrsg. von Martin Bircher, Jörg-Ulrich Fechner und Gerd Hillen. Amsterdam: Rodopi 1984, S. 245 - 264, sowie ders.: Sankt Vitus oder Der heilige Veit, der Veitstanz und ‚die von der Tarantel Gebissenen’, in: Herrscher, Helden, Heilige: Mittelalter-Mythen, Bd. 1. Hrsg. von Ulrich Müller and Werner Wunderlich. Konstanz/St. Gallen: Universitätsverlag 1996: 577-587
  • 7 Rom: Band I: Corbelletti; Band II: Grignani. Teile daraus wurden schon 1662 ins Deutsche übersetzt; Kircher selbst verwendete 1673 in seiner Phonurgia nova Material daraus. 
  • 8 Rom: Mascardi. Schon ein Jahr darauf erschien in Leipzig eine von Christian Lange besorgte Ausgabe, die 1671 erneut heraus kam. Eine deutsche Übersetzung erschien 1680 in Augsburg bei Brandan: Natürliche und Medicinalische Durchgründung der laidigen ansteckenden Sucht / und so genanten Pestilentz. Die folgenden Zitate verweisen auf diese Übertragung. 
  • 9 Die Versuche dürfen natürlich nicht nach modernen Gesichtspunkten beurteilt werden; Francesco Redi, ein jüngerer Zeitgenosse, verfuhr 1668 in Florenz viel „wissenschaftlicher” und widerlegte in Esperienze Intorno alla Generazione degl'Insetti die Theorie des spontanen Entstehens von Insekten, wobei er replizierbare Versuche unternahm. 
  • 10 Der ärztliche Pestbegriff in historischer Sicht, in: Gesnerus 36 (1979), S. 127 - 139, hier S. 135 - 136. Vgl. auch Charles-Edward Amory Winslow: The Conquest of Epidemic Disease: A Chapter in the History of Ideas, Princeton 1943; Nachdruck New York, London: Univ. of Wisconsin Press 1967, Kap. VIII: „The Conception of A Contagium Animatum”, S. 144 - 160, besonders. 146-152
  • 11 Abgesandt aus Dresden. Kircher-Korrespondenz, Pontificia Università Gregoriana ( = PUG), Fondo Gesuitico 557, Bl. 13. Im gleichen Brief empfiehlt Hauptmann dem Jesuiten ein Traktat von Petrus à Castro (Febris maligna puncticularis aphorismis delineata. Nürnberg 1652). Lobeshymne auf Kircher am 30. Dezember 1658 aus Dresden; PUG 557, Bl. 11. Dieses und die folgenden Beispiele sind entnommen John F. Fletcher: Medical Men and Medicine in the Correspondence of Athanasius Kircher (1602 - 1680), in: Janus 56 (1969), S. 259 - 271, hier. 265 ff
  • 12 Brief vom 19. August 1658 aus Frankfurt; PUG 557, Bl. 99. 
  • 13 26. Dezember 1657 aus Prag; PUG 562, Bl. 87. Zweiter Brief 12. Oktober 1658 aus Wien; PUG 561, Bl. 160. 
  • 14 Liber de purgantibus vegetabilibus. Jena 1667. Brief vom 17. März 1664 aus Jena; PUG 563, Bl. 190. 
  • 15 11. Oktober 1675 aus München; PUG 565, Bl. 246. 
  • 16 L. Fabian Hirst: The Conquest of Plague: A Study of the Evolution of Epidemiology. Oxford 1953: 83 ff
  • 17 De Peste Neomagensi libri quatuor. Arnheim 1646. 2., überarbeitete Aufl.: Tractatus de Peste, in quatuor libros distinctus. Amsterdam 1665, S. 57 - 69. Obwohl der Autor Dutzende von Quellen angibt, wird Kirchers Name nie zitiert. Zu weiteren Reaktionen auf Kirchers Lehre s. Jean-Noël Biraben: Les hommes et la peste en France et dans les pays européens et méditerranéens. 2 Bde. Bd. II: Les hommes face à la peste. Paris, Den Haag 1975 - 1976 (Civilisations et Sociétés, Bd. 35 - 36). 18
  • 18 Kurtze und grundliche Beschreibung der ansteckenden Seuche der Pest. Zürich 1721. Zitiert in Georg Sticker: Abhandlungen aus der Seuchengeschichte und Seuchenlehre. I. Band: Die Pest; Zweiter Teil: Die Pest als Seuche und als Plage. Gießen 1910: 14-17
  • 19 London 1744; Nachdruck New York 1978, S. 58 - 59. Hervorhebungen im Original. 
  • 20 Luigi Belloni: Athanasius Kircher: Seine Mikroskopie, die Animalcula und die Pestwürmer, in: Medizinhistorisches Journal 20 (1985), S. 58 - 65, sowie ders.: Micrografia illusoria e ‚Animalcula’. in: Physis 4, 1962: 65-73
  • 21 Vgl. dazu Martha R. Baldwin: Toads and Plague: Amulet Therapy in Seventeenth-Century Medicine, in: Bulletin of the History of Medicine 67 (1993), S. 227 - 247, hier. 236-238

Gerhard F. Strasser

Dept. of Germanic & Slavic Languages & Literatures · The Pennsylvania State University

University Park

PA 16802

USA

Email: gfs1@psu.edu

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Anmerkungen

  • 1 Die folgenden Ausführungen beziehen zum Teil Material des Verfassers ein: Ein Polyhistor als Pathologe. Athanasius Kirchers Durchgründung der laidigen ansteckenden (...) Pestilentz, in: ars medica. Verlorene Einheit der Medizin? Festschrift für Richard Toellner. Hrsg. von Peter Kröner u. a. Stuttgart: Fischer 1995, S. 55 - 64, sowie ders.: Science and Pseudoscience. Athanasius Kircher's Mundus Subterraneus and His Scrvtinivm ... Pestis, in: Knowledge, Science, and Literature in Early Modern Germany. Hrsg. von Gerhild Scholz Williams und Stephan K. Schindler. Chapel Hill, London: Univ. of North Carolina Press 1996 (Studies in the Germanic Languages and Literatures, Bd. 116), S. 219 - 240, insbesondere Teil III, „Kircher's Notion of a contagium animatum in His Scrvtinivm (...) Pestis”. 229-236
  • 2 Rom: Scheus 1641. Weitere Auflagen Köln 1643, Rom 1654 sowie eine holländische Übersetzung 1681 und nochmals 1697. Zum Folgenden siehe den Überblick von Werner E. Gerabek: Athanasius Kircher und die Medizin, in: Magie des Wissens. Athanasius Kircher 1602 - 1680. Hrsg. von Horst Beinlich u. a., Dettelbach: Röll 2002 (Ausstellungskatalog Würzburg und Fulda). 176-182
  • 3 Rom: de Lazaris;. Amsterdam: Jansson & Weyerstraet 1667
  • 4 Dazu Verf.: Der ‚Schlangenstein’ - eine umstrittene Therapie gegen Vipernbisse vom 17. Jahrhundert bis in unsere Tage, in: Geschichte der Pharmazie. 54 (2003). 6-9
  • 5 China Monumentis: Qva Sacris qua Profanis, Nec non Variis Naturæ & Artis Spectaculis, Aliarumque rerum memorabilium Argumentis Illustrata (...). Amsterdam: Jansson & Weyerstraet 1667. Kap. V im zweiten Werk ist betitelt: „De Magnete venenorum noviter detecto”. 58-71
  • 6 Siehe Anm. 2, S. 840 - 891. Kircher diskutierte zunächst die Macht der Musik bei der Behandlung affektiver Störungen und demonstrierte dies dann am Beispiel der musiktherapeutischen Behandlung von Tarantelbissen. Dazu Verf.: ‚Wie von der Tarantel gebissen’: Tarantismus und Musiktherapie im Barock, in: Barocker Lust-Spiegel. Festschrift für Blake Lee Spahr. Chloe (Beihefte zum Daphnis), Bd. 3. Hrsg. von Martin Bircher, Jörg-Ulrich Fechner und Gerd Hillen. Amsterdam: Rodopi 1984, S. 245 - 264, sowie ders.: Sankt Vitus oder Der heilige Veit, der Veitstanz und ‚die von der Tarantel Gebissenen’, in: Herrscher, Helden, Heilige: Mittelalter-Mythen, Bd. 1. Hrsg. von Ulrich Müller and Werner Wunderlich. Konstanz/St. Gallen: Universitätsverlag 1996: 577-587
  • 7 Rom: Band I: Corbelletti; Band II: Grignani. Teile daraus wurden schon 1662 ins Deutsche übersetzt; Kircher selbst verwendete 1673 in seiner Phonurgia nova Material daraus. 
  • 8 Rom: Mascardi. Schon ein Jahr darauf erschien in Leipzig eine von Christian Lange besorgte Ausgabe, die 1671 erneut heraus kam. Eine deutsche Übersetzung erschien 1680 in Augsburg bei Brandan: Natürliche und Medicinalische Durchgründung der laidigen ansteckenden Sucht / und so genanten Pestilentz. Die folgenden Zitate verweisen auf diese Übertragung. 
  • 9 Die Versuche dürfen natürlich nicht nach modernen Gesichtspunkten beurteilt werden; Francesco Redi, ein jüngerer Zeitgenosse, verfuhr 1668 in Florenz viel „wissenschaftlicher” und widerlegte in Esperienze Intorno alla Generazione degl'Insetti die Theorie des spontanen Entstehens von Insekten, wobei er replizierbare Versuche unternahm. 
  • 10 Der ärztliche Pestbegriff in historischer Sicht, in: Gesnerus 36 (1979), S. 127 - 139, hier S. 135 - 136. Vgl. auch Charles-Edward Amory Winslow: The Conquest of Epidemic Disease: A Chapter in the History of Ideas, Princeton 1943; Nachdruck New York, London: Univ. of Wisconsin Press 1967, Kap. VIII: „The Conception of A Contagium Animatum”, S. 144 - 160, besonders. 146-152
  • 11 Abgesandt aus Dresden. Kircher-Korrespondenz, Pontificia Università Gregoriana ( = PUG), Fondo Gesuitico 557, Bl. 13. Im gleichen Brief empfiehlt Hauptmann dem Jesuiten ein Traktat von Petrus à Castro (Febris maligna puncticularis aphorismis delineata. Nürnberg 1652). Lobeshymne auf Kircher am 30. Dezember 1658 aus Dresden; PUG 557, Bl. 11. Dieses und die folgenden Beispiele sind entnommen John F. Fletcher: Medical Men and Medicine in the Correspondence of Athanasius Kircher (1602 - 1680), in: Janus 56 (1969), S. 259 - 271, hier. 265 ff
  • 12 Brief vom 19. August 1658 aus Frankfurt; PUG 557, Bl. 99. 
  • 13 26. Dezember 1657 aus Prag; PUG 562, Bl. 87. Zweiter Brief 12. Oktober 1658 aus Wien; PUG 561, Bl. 160. 
  • 14 Liber de purgantibus vegetabilibus. Jena 1667. Brief vom 17. März 1664 aus Jena; PUG 563, Bl. 190. 
  • 15 11. Oktober 1675 aus München; PUG 565, Bl. 246. 
  • 16 L. Fabian Hirst: The Conquest of Plague: A Study of the Evolution of Epidemiology. Oxford 1953: 83 ff
  • 17 De Peste Neomagensi libri quatuor. Arnheim 1646. 2., überarbeitete Aufl.: Tractatus de Peste, in quatuor libros distinctus. Amsterdam 1665, S. 57 - 69. Obwohl der Autor Dutzende von Quellen angibt, wird Kirchers Name nie zitiert. Zu weiteren Reaktionen auf Kirchers Lehre s. Jean-Noël Biraben: Les hommes et la peste en France et dans les pays européens et méditerranéens. 2 Bde. Bd. II: Les hommes face à la peste. Paris, Den Haag 1975 - 1976 (Civilisations et Sociétés, Bd. 35 - 36). 18
  • 18 Kurtze und grundliche Beschreibung der ansteckenden Seuche der Pest. Zürich 1721. Zitiert in Georg Sticker: Abhandlungen aus der Seuchengeschichte und Seuchenlehre. I. Band: Die Pest; Zweiter Teil: Die Pest als Seuche und als Plage. Gießen 1910: 14-17
  • 19 London 1744; Nachdruck New York 1978, S. 58 - 59. Hervorhebungen im Original. 
  • 20 Luigi Belloni: Athanasius Kircher: Seine Mikroskopie, die Animalcula und die Pestwürmer, in: Medizinhistorisches Journal 20 (1985), S. 58 - 65, sowie ders.: Micrografia illusoria e ‚Animalcula’. in: Physis 4, 1962: 65-73
  • 21 Vgl. dazu Martha R. Baldwin: Toads and Plague: Amulet Therapy in Seventeenth-Century Medicine, in: Bulletin of the History of Medicine 67 (1993), S. 227 - 247, hier. 236-238

Gerhard F. Strasser

Dept. of Germanic & Slavic Languages & Literatures · The Pennsylvania State University

University Park

PA 16802

USA

Email: gfs1@psu.edu

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Abb. 1 Kirchers lateinische Pestschrift von 1658

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Abb. 2 Portrait Kirchers von 1664.

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Abb. 3 Deutsche Übersetzung von Kirchers Pestschrift aus dem Jahre 1680. (Alle Abbildungen Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel.)